Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11716. Wien, Sonntag, den 4. April 1897 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11716. Wien, Sonntag, den 4. April 1897 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 04.04.1897
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Von Johannes Brahms’ letzten Tagen.

Ed. H. So haben wir ihn denn auch verloren, den echten großen Meister und treuen Freund! Ihn, der noch vor Kurzem sich rühmen durfte, in seinem ganzen Leben nie krank gewesen zu sein, nicht einen einzigen Tag! Das hielt auch glücklich an bis gegen Ausgang des Sommers; da war er unversehens erkrankt, ohne es selbst zu wissen. Einige Freunde machten ihn in Ischl aufmerksam auf seine krankhafte gelbe Gesichtsfarbe. Mit der Erklärung, er schaue ohnehin nie in den Spiegel, brach er das ihm ärgerliche Gespräch ab. Brahms, der Vierundsechzigjährige, wollte niemals von Krankheit hören, nie von Schonung oder Vorsicht; durch seine beneidenswerthe Rüstigkeit dünkte er sich gefeit. Als er mir vor etwa fünf Jahren mit naiver Befriedigung erwähnte, er habe sich ein hübsches Vermögen zusammencomponirt, welches ihm Simrock in Berlin ver walte, bemerkte ich: „Du hast doch ein Testament gemacht?“ — „Ein Testament?“ rief er ganz erstaunt, „ich bin ja ganz frisch und gesund!“ — „Eben darum,“ erklärte ich. „Verschiebt man dieses Geschäft, bis man recht alt und krank geworden, dann kommt man entweder gar nicht mehr dazu oder macht etwas Dummes.“ Brahms schwieg und schien mit dem Gedanken wie mit etwas Weltfremdem zu ringen. Nach ein paar Tagen brachte er mir trotzdem ein versiegeltes Testament zur Aufbewahrung. Ich behielt es vorläufig, bis bald darauf Simrock in Wien eintraf und auf mein Ersuchen die Urkunde zu sich nahm. Als der Jüngste von uns Dreien hatte er die meiste Wahrscheinlichkeit des Ueberlebens für sich.

In Ischl bequemte sich Brahms doch endlich seinen Freunden zulieb, ärztlichen Rath anzunehmen. Die Aerzte erklärten seine Gelbsucht aus einem vorläufig noch unbe denklichen Leberleiden und schickten Brahms nach Karlsbad. Sehr widerwillig gehorchte er dieser Weisung, war doch seine Vorliebe für Ischl ebenso groß wie seine Abneigung gegen jeden ernsten „Curplatz“, Ende August langte er in

Karlsbad an. Ich hatte dort zwei musikalische Freunde (Professor Emil Seling und Musikdirector Janetschek) brieflich ersucht, Brahms auf dem Bahnhofe zu erwarten und ihm beim Wohnungssuchen und sonst behilflich zu sein. Als sie ihm aus dem Waggon aussteigen halfen, waren Beide, wie sie mir schrieben, über sein furchtbares Aus sehen so entsetzt, daß sie Mühe hatten, ihn es nicht merken zu lassen. Nachdem Brahms den Eindruck des Fremden und Ungewohnten überwunden hatte, begann ihm Karlsbad besser zu gefallen, als er je gedacht. „Wie leid mir ist,“ schreibt er mir Anfangs September, „am 11. nicht dabei zu sein, und manches Andere brauche ich dir nicht zu sagen. Wir hatten gehofft, Brahms werde, wie ein Jahr zuvor, den 11. September (meinen Geburtstag) wieder in Gmunden bei Freund Victor v. Miller mit uns zubringen. Er schickte aber diesmal ein langes, launig abgefaßtes Gratulations-Telegramm aus Karlsbad. Von hier aber wollte ich recht behaglich zu dir plaudern — dies ist das erste Blatt Papier, das ich nehme! Aber da werde ich gleich heute Früh mit so viel theilnahms vollen Briefen überschüttet, daß ich wirklich nicht anfangen mag. Aber ich bin meiner Gelbsucht ganz dankbar, daß sie mich endlich in das berühmte Karlsbad bringt. Es be grüßten mich auch gleich so herrliche Tage, wie wir sie den ganzen Sommer nicht hatten. Dazu habe ich eine überaus reizende Wohnung („Stadt Brüssel“, am Hirschensprung) bei allerliebsten Leuten, so daß ich höchst vergnügt bin. Sei für heute mit dem flüchtigen Gruße zufrieden deines J. Br.

