Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11872. Wien, Freitag, den 10. September 1897 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11872. Wien, Freitag, den 10. September 1897 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 10.09.1897
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Zur Donizetti-Feier in Bergamo. II.

Ed. H. Siehe Nr. 11870 der „Neuen Freien Presse“. Die Auswahl eines Kleeblattes aus den 64 Opern Donizetti’s für die Festtage in Bergamo war nicht allzu schwierig; jedenfalls viel leichter, als sie vor 50 Jahren gewesen wäre. Denn damals lebte oder vege tirte noch eine Menge Donizetti’scher Opern, welche seither vom Zeitstrom unwiederbringlich weggeschwemmt und heute uns nur dem Namen nach gegenwärtig sind. Ich selbst habe noch den letzten Schimmer der italienischen Opernherrschaft in Wien miterlebt. Das Kärntnerthor-Theater war die letzte deutsche Bühne, welche die Sitte einer dreimonatlichen aus schließlich italienischen Opernsaison bis zum März 1848 aufrecht erhalten hat. Als Bellini verstummt war und Verdi eben erst flügge geworden, beherrschte Donizetti den größten Theil des italienischen Repertoires in Wien. Daß man hier neben seinen besten Opern auch manche recht mittelmäßige gab, erklärt sich aus denselben Verhältnissen, welche seine ungeheure Productivität begreiflich machen. Die italienischen Sänger mit ihren bezaubernden Stimmen und ihrer ausgebildeten Gesangskunst waren der stärkste Magnet für das Publicum. Trotzdem wollte dieses die Tadolini und Medori, den Moriani und Debassini doch nicht immer und immer wieder in denselben drei bis vier Rollen hören; man nahm dann vorlieb mit schwächeren Donizetti-Opern, mochten auch ihre Melodien aus anderen Werken des Meisters schon bekannt und gleichsam nur neu costümirt sein. Nur so war es möglich, daß Opern wie „Roberto Devereux“ und andere noch Mitte der Vierziger-Jahre in Wien erscheinen und gefallen konnten. Auch in Italien ist seit der Vorherrschaft Verdi’s die weitaus größte Zahl der Donizetti-Opern von den Bühnen verschwunden. Als die noch lebenden und lebensfähigen darf man wol nennen: den „Liebestrank“, „Don Pasquale“, „Die Regimentstochter“, Linda“, „Lucia“, „Lucrezia Borgia“, „Die Favoritin“,

Dom Sebastian“, „Belisar“. Es will nicht wenig bedeuten, daß neun Opern von überwiegend melodischem Charakter ein halbes Jahrhundert nach dem Tode ihres Schöpfers noch leben und fortwirken.

Aus diesen neun Musen hat das Festcomité die Trias: Liebestrank“, „Lucia“ und „Favoritin“ zur Aufführung in Bergamo bestimmt, eine Wahl, die, von den besten Erwägungen geleitet, allgemeine Zustimmung erfährt.

Im Bereiche der Opera buffa konnte die Wahl nur schwanken zwischen dem „Liebestrank“, „Don Pas quale“ und der „Regimentstochter“. Für mein Privatvergnügen hätte ich am liebsten sie alle drei gehört; sie gelten mir als das Reizendste und in sich Vollkommenste, was Donizetti geschaffen hat. Seine besseren lyrischen Tra gödien glänzen jede durch schöne, mitunter bezaubernde Einzelheiten; einheitliche Werke jedoch, in denen das Schwache gegen das Gute verschwindet, sind wol nur die drei komischen Opern. Zweifellos neigte Donizetti’s Temperament und Talent (wie Rossini’s) stärker zum Heiteren, Komischen, als zur Tragik. Wie erklärt sich trotzdem die so überaus geringe Zahl komischer Opern von Donizetti? Zunächst gewiß aus äußeren Umständen. Die Opera buffa nahm in Italien von jeher den zweiten Rang ein; sie verfügte nicht über die allerersten Gesangskräfte und war schlechter bezahlt, als die ernste Oper. Für den echteren Kunstwerth jener heiteren Werke Donizetti’s spricht auch ihre ungleich stärkere Lebens dauer; die drei komischen Opern ragen heute noch wie gerettete Inseln aus einem Meere durchgefallener Tragödien Donizetti’s hervor. „L’Elisir d’amore“, zuerst 1832 auf geführt, ist heute 65 Jahre alt, für eine leichte heitere Oper eine ziemliche Unsterblichkeit. In diesem „Liebestranktritt Alles, was an der italienischen Musik eigenthümlich und liebenswerth ist, uns unbeirrt entgegen. Wie süß, gesangvoll und in der Hauptsache auch immer dramatisch sind diese Melodien, diese Scenen! Ein natürliches Eben maß, wie es nur der italienischen Musik eigen, verbindet sich hier mit reizender Frische und einer fast genial zu nennenden Leichtigkeit. Ungemein hübsch contrastirt das

idyllische Element im „Liebestrank“ mit dem soldatischen, und diese beiden wieder gegen ihre gemeinsame köstliche Folie, den alten Charlatan! Ohne Frage den Höhepunkt von Donizetti’s Schaffen, bezeichnet „L’Elisir“ gemein schaftlich mit „Don Pasquale“ zugleich den Höhepunkt der Nach-Rossini’schen Opera buffa. Im „Liebestrank“ ist Alles natürlich, genügsam, lebensfroh. Die Lebendigkeit steigert sich nicht selten zum Glänzenden, die Weichheit zur herzlichen Empfindung; selbst das „Gewöhnliche“, so lähmend in heroischen und tragischen Opern, erscheint hier „freundlich“ in der milderen Beleuchtung des Alltagslebens. Ein Freund Felix Mendelssohn’s, Chorley, erzählte einmal im Musical World, wie eines Tages in London ein Kreis von „ge lehrten“ Componisten und Musikkennern den „Liebestrankin gründlicher Entrüstung verurtheilte, wie Mendelssohn an fangs stumm und unruhig sich auf seinem Sessel hin und her bewegte und schließlich, um sein Votum gedrängt, aus rief: „Ich weiß nur, meine gelehrten Herren, daß ich sehr froh wäre, hätte ich den „Liebestrank“ componirt!“ Wer gedenkt nicht gerne der Wiener Aufführungen des Liebestrank“, „Don Pasquale“ und der „Regimentstochterdurch das unvergleichliche Gesangsquartett: Desirée Artôt, Cal zolari, Everardi und Zucchini; dann der Adelina Patti als Norina in „Don Pasquale“! In Wien ist „Don Pasquale(1843) vom Publicum viel tiefer gestellt worden, als Linda“; in Paris geschah das Gegentheil. Ich glaube, die Pariser hatten Recht. Die Musik zu „Don Pasquale“ ist durchzogen von jenem hellen heitern Strom des Wohllautes, in dem wir das beneidenswertheste Pathengeschenk erkennen, das die Natur den Italienern mitgegeben. Donizetti schlägt hier noch einmal die süßen Töne an, mit welchen sein Liebestrank“ bezaubernd zwei Welten durchzog. Obwol die Italiener durch ihr bewegliches, frisches Temperament zur komischen Oper nachdrücklicher berufen erscheinen, als unsere bedächtigeren Landsleute, so leiden sie an hervorragenden Werken dieser Gattung kaum geringeren Mangel. An rein musikalischem Werth steht „Don Pasquale“ dem „Liebestranknicht nach, er theilt mit ihm die Vorzüge melodischen Flusses, maßvollen Ausdrucks, abgerundeter Form, glück

licher Charakteristik. Einzelnes, wie die Tenor-Arie zu Anfang des zweiten Actes und die Serenade im dritten Acte, ist von reizender Schönheit. Nur durch das Libretto, dessen an sich dürftige Handlung sich obendrein im Frack und innerhalb vier Wänden ab spielt, ist „Don Pasquale“ entschieden im Nachtheil. Die Regimentstochter“ steht, in einiger Ent fernung zwar, neben den zwei besten Opern Donizetti’s: dem „Liebestrank“ und „Don Pasquale“. Aus ihren Augen leuchtet Frohsinn und Witz; wie lustiger Vogelsang schmettern ihre Melodien, ein wenig keck die Haltung, doch anmuthig. Schade nur, daß Regimentstochter und Um gebung fast ebensoviel sprechen als singen. In der ganzen Oper zeigt sich nicht nur Donizetti’s eigenstes liebens würdiges Talent, sondern überdies die merkwürdige Bieg samkeit und Assimilirungskraft dieses Talents. Der Componist schrieb die „Regimentstochter“ nicht blos für die Bretter, sondern wirklich auch im Geiste der französischen Opéra comique. Die eigenthümliche Breite und Schwere der italienischen Cantilenen ist beinahe abgestreift und weicht der schärferen Rhythmik, der feineren, lebhafteren Declama tion französischer Musik. In einigen Situationen, welche das schwere Geschütz der italienischen Phraseologie förmlich herausfordern — wie das Terzett im zweiten Act: „Tous les trois réunis“ — weiß sich der Italiener so ganz und gar zu verleugnen, daß er uns mit einer graziösen Plauderei, deren Worte die drei Stimmen sich halb athemlos abfangen, überrascht. An Alltäglichkeit mit etwas trivialem Beischmack fehlt es natürlich auch nicht. Die ganze Tenor partie ist auffallend dürftig, dafür erfreut Marie fast immer durch ihren ungeschminkten, soldatisch frischen Muth. Das Mädchen hat aber auch Gemüth. Ihre Romanze im ersten Act („So lebet wohl!“), mit dem wie sanftes Tageslicht in die Molltonart einfallenden F-dur und ihrem in zwei feingeschwungenen Bogen sich herabsenkenden Schluß, ist ein Stück nicht blos von echt südlicher Formschönheit, sondern überdies von echter herzlicher Empfindung. Seltsam, daß die Momente des Ernstes und der Wehmut in Donizetti’s

komischen Opern meist einen Ausdruck von Wahrheit, von schlichter Empfindung tragen, wie wir ihn in seinen Tragödien nur selten antreffen. Man denke an die Momente der Sehnsucht oder Zärtlichkeit im „Liebestrank“ und „Don Pasquale“. Das ist das Werk eines wohlthätigen Rück schlages: wahr und natürlich im Heiteren, im Komischen, bleibt Donizetti es unwillkürlich auch im Ausdruck ernsterer Empfindungen, sobald diese gleichsam nur die Staffage einer großen heiteren Landschaft bilden.

Ueberblickt man Donizetti’s Gesammtthätigkeit — „l’oeuvre“, wie die Franzosen kurz und bündig sagen — so glaubt man vor einem überschwemmten Gefilde zu stehen, aus welchem nur noch ein halb Dutzend hoher Bäume hervor ragt. Alles Uebrige hat der unerbittliche Zeitstrom nieder gelegt und fortgeschwemmt. Dies gilt insbesondere von Donizetti’s tragischen und heroischen Opern, welche den weitaus größten Raum in seiner Thätigkeit einnehmen. Angesichts der Centenarfeier gönnte ich mir das vielleicht etwas pedantische Vergnügen, eine Anzahl von Donizetti’s älteren Opern tragischen Inhalts durchzublättern — Opern, welche sämmtlich mit mehr oder weniger Beifall in Wien aufgeführt worden sind und uns heute wie tausendjährige Mumien anstarren.

Da haben wir zum Beispiel „Roberto Devereuxdie bekannte Essex-Geschichte, mit Elisabeth und Lady Nottingham als weiblichen Hauptrollen. Wie lustig klingt die A-dur-Arie des Essex, mit der er in den Tod geht, worauf Elisabeth ihre Verzweiflung in einem ähnlichen Feuerwerk äußert. „L’assedio di Calais“ spielt 1347 im englischen Lager; die Rolle König Eduard III. war für Lablache geschrieben und von fürchterlichen Kriegerchören eingerahmt. Die Oper „Fausta“ spielt in Rom zur Kaiser zeit. Die Titelheldin, zweite Gemalin Konstantin’s des Großen, enthusiasmirte das Publicum mit einer Walzer- Arie in Es-dur „Fuggi!“ und Konstantin der Große rührte es mit sehr unheroischen Klagen über seinen Sohn. Der Wahnsinnige auf der Insel Domingomit Ronconi in der Hauptrolle des wahnsinnigen Cardenio

steckt wie alle bisher genannten Opern ganz im coloratur überladenen Rossini-Styl. Größere Verbreitung und Beliebt heit genossen seinerzeit die Opern „Gemma di Vergy(spielt 1428 unter Karl VII. in Berry und Bergh), dann Ugo, conte di Parigi“ (altfranzösisches Sujet aus dem neunten Jahrhundert), worin die Pasta mit einer hübschen Allegretto-Cavatine „Là, nel natal mio suolo“ für alle sonstige Langweile entschädigte. Parisina“ verdankte ihre vorübergehenden Erfolge der Caroline Ungher in der Titelrolle; das Sujet (nach Lord Byron) spielt in Ferrara im vierzehnten Jahrhundert. Anna Bolena“ war eine der ersten Donizetti-Opern, die auch auf deutschen Bühnen Eingang gefunden. In Poliuto“ und „L’esule di Roma“ griff Doni zetti wieder nach dem alten Rom zurück. „Der Verwiesene aus Rom“ ist niemand Anderer als der ehemalige Tribun Septimius; als Verbannter hat er einem Löwen den Dorn aus der Tatze gezogen, dafür verschont ihn das dankbare Thier, als es in der Arena gegen Septimius losgelassen wird. Eines gewissen Ansehens