Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11806. Wien, Dienstag, den 6. Juli 1897 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11806. Wien, Dienstag, den 6. Juli 1897 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 06.07.1897
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Johannes Brahms. (Erinnerungen und Briefe.) IV. (Schluß.)

Ed. H. Siehe Nr. 11797, Nr. 11799 und Nr. 11801 der „Neuen Freien Presse“ vom 27., 29. Juni und 1. Juli. Brahms’ allgemeine Bildung war viel um fassender und tiefer, als man nach flüchtiger Bekanntschaft vermuthen mochte. Was in seiner harten, entbehrungsvollen Jugend ihm verwehrt geblieben, hat er später mit an dauernder Energie nachgeholt. Eine bewunderungswürdig rasche Auffassung und ein ebenso außerordentliches, nie ver sagendes Gedächtniß unterstützten ihn in seinen Studien. Oft erfuhr man erst nach Jahren, wenn ein Stichwort zwingenden Anstoß gab, wie fest beschlagen er war in literarischen Dingen. Mit seiner Belesenheit zu prunken, fiel ihm nicht ein; er versteckte sie lieber. Der reine Gegen satz zu Liszt, der in seinen musikalischen Aufsätzen fort während mit Dante, Shakespeare, Goethe, Michelangelo, Albrecht Dürer herumwirft, auch mit Plato, Spinoza, Kant und Hegel, von denen er schwerlich ein Capitel selbst gelesen hatte. Vollends zuwider waren Brahms jene neuesten Musikkritiker, die sofort Schopenhauer und Nietzsche citiren, sobald sie eine neue Oper oder Symphonie anschneiden. Wie genau kannte Brahms unsere classische Literatur, wie tief hatte er ihre Meisterwerke in sich aufgenommen. Manche seiner literarischen Sympathien waren mir nicht ganz erklärlich, so z. B. daß er immer und immer wieder bis in sein Alter Jean Paul lesen konnte und die humo ristischen Romane von Swift und Fielding. Letztere in deutscher Uebersetzung. Für fremde Sprachen besaß er kein Talent, hat niemals, auch nur für den allerdürftigsten Hausgebrauch Französisch oder Englisch erlernt. Der neuesten Literatur näherte er sich mit sehr zurückhaltender Auswahl. Es ist ja unzweifelhaft das Uebel der neuen Bücher, daß sie uns verhindern, die alten wieder zu lesen. Die realisti schen Erzeugnisse unserer Modernsten erregten BrahmsWiderwillen; hingegen las er mit nie abwelkendem Genuß

die Novellen Gottfried Keller’s und die Dichtungen seines Freundes J. V. Widman in Bern.

Auch die Politik — sonst das gemiedene und ver schmähte Aschenbrödel der Künstler — verfolgte Brahms aufmerksam. In einem seiner Briefe finde ich sogar leiden schaftliche Theilnahme an einem speciell österreichischen Zwischenfall. Er schreibt mir aus Wiesbaden im Juni 1883:

„Liebster Freund! Ich muß mein Hurrah Jemandem zurufen, mein fröhliches, kräftiges Hurrah den Professoren für ihren Brief an Rector Maaßen. Professor Maaßen ist im Jahre 1883 in einer Debatte des niederösterreichischen Landtages, in welchem er als Rector die Uni versität vertrat, zu Gunsten einer czechischen Volksschule in Wien ein getreten. Anm. der Red. Man muß so viel Oesterreicher sein wie ich, die Oesterreicher so lieben wie ich, um jeden Tag beim Zeitungslesen traurig zu sein, dann aber auch einmal, wie jetzt, so ernstlich erfreut zu werden! Regelmäßig lese ich leider nur das „Fremden-Blatt“, das eine prinzeßliche Freundin hier hält und mir schickt. Ich bin immer noch Lamezan dankbar für die Ohrfeige, die er dem Blatt diesen Winter gab. Wenn ich nur die confiscirten Nummern kriegte, ich abonnirte auf die „Neue Freie Presse“!

Und Freund Billroth will immer noch nicht Wag nerianer werden? Wozu wartet er so lang, einmal muß er doch daran.“

Ein guter Oesterreicher war Brahms geworden und zugleich ein treuer Reichsdeutscher geblieben. Mit wärmster Theilnahme und Aufmerksamkeit las er die historischen Werke von Sybel und Treitschke, zuletzt Oncken’s Buch über Kaiser Wilhelm. Für Bismarck hegte er eine leidenschaftliche Verehrung, ließ sich gern jedes seiner Bild nisse schenken, liebte seine Reden und kannte Alles, was über den Eisernen Kanzler geschrieben war. Noch drei Wochen vor seinem Ende, als die tückische Krankheit ihm jede Lebensfreudigkeit geraubt hatte, klagte er seinem treuen Freunde Herrn Arthur Faber, er könne Gelesenes nicht mehr behalten. „Nur über Bismarck möchte ich lesen; schick’ mir das Buch von Busch: „Bismarck und seine Leute.“

Rodenberg’s „Deutsche Rundschau“ zählte ihn zu ihren dankbarsten Lesern. Ueber das Juni-Heft 1894, welches einen Theil meiner Memoiren brachte, schrieb mir Brahms

aus Ischl: „Für deinen lieben und lustigen Gruß aus Karlsbad danke ich schön, und noch viel schönerer für dein letztes schönstes Heft. Ich sagte dir schon und es war auch diesmal so: jedem neuen Hefte sehe ich mit Bedenken ent gegen, und jedes überrascht mich auf das unerwartetste und beste. Ich könnte und möchte von manchem Einzelnen an fangen, nicht zuletzt von der Schilderung früherer klein bürgerlicher und städtischer Verhältnisse — aber ich hoffe, wir plaudern hier oder dort nächstens.“

Von modernen Malern waren es insbesondere zwei, welche Brahms in hohen Ehren hielt: der Altmeister Adolph Menzel und der in unseren Tagen zur Berühmtheit ge langte Max Klinger. Die Sympathien waren gegen seitig. Der trotz seines hohen Alters stets frische, bewegliche Menzel hat Brahms wiederholt in Wien besucht und ihn in Berlin ganz ausnehmend gefeiert, Klinger fühlte sich von Brahms’ Musik zu vielen seiner merkwürdigsten Schöpfungen entzündet. Nach Empfang von Klinger’s neuestem Album Phantasien“ schrieb mir Brahms sofort:

„Lieber Freund! Die neueste Brahms-Phantasie nur anzuschauen, ist mehr Genuß, als die zehn letzten zu hören. Brahms, op. 118. Phantasien für Pianoforte. — Zu diesen sieben Phantasien rechnet Brahms offenbar die drei Intermezzi, op. 117, hinzu. Da ich sie die aber nicht gut bringen kann, so bitte ich dich, bei mir vorzusprechen — auch einige Zeit mitzu bringen, denn sie dauert mindestens so lange, wie besagte zehn letzte oder frühere.“

So sehr mir an Klinger’s Illustrationen die geniale Kühnheit imponirte, das Entzücken Brahms’ vermochte ich doch nicht überall zu theilen; am wenigsten über die Titel blätter der bei Simrock erschienenen Lieder. Zu einem fach männischen Urtheil durchaus unberufen, konnte ich doch meine Empfindung nicht verhehlen, daß hier das einseitig Realistische und gewaltsam Charakteristische allzusehr die Schönheit zurückdrängt, ja ohne innere Nöthigung verletzt habe. Ich konnte nicht begreifen, warum z. B. Homer als abstoßend häßlicher Alter mit weißen Haarbüscheln auf dem splitternackten elenden Leib dargestellt sein mußte — oder weßhalb die reizende Melodie eines Brahms’schen Liedes sich bei Klinger nicht in einer soliden Mädchengestalt, son

dern in einer recht derb alltäglichen widerspiegle? „Du hast nicht Unrecht,“ entgegnete Brahms, „aber das Alles stört mich nicht — es ist doch genial!“ Ich mußte an Eitel berger denken, der einmal in wilder Oppositionslaune ausrief: „Die verwünschte Schönheit, die hat alles Unheil in die Malerei gebracht!“

Seiner Dankbarkeit und Verehrung für Max Klinger gab Brahms einen bleibenden Ausdruck durch die Widmung seiner „Vier ernsten Gesänge für eine Baßstimme“, op. 121. Von ihm, der mit Dedicationen stets auffallend sparsam, ja in den letzten zwanzig Jahren fast gänzlich zurückhaltend gewesen, galt diese Widmung nicht wenig, sie ward um so bedeutungsvoller, als die „Vier ernsten Ge sänge“ sein allerletztes Werk blieben. Ja, diese nicht blos „ernsten“, sondern trostlosen Todes- und Verwesungsklänge präludirten, ohne daß Brahms es ahnte, seinen Abschied vom Leben. Als eine Art Requiem für den Meister selbst hat sie Herr Sistermans nacheinander in fast allen deutschen Städten vorgetragen, welche ihren Concerten oder Musik festen eine Trauerkundgebung für Brahms einfügten. Gewiß werden diese „Vier ernsten Gesänge“ immer als eine be stimmte Vorahnung seines eigenen Todes empfunden und gedeutet werden, obgleich Brahms sie noch bei voller Ge sundheit geschrieben hat. Ich dachte sie mir in unmittelbarem Zusammenhange mit dem ihn tief erschütternden Tode Clara Schumann’s. Aber auch diese Vermuthung muß ich heute für irrig erklären. Brahms’ intimer Freund, Herr Alwin v. Beckerath, einer der kunstsinnigsten Musikförderer im Rheinlande, schreibt mir darüber aus Crefeld: Brahms kam (im Mai 1896) direct aus Bonn, von Frau Schumann’s Begräbniß, herüber nach Honef, auf den Landsitz meines Schwagers Weyermann, wo wir mit Barth aus Hamburg und einigen Meininger Musikern vereint ein kleines Privat-Kammermusikfest feierten. Am ersten Tage war Brahms sehr erregt, bald wirkten aber die schöne stille Natur und das häusliche Behagen wohl thuend auf ihn, und er blieb statt einen Tag, wie er an fangs beabsichtigte, volle fünf Tage. Am zweiten Tage theilte

er Barth mit, er habe etwas Neues, und er möchte es uns in aller Stille einmal zeigen. Wir gingen klopfenden Herzens mit ihm auf ein abgelegenes Zimmer, wo ein Pianino stand, und dort führte er uns die „Vier ernsten Gesänge“ aus dem Manuscript vor. Er war dabei selbst so ergriffen, wie ich’s nicht für möglich gehalten hätte. „Die habe ich mir zu meinem Geburtstage geschrieben,“ sagte er. Sie sehen hieraus, daß diese Composition in keinem ursäch lichen Zusammenhang mit Clara Schumann’s Tod steht. Außer den „Vier Gesängen“ brachte er noch neue herrliche Orgelvorspiele mit. Wir waren Alle tief erschüttert und ein trübes Ahnen füllte mein Herz — leider hat es Recht behalten.“

Am Ausgang seines Lebens hatte Brahms rasch nach einander zwei schmerzliche Verluste zu verwinden: im Februar 1894 starb Billroth, im Mai 1896Clara Schumann. Es entsprach ganz seiner starken, festgefügten und schweigsamen Natur, daß Brahms darüber möglichst wenig reden oder hören mochte. Sobald er Billroth’s Tod erfahren, kam er augenblicklich theilnehmend zu mir, gestand aber, daß er etwas „wie ein Gefühl der Befreiung“ darüber empfinde, das traurige Hinwelken unseres Freundes, dieses Riesen an Geist und Körperkraft, nicht noch länger ansehen zu müssen. Er spricht dies auch später noch (Ischl1895) in einigen Zeilen an mich aus, die sich auf meine in der Neuen Freien Presse“ veröffentlichten Billroth-Erinnerungen beziehen:

„Laß mich dir recht herzlich danken für die innige Freude, die mir deine Billroth-Aufsätze gemacht haben. Das ist ein selten schönes Todtenopfer und ein Zeichen von Freundschaft, wie es nur ein guter Mensch geben kann. Auch Fernerstehende werden deine Worte mit Wonne lesen, mit doppelter aber Jeder, dem Billroth theuer war.

Mich aber laß bekennen, weßhalb sie mir besonders wohl thaten: sie haben mich befreit von dem Andenken an den kranken Billroth; erst jetzt bin ich von der peinlichen Empfindung und Erinnerung der letzten Jahre frei ge

worden und denke und liebe den Mann, wie ich ihn früher kannte und wie du ihn so liebevoll schilderst. ...“

Billroth und Brahms verband die innigste persönliche Freundschaft; Billroth empfand überdies eine enthusiastische Verehrung für Brahms’ Compositionen. Wie er nicht müde wurde, dieselben mit mir vierhändig durchzuspielen, so pflegte er auch nach jeder Aufführung eines neuen Brahms mir brieflich den davon empfangenen Eindruck zu schildern. Ich hatte einmal Brahms von diesen bei aller Begeisterung doch so genau eingehenden schönen Musikbriefen Billroth’s ge sprochen, und da äußerte der sonst gar nicht Neugierige oder gar Lobgierige den Wunsch, etwas von diesen ungedruckten freund schaftlichen Kritiken zu sehen. Ich raffte schnell drei bis vier von Billroth’s Briefen zusammen und schickte sie Brahms. Einen Augenblick zu spät erschreckte mich die unbestimmte Erinnerung, es stecke in einem dieser Briefe ein für Brahms verletzendes Wort. Billroth machte nämlich, Brahms mit Beethoven vergleichend, die Bemerkung, daß unser Freund neben den großen Vorzügen auch manche persönliche Schwäche seines Vorbildes theile: er sei wie Beethoven oft rücksichts los und verletzend schroff gegen seine Freunde und könne ebensowenig wie Beethoven sich von den Nachwirkungen einer ver wahrlosten Erziehung völlig losmachen. Ganz trostlos darüber, so unvorsichtig gegen meine zwei besten Freunde gehandelt zu haben, mußte ich obendrein befürchten, daß Brahms in einer seiner sarkastischen Anwandlungen Billroth ob jenes Ausspruches vielleicht necken und in Verlegenheit bringen werde. Brahms rettete mich schnell aus meiner peinlichen Stimmung. Seine Antwort auf meinen entschuldigenden Brief ist ebenso würdig und aufrichtig, wie höchst bezeichnend für seinen Charakter:

„Lieber Freund! Du brauchst dich nicht im geringsten zu beunruhigen. Ich habe den Brief von Billroth kaum ge lesen, gleich wieder in den Umschlag gethan und nur leise den Kopf geschüttelt. Ich soll nichts gegen ihn erwähnen — ach, lieber Freund, das geschieht leider ganz von selbst nicht bei mir! Daß man auch von alten Bekannten und Freunden für etwas ganz Anderes gehalten wird, als man ist (oder

also in ihren Augen: sich gibt), das ist mir eine alte Er fahrung. Ich weiß, wie ich früher in solchem Fall erschreckt und betroffen schwieg, jetzt schon längst ganz ruhig und selbst verständlich. Das wird dir gutem und gütigem Menschen hart oder herbe scheinen — doch hoffe ich, noch nicht zu weit vom Goethe’schen Wort abgekommen zu sein: Selig, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt. — Recht herzlich dein J. Brahms.“

Die beiden letzten Briefe, die ich von Brahms besitze, haben eine lange Vorgeschichte. Sie betreffen einige Briefe Robert Schumann’s (aus der Heilanstalt Endenich bei Bonn) an seine Frau und an Brahms. Letzterer, der meine schwärmerische Verehrung für Schumann, den Tondichter und den Menschen, kannte, hatte mir die Briefe vor mehr als zwanzig Jahren zur Abschrift mitgetheilt. Gern hätte er sie gedruckt gesehen, diese rührenden Mittheilungen, welche uns den kranken Schumann wie in einem mild verklärenden Lichte zeigen. Er bat deßhalb Clara um ihre Einwilligung. Sie gab dieselbe brieflich nach einigem Zögern, zog sie jedoch später mit der ihr eigenen Aengstlichkeit wieder zurück. Da weder Brahms noch ich gegen die Empfindungen der ver ehrten Frau im entferntesten ankämpfen wollten, sprachen wir nicht weiter von der Sache. Erst nach Clara’s Tode fiel die Rede wieder darauf; ich äußerte brieflich gegen Brahms den Wunsch, es möchten doch diese letzten Aeuße rungen Schumann’s nicht verloren gehen für seine treue Gemeinde. Auf meine Ausführungen antwortete Brahms (Juli 1896 aus Ischl) vorläufig mit folgendem Billet: „Von ganzem Herzen mit dir einverstanden, schicke ich dies nur voraus, weil es wol ein etwas länglicher Brief wird, der mein Ja wiederholt, und mich zugleich der Gedanke beschäftigt, an Marie Schumann zu schreiben. — Also: bis gleich! Herzlichst dein J. B.

Wirklich ließ der „längliche Brief“ (er traf mich Ende Juli in Heringsdorf) nicht lange auf sich warten. Der selbe lautet:

„Liebster Freund! Alles, was du schreibst, ist richtig und wahr und dich wie mich angehend. So sage ich nur

kurz, daß eine Darstellung Robert Schumann’s in Endenich aus deiner Feder stets mein sehnlicher Wunsch war. Ich hatte wie du die Zustimmung Clara’s. Dann kam N. N. dazwischen und ihre Sinnesänderung. Mich traf sie empfind licher wie dich — aber deinetwegen, was ich, wie Manches der Art, still zu verwinden suchte.

Vertraulicher Umgang mit Frauen ist schwer, desto ernster und vertraulicher, desto schwerer. Als mildernd muß man in diesem Falle durchaus gelten lassen, daß Frau Schu mann ihren Mann damals nicht sah und es begreiflich ist, daß sie nicht gern über den Kranken hörte. Jetzt ist Marie die Besitzerin alles schriftlichen Nachlasses und darf darüber verfügen. Wieder bitte ich, zu bedenken, wie schwierig ihre oder der drei Schwestern Lage ist — solchem Eigenthum gegenüber!

Ich glaube nicht, daß sie etwas thun werden, ohne mich um Rath zu fragen; ob sie aber auf meinen Rath etwas thun, weiß ich nicht. Jedenfalls möchte ich Marien unsere Sache vorstellen und sie bitten, uns das übrige Material (Endenich angehend) zu überlassen oder zunächst freundlich zuzustimmen, daß du alles in Händen Habende benützen darfst.

Nun ist mein dringender Wunsch, du möchtest mit der Veröffentlichung deiner Arbeit nicht eilen. Es ist doch möglich, daß wir alles dahin Gehörige bekommen, dann aber: Ich bin der Einzige, der mit Schumann zu jener Zeit oft verkehrte, und du bist der Einzige, dem ich, statt der eigenen Feder, meine Erinnerungen anvertrauen möchte. Es kommt ja nichts Merkwürdiges dabei heraus, aber — wollen wir nicht ein paar ruhige Stunden daran wenden?

In ernster Freundschaft dein J. Brahms.“

Man sieht, ihm selbst lag die Angelegenheit auf dem Herzen. Er berichtet mir über dieselbe aus Karlsbad An fangs September vorigen Jahres mit folgenden Zeilen:

„Beiliegendes Schreiben von Marie Schumann hätte ich dir längst geschickt, wenn ich deiner Adresse sicher ge wesen wäre. Ich hatte seinerzeit deinen Brief an Marie ge

schickt und dazu gebeten, uns übriges Material, Endenich angehend, anzuvertrauen. Dem Passus von „uns Kindern“ hatte ich eigentlich vorgebeugt und gesagt: sie dürfen dir und mir einige Empfindlichkeit in der Sache wol nachsehen. Frauenzimmer u. s. w.

Vielleicht finden wir bei uns in Wien noch Geeignetes — sonst haben wir unser Möglichstes gethan.“

In dem von Brahms eingangs erwähnten Briefe ant wortet ihm Fräulein Marie Schumann (Frankfurt, 17. August) zustimmend: „Thun Sie, was Sie im An denken an unsere Mutter für das Rechte halten, und das soll mir gelten.“ Dem Wunsche jedoch, noch andere Briefe Schumann’s zu erhalten, begegnet sie mit den Worten: „Ich muß erst in Ruhe das Material selbst durchgelesen und einen Ueberblick gewonnen haben, ehe ich etwas aus den Händen gebe. Dazu braucht es aber einiger Jahre.“

So verblieb es denn bei der Veröffentlichung jener wenigen Briefe, welche Brahms mir vor so vielen Jahren mitgetheilt hatte und denen Joachim noch ein sehr werth volles Stück beifügte. („Aus Robert Schumann’s letzten Tagen“, „Neue Freie Presse“ vom 27. October 1896.)

Man mußte Brahms lange kennen, um auf den Gold grund seines verschlossenen Wesens zu gelangen. Er war in Wohlthaten ebenso unermüdlich, wie unerschöpflich in der Kunst, sie geheim zu halten. Wie manchem jungen Musiker hat er unaufgefordert geholfen mit einem „in beliebiger unbestimmter Zeit zurückzuzahlenden Darlehen“, dessen er selbst sich niemals erinnern wollte! Er ließ es auch an moralischer Hilfe, an Förderung und Empfehlung aufstre bender Talente nicht fehlen. Sehr verschieden von gewissen weltberühmten Künstlern, die eher noch mit Geld als mit ihrer Protection aushelfen, am liebsten aber mit keinem von beiden. Brahms freute sich an jedem verdienten Erfolg eines Andern. Man weiß, wie energisch er die allgemeine Würdigung Dvořak’s beschleunigt hat. Als Ehrenpräsident

des „Wiener Tonkünstlervereins“, an dessen geselligen Abenden er gern und regelmäßig theilnahm, betrieb er eifrig Preis ausschreibungen, insbesondere für Kammermusik, um junge Talente an die Oberfläche zu bringen. Da bewies er bei Durchsicht der eingelaufenen anonymen Manuscripte einen erstaunlichen Scharfblick, aus dem Gesammt-Eindruck und technischen Einzelheiten den Autor zu errathen, oder, falls dieser noch nie hervorgetreten, wenigstens die Schule, den Lehrer desselben. Im vorigen Jahre interessirte sich Brahms sehr lebhaft für ein anonymes Quartett, dessen Componisten er durchaus nicht zu errathen vermochte. Mit Ungeduld er wartete er die Eröffnung des versiegelten Zettels. Darauf stand der bisher gänzlich unbekannte Name: Wilhelm Rabl. Ihm ward auf Brahms’ Vorschlag der Preis zuerkannt, das Stück öffentlich aufgeführt und an Simrock empfohlen, der es sofort druckte.

Nicht immer von höflichen Manieren, besaß auch Brahms eine wohlthuende Höflichkeit des Herzens. Wie er götzte es ihn, wenn er Anderen eine Freude machen konnte, vollends eine geheimnißvoll überraschende! So fand ich ihn an einem Sonntag Vormittags eifrig beschäftigt, mehrere Flaschen Champagner in einen Korb zu packen. „Die sind für ..., dessen neues Orchesterstück heute aufgeführt wird. Wenn er nach dem Concert sich mit seiner Familie zu Tische setzt, soll er eine Freude haben!“

Kurz vor seiner letzten Krankheit besuchte ihn die Frau eines in Böhmen lebenden ausgezeichneten Componisten. Brahms sprach ihr zu, wie sehr es die künstlerische Lauf bahn ihres Mannes fördern würde, nach Wien zu über siedeln. „Ja“, seufzte die Frau, „wenn das Leben in Wien nur nicht so kostspielig wäre für eine zahlreiche Familie!“ — „Wenn es an nichts Anderm hängt,“ entgegnete Brahms, „so nehmen Sie ohneweiters von meinem Vermögen, so viel Sie brauchen; ich selbst bedarf sehr wenig.“ Die gute Frau brach vor Rührung in so heftiges Weinen aus, daß sie nicht antworten konnte.

In Brahms lebte ein stark entwickeltes Rechtlichkeits gefühl, das vielleicht strengen Juristen mitunter allzu empfindlich erscheinen mochte. Eine charakteristische Geschichte, deren Anfänge ich miterlebte, deren Ausgang ich aber erst in Brahms’ allerletzten Tagen erfuhr, mag dies bestätigen. Ich traf einmal bei Brahms eine blasse, interessante Frau von etwa 40 Jahren, die geschiedene Gattin eines (wenn ich nicht irre, in Bayern lebenden) pensionirten Officiers. Diese Dame, deren nervöse Einsamkeit nur durch leidenschaftliches Musiciren ein flackerndes Leben empfing, schwärmte für Brahms’ Compositionen und nicht weniger für den Compo nisten selbst. Dieser besuchte sie auch manchmal in ihrer nah gelegenen Wohnung auf der Wieden, mehr von rein menschlicher Theilnahme geleitet, als aus persönlicher Sym pathie. Eines Tages, es mag 25 Jahre her sein, erzählte mir Brahms, Frau Amalie M. sei gestorben und habe ihm einige Musikalien vermacht, hübsch gebundene Hefte Brahms’scher Clavier-Compositionen aus dessen erster Periode. Jedes Titelblatt zeigte in zierlicher Handschrift den Namen der Erblasserin. Brahms bot mir diese Hefte an, die ich dankbar entgegennahm und noch heute besitze. Dann hat er nie wieder von dieser Verehrerin gesprochen. Erst drei Tage vor seinem Tode erzählte der Schwerkranke seinem Freunde Simrock, er sei von Frau Amalie damals testamentarisch zum Universal-Erben ihres ziemlich beträchtlichen Vermögens eingesetzt worden. Diese Verfügung habe er als ein schweres Unrecht gegen den geschiedenen Gatten der Verstorbenen empfunden, sei unverzüglich zum Notar geeilt und habe in einer rechtskräftigen Urkunde auf die Erbschaft zu Gunsten des Gatten verzichtet. Dieser wurde sofort verständigt, kam nach Wien, besuchte Brahms und nahm dankend die ihm freiwillig cedirte Erbschaft entgegen.

Wer sich in Brahms liebevoll eingelebt hat, dem ist jetzt zu Muthe, als habe unsere Musik ihr Rückgrat verloren. Doch nicht seiner hohen Bedeutung als Tondichter gelten diese flüchtigen Erinnerungsblätter. Sie sollen nur zur Charakteristik des edlen, seltenen Menschen beitragen, an dem sein engerer Freundeskreis nicht weniger verloren hat, als die musikalische Welt an dem Künstler.