Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11681. Wien, Sonntag, den 28. Februar 1897 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11681. Wien, Sonntag, den 28. Februar 1897 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 28.02.1897
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte.

Ed. H. Wer dürfte behaupten, daß der Enthusiasmus für Virtuosen völlig erloschen sei? So abenteuerlich die Concertlegenden aus den Dreißiger- und Vierziger-Jahren uns auch klingen, schwören möchte ich nicht darauf, daß Aehnliches sich nimmer wiederholen könne. Wenn nach einem Liszt-Concert die elegantesten Damen um den Rest Zucker wasser kämpften, welchen der Göttliche in seinem Glase stehen gelassen, oder wenn sie seinen liegengebliebenen Handschuh in Fetzen unter sich vertheilten, so können wir uns heute ähnlicher Leistungen freilich nur äußerst selten berühmen. Voran stehen noch immer die „kalten“ Engländer, welche, musikalisch gereizt, die südlichsten Hitzköpfe übertreffen. Was geschah kürzlich in einem Londoner Concert von Pade rewski? Nachdem der rothblonde Apollo auf lärmen des Begehren des Publicums unzähligemal vorgetreten, sich verbeugt und halbtodt gespielt hatte, schritt eine Lady er hobenen Hauptes auf ihn zu und fiel, vor ihm niederkniend, buchstäblich auf das Antlitz. Ein vernünftiger englischer Kritiker nannte es den „Gipfel der Absurdität, welchen diese jetzt wieder aufkommenden alten Albernheiten erreichten“. Ganz so hoch verstiegen oder so tief gelagert haben sich unsere Wiener Enthusiasten noch nicht; aber was sie jüngst als Nachspiel zu Sauer’s Concert aufführten, verdient immerhin Anerkennung. Die Schlußnummer war zu Ende, die unvermeidlichen „Zugaben“ auch; da blokirten einige junge Damen das Podium und griffen verzückt nach den Händen und Frackschößen des haarumflatterten Emil. In peinlicher Verlegenheit suchte er die Huldigungen abzu wehren, trotzdem gelang es wirklich einer der Amazonen, Sauer’s Hand — ich weiß nicht, ob die octavengewaltige Linke oder die süßtrillernde Rechte — zu küssen. Natürlich stoßen diese Parterrejünglinge und Jungfrauen im Hinaufstürmen hart gegen das dem Ausgang zustrebende Publicum. Das gibt dann in dem einzigen engen Mittel gang des Bösendorfer-Saales heftige contrapunktische Gegen bewegungen, Stringendos und Staccatos, was immerhin

sehr hübsch anzusehen ist. Auch der Musikvereinssaal erlebte jüngst ein ähnliches musikalisch-militärisches Schauspiel, indem eine geschlossene Colonne jugendlicher Freiwilliger gegen die hinausdrängende reguläre Armee anstürmte, um auf dem Podium irgend ein goldenes Kalb zu umtanzen.

In solchem Virtuosencultus wird die Blüthe des Con servatoriums nur übertroffen von den Eltern eines Wunder kindes. Ihr Enthusiasmus ist gewiß begreiflicher — aber meistens noch nachtheiliger für den wunderthätigen und ange wunderten Sprößling. Der junge Pianist Raoul Koczalski ist kein Kind mehr, sondern ein draller, kräftiger Junge. Seine kurzen Höschen sind bereits verdrängt von ernsthaften schwarzen Pantalons, über denen ein sinniger Smoking- coat den Uebergang von der Jacke zum Frack, vom Jüngling zum Manne symbolisch andeutet. Koczalski hat bereits mehr als tausend Concerte gegeben und befindet sich seit acht Jahren unausgesetzt auf Concertreisen. Es mochte hingehen, daß man seinerzeit durch ein starkes journalistisches Aufgebot die Leistungen des sechs jährigen Knaben austrommeln ließ, aber sollten nicht mit den kurzen Höschen jetzt auch die langen Reclamen ver schwinden und den vielgereisten „Hofpianisten“ endlich sich selbst überlassen? Ganz im Gegentheil wird allen Zeitungen und Musikcomptoirs ein eigenes Büchlein über Koczalski zugeschickt. Ein interessantes Ding, wenn auch nur als Demarcationsstrich der Wasserhöhe, welche das musikalische Reclamenwesen heute erreicht hat. Wenn der Verfasser, Herr Bernhard Vogel, wirklich ein „berühmter Musikkritiker“ ist wie die Annoncen versichern, dann bangt uns für seinen Ruhm. Dieser kann durch so anstrengendes Trompetenblasen leicht zu Schaden kommen. Nach einem einleitenden Akrostichon, in welchem Koczalski als ein „seliges Wunder“ „ohnegleichen in der Zeitgeschichte“ gepriesen wird, „wie in Jahrhunderten kein zweites wiederkehrt“, spricht Herr Vogel von den „rauschenden, unantastbaren Triumphen und beispiellosen Kunstthaten“ dieses „Phänomens, dessen Leuchtkraft nicht blos blendet, sondern auch erwärmt!“ Koczalski, über den „ein unermeß liches Füllhorn herrlichster Gaben ausgegossen sei“, liefere den „Beweis für die Unerschöpflichkeit der Natur in Wunder gestaltungen“. Noch einige entzückte Aufschreie über Raoul’s „fascinirende Außerordentlichkeit“ und „exceptionelle Talentent faltung“ und wir gelangen endlich zu dem biographischen Theile der Abhandlung. Der kleine Raoul soll schon als Wickelkind