Nicht so tröstlich lautete ein Brief, den Brahms’ aus gezeichneter Karlsbader Arzt Dr. Grünberger die Güte hatte, mir am 24. September zu schreiben, und worin es heißt: „Nach wiederholter genauer Untersuchung und durch volle drei Wochen fortgesetzter Beobachtung des Patienten ergab sich als Resultat das Vorhandensein einer bedeutenden Schwellung der Leber mit vollständigem Ver schluß der Gallengänge und den hiedurch bedingten Folge- Erscheinungen, Gelbsucht, Verdauungsstörungen etc. Trotzdem ich eine Neubildung der Leber direct nachzuweisen nicht im Stande war ... kann ich doch nicht umhin, den Zustand als einen recht ernsten zu bezeichnen.“ Kein Zweifel, daß die hervorragenden Aerzte, welche Brahms nach seiner

Rückkehr hier consultirte, über seine unheilbare Krankheit ebenso im Reinen waren, wenn sie auch den trostlosen Namen derselben gegen Niemanden aussprechen mochten. Am wenigsten durfte natürlich Brahms selbst Verdacht bekommen. Wie lebhaft er auf psychologische Eindrücke reagirte, sah ich mit Staunen, als ich ihn eines Vor mittags besuchte und seine Stimme auffallend kräftiger, seine Bewegung viel freier fand, als Tags vor her. „Ja,“ rief er, mit einem zufriedenen Ton, wie ich ihn lange nicht mehr von ihm gehört, „ich bin jetzt wirklich beruhigt; es war ein Consilium von Aerzten bei mir, und sie haben nach genauester Unter suchung durchaus nichts Gefährliches bei mir gefunden!“ Thatsächlich war in den ersten zwei bis drei Monaten nach seiner sechswöchentlichen Karlsbader Cur eine Verschlimmerung seines Zustandes kaum zu bemerken, freilich auch keine Besserung. Brahms ging noch ziemlich viel spazieren; auf fallend erschien dabei nur sein schwankender Gang und die gebückte Haltung. Auch war er sehr reizbar geworden, be sonders heftig und unwirsch, wenn man nach seinem Befinden fragte oder vorgab, ihn besser aussehend zu finden. Wenn man überhaupt den Muth hatte, ihn zu fragen, antwortete er meistens: „Alle Tage ein bischen schlechter.“ Das war auch objectiv richtig. Eine langsame, aber stetig zunehmende Verschlimmerung machte sich deutlich bemerkbar. Der gelbe, fast orangefarbene Teint wurde immer dunkler und gab seinen einst so schönen blauen Augen einen un heimlichen Ausdruck. Sein kräftiger, zu starker Fülle neigender Körper schrumpfte zu entsetzlicher Mager keit ein; die langen weißen Haare hingen wirr herab über das faltige, abgemagerte, bekümmerte Gesicht. Trotzdem kam er noch vier Wochen vor seinem Ende fast regelmäßig als Mittagsgast zu befreundeten Familien, auch manchmal in deren Loge ins Burgtheater, das er ebenso gern besuchte, als er der Oper auswich. „Ich bitte dich dringend,“ schrieb er mir in jener Zeit, „entbehre Bösen dorfer und Reinecke und benütze beiliegende Karte, um Anzengruber’s „Gewissenswurm“ zu sehen! Es ist ein ganz vortreffliches Stück und wird dich herzlich erfreuen, ja wahr haft erquicken. Du kennst es aber wahrscheinlich und weißt, daß es kein trauriges Stück ist.“ Die letzte Opernvor

stellung, welche Brahms besucht hat, war das „Heimchenvon Goldmark, den er persönlich liebte und schätzte. Im Theater wie auch am Mittagstisch geschah es nun häufiger als je, daß Brahms einnickte. Er war bereits recht schwach, als Strauß neue Operette „Die Göttin der Vernunftherauskam; aber wiederholt hatte er mich gemahnt, ihm gewiß einen Platz in meiner Loge zu reserviren. Für Johann Strauß, mit dem er, zumal in Ischl, viel und gern verkehrte, empfand Brahms die herzlichste Sympathie und hatte noch an dessen letztem Werke: „Waldmeistersich aufrichtig erfreut. Auf einen Fächer von Frau Adele Strauß schrieb Brahms unter die Anfangstacte des „Donau walzers“ die Worte: „J. Brahms, der dies componirt haben möchte.“ Er erschien auch am 13. März pünktlich in der Première der „Göttin der Vernunft“, fühlte sich aber zu angegriffen, um bis zu Ende zu bleiben. Nach dem zweiten Acte verließ er das Theater, wie immer heftig dagegen protestirend, daß man einen Wagen hole oder ihn nach Hause begleite, was doch bereits sehr rathsam erschien. Nur durch eine listige Vorspiegelung gelang es, daß er die Begleitung meines Schwagers annahm. Es war das letzte mal, daß Brahms ein Theater betreten hat. Dem Besuch von Abendconcerten hatte er schon früher entsagt; das Concert der von ihm sehr hochgeschätzten Marcella Sembrich hätte er gern gehört und kam selbst zu ihr, sich zu entschuldigen.