in der Wiege sehr aufmerksam der Musik gelauscht haben. Gewiß war er der jüngste Opernbesucher, den die Welt ge sehen, denn schon als zweijähriges Kind hörte er im Theater die Opern „Norma“ und „Faust“! Schon mit sieben Jahren habe er Vieles componirt, aber das Meiste selbst verbrannt; was Herrn Vogel an Goethe erinnert, der ja in Leipzig mit seinen Erstlingspoesien ebenso verfuhr. Ueberspringen wir die weiteren Wundererzählungen sammt den beigedruckten entzückten Recensionen und blättern lieber in den Illustrationen, mit denen das Büchlein reich licher ausgestattet ist, als irgend eine Biographie unserer größten Männer. Zuerst — man traut kaum seinen Augen — ein Brustbild Raoul’s als sechsmonatliches Kind! Wie der Kleine da ausgesehen und was er da gemacht hat — das interessirt doch wol nur die Mama. Es folgen auf weiteren zehn Blättern: Raoul als vierjähriges Kind, als fünfjähriges (drei Porträts), als sechsjähriges (für Porträts), Raoul mit sieben Jahren (fünf Bilder), mit 7½ Jahren, achtjährig, nochmals achtjährig, zehnjährig endlich 10½ jährig. Auf den letzten Bildern erscheint er recht komisch über und über mit Medaillen bedeckt; sollte er einem Radfahrer-Club angehören? Die sonst so redselige Biographie schweigt vollständig über Bedeutung und Her kunft dieser Medaillen. Vorsichtsweise wird zum Schluß als eine „Beleidigung“ proclamirt, ihn „noch vom Stand punkt der Wunderkindschaft zu betrachten, der nunmehr in Reih’ und Glied getreten mit den vollbürtigen Virtuosen.“

Wir flüchten aus der schlechten Luft dieser Kinder stube in den Bösendorfer-Saal. Koczalski’s Programm enthält ausschließlich Chopin. Einen ganzen langen Abend hindurch nur Chopin zu hören, ist kein ungetrübter Genuß; diese feine, sensitive, stets interessante, oft aber kränkliche und überreizte Musik macht in allzu großen Quantitäten abgespannt und nervös. Karl Tausig war meines Wissens der Erste, der in Berlin ein exclusives Chopin-Concert ge geben hat. Die Eigenart eines so genialen, geistvollen Künstlers mochte über das Bedenkliche des Programms hinwegtäuschen. Nun wird freilich in unserem oben ver herrlichten BüchelKoczalski gerade als Chopin-Spieler zuhöchst gestellt; ja der „berühmte Musikkritiker“ scheut nicht vor der Behauptung zurück, Koczalski nehme als Chopin-Spieler „unbestritten den Platz ein, den Rubinstein leer gelassen“. Warum nicht gar. Zu Rubinstein’s Höhe hat der junge

Koczalski noch einen weiten Weg, den er vielleicht in Jahren zurücklegen kann, falls überhaupt seine Entwicklungs fähigkeit noch groß genug ist. Wer Rubinstein’s Vortrag der Berceuse“ gehört — man vergißt ihn nie — der konnte ja damit Koczalski’s Interpretation vergleichen. Technisch war sie tadellos, ja glänzend; man kann die vielgestaltigen, zier lichen Passagen nicht gleichmäßiger und glatter hören. Dem ganzen Vortrag fehlte es aber an feinerem Geschmack, noch mehr an Poesie. Nicht eine einzige Note in dem ganzen Stück darf so derb accentuirt werden, wie Koczalski deren recht viele anpackte. Sie schreckten uns auf aus diesem duftigen, wie auf Elfenflügeln hinschwebenden Gesang. In Einer Eigenschaft, leider keiner nachahmenswerthen, erinnert der junge Virtuose wirklich an Rubinstein: im häufigen Ueber treiben des Zeitmaßes. Das Scherzo der H-moll-Sonate stürzte in so rasendem Tempo vorüber, daß man trotz genauester Kenntniß des Stückes dem Zusammenhang nicht folgen konnte. Im ersten Satz der H-moll-Sonate, desgleichen in der G-moll-Ballade vermißten wir die überschauende Ruhe und Klarheit, welche den Spieler auch im stürmischen Allegro nicht verlassen darf. Koczalski phrasirt zu unruhig, mitunter auch unrichtig. Wie von gewissen Sängern, so kann man von ihm sagen: er versteht nicht zu athmen. Nun wir unserem kritischen Gewissen genug gethan, können wir mit gleicher Aufrichtigkeit den Vorzügen Koczalski’s gerecht wer den. Sie sind auffallend, ja glänzend. Seine Technik stellt ihn jetzt schon in die Reihe der ersten Virtuosen. Vor Allem welch beneidenswerth schöner, saftiger Anschlag! Welche Virtuosität der linken Hand in der großen C-moll- Etude von Chopin, welch vollendete Scalen- und Triller technik! Dazu die riesige Ausdauer und das unfehlbare Gedächtniß! Allein inmitten des Staunens und Bewunderns bleiben wir doch im Ganzen unerwärmt, unbezwungen. Wir vermissen den geläuterten Kunstgeschmack, die feinere musi kalische Empfindung. Hoffentlich werden die Jahre das Fehlende hinzubringen, was in Koczalski’s vorzeitig aufge blühten großen Talent noch unentwickelt geblieben.

Im letzten Philharmonischen Concert gab es nichts Neues; aber das Alte wurde unvergleichlich ge spielt. Zuerst die schönere und populärere von den beiden D-dur-Suiten Seb. Bach’s. Sie ist vor Allem beliebt durch ihr frommes, seelenvolles „Air“, das von den Geigern un übertrefflich gesungen wurde. Hierauf spielte der königlich sächsische Concertmeister Henry Petri das D-moll-Concert

Nr. 9 von Spohr. An seiner edlen Cantilene, seiner breiten langathmigen Bogenführung erkennt man den Schüler Joachim’s, unter dessen Schutz Herr Petri auch zuerst im Jahre 1877 in London aufgetreten ist. Im ersten Satz machte sich anfangs leider mancher unreine hohe Ton bemerkbar — sei es in Folge atmosphärischer Einflüsse oder einer Befangenheit des Künstlers. Mit zarter, natürlicher Empfindung spielte Herr Petri das Adagio. Es ist der schönste Satz des D-moll-Concerts, wie dieses das schönste unter den siebzehn Violin-Concerten Spohr’s. „Von Zeit zu Zeit seh’ ich den Alten gern.“ Vor fünfzig Jahren war der Spohr-Cultus in der Oper, im Quartett, in den Orchester- und Vir tuosen-Concerten fast übereifrig geworden; Prag insbeson dere schien förmlich verspohrt. Allmälig ermüdete man an seiner monotonen Chromatik und weichen Sentimentalität und überließ ihn mit Unrecht völliger Vergessenheit. Manches schöne Stück könnten unsere Quartettspieler mit Erfolg wieder hervorziehen; Spohr trifft stets mit Sicherheit eine Saite unseres Fühlens, wenn man ihn längere Zeit nicht gehört hat. So erzielte denn auch Herr Petri mit seinem echt künstlerischen Vortrag des Spohr’schen Concerts einen großen Erfolg. Den merkwürdigsten Gegensatz zu dieser Musik bildete die Schlußnummer: BerliozSinfonie fantastique“, die zuletzt vor sechs oder sieben Jahren hier wieder holt worden ist. Jedesmal (so berichtete ich damals), wenn ich sie nach längerer Zeit wieder höre, fühle ich mich einige Stufen oder Treppenabsätze herabstürzen von meiner einstigen Jugend schwärmerei. So ist es mir auch am letzten Sonntag ge gangen, und nicht mir allein. Robert Schumann, dessen be geisterte Kritik der Sinfonie fantastique seinerzeit die ganze musikalische Jugend revolutionirt hatte, hörte in späteren Jahren selbst nicht gerne davon sprechen. Auch bei der jüngsten vortrefflichen Aufführung unter Hanns Richter fesselte die Symphonie nur durch Einzelheiten voll leiden schaftlicher Gluth oder schmerzlicher Versenkung; sie inter essirte als musikgeschichtlich epochemachende Erscheinung und erobernde Vormacht der modernsten Instrumentirungskunst. Als Ganzes hat sie ziemlich kalt gelassen, was sich durch das Mißverhältniß der dürftigen musikalischen Ideen zu der weitausgedehnten und zerfahrenen Form wol erklärt. Berlioz pflegte im Gespräche gern zu betonen, er habe das Stück mit seinem Herzblut geschrieben. Ja, Blut ist ein besonderer Saft. Wir wollen damit erwärmt, belebt, aber nicht be gossen werden.