Das letzte von Brahms besuchte Concert war das Philharmonische“ vom 7. März. Die Erinnerung daran wird sich jedem Anwesenden tief eingeprägt haben. Man begann mit Brahms4. Symphonie in E-moll. Gleich nach dem ersten Satz erhob sich ein Beifallssturm, so anhaltend, daß Brahms endlich aus dem Hintergrund der Directions-Loge vortreten und sich dankend verneigen mußte. Diese Ovation wiederholte sich nach jedem der vier Sätze und wollte nach dem Finale gar kein Ende nehmen. Es ging ein Schauer von Ehrfurcht und schmerzlichem Mit leid durch die ganze Versammlung; eine deutliche Ahnung, daß man die Leidensgestalt des geliebten kranken Meisters in diesem Saale zum letztenmal begrüße. Diese ganz außer gewöhnliche Huldigung wirkte um so stärker, als ge rade seine E-moll-Symphonie niemals populär gewesen und bei ihrem geringen sinnlichen Reiz es auch schwerlich

werden wird. Wir Freunde, die wir an der ersten kalten Aufnahme dieses Werkes im Jahre 1886 nun diesen glänzenden Erfolg messen konnten, freuten uns für Brahms unsäglich über diesen Triumph. Aber die rechte innere Fröh lichkeit wollte sich doch nicht einstellen; das Weh der Sorge, des Mitleidens ließ sich nicht wegmusiciren.

Es ging nun zusehends abwärts mit Brahms. Seine Füße wollten nicht mehr gehorchen; so holten ihn denn seine Freunde zu Spazierfahrten in den Prater ab. Auch diese karge Herrlichkeit währte nur ganz kurze Zeit. Brahms mußte, wogegen er sich am längsten gesträubt, vor acht Tagen zu Bett gebracht werden. Er hat es nicht wieder verlassen. So kraftlos war er in diesen letzten Tagen, daß er auch wachend in einer Art Betäubung hinzudämmern schien. Die unbeschreiblich rührende Sorgfalt seiner Freunde Victor v. Miller-Aichholz, Arthur Faber, Dr. Fellinger und ihrer Frauen hat ihn, den Alleinstehenden, unausgesetzt um geben. Wie es scheint, hat Brahms kein Bewußtsein von der Hoffnungslosigkeit seines Zustandes und von der Nähe der Gefahr gehabt; die Freunde und Aerzte erhielten ihn liebevoll in dieser Illusion; die Zeitungen, die er noch zeit weise durchblätterte, enthielten sich rücksichtsvoll jeder Notiz über seine schwere Erkrankung.

Brahms’ letzte Composition (op. 121) waren bekanntlich die auf Bibelworte gesetzten „Vier ernsten Gesänge“, deren bittere Klage über die Vergänglichkeit des Menschen von schmerzlichem Todesschauer durchweht sind. Sie schienen uns, als sie in diesem Winter zum erstenmale gesungen wurden, ein böses Omen, und in der Musikgeschichte werden sie ohne Zweifel als eine merkwürdige, ganz bestimmte Todesahnung fortleben. Dennoch stand Brahms, als er die Lieder im vorigen Sommer in Ischl componirte, in voller Gesundheit und war noch Monate später ganz unberührt von Todesgedanken. Aller Wahrscheinlichkeit nach steht die Wahl dieser Texte im Zusammenhange mit Clara Schumann’s Tod (Ende Mai 1896), welcher Brahms so tief erschüttert hat. Aber die „Ernsten Lieder“ blieben seine letzten: sie präludirten seinem Sterben.

Als wir am 7. Mai v. J. Brahms’ 63. Geburtstag im Freundeskreis so heiter begingen, da mochte Niemand, Niemand ahnen, daß es sein letzter war. Wir werden keinen 7. Mai mehr feiern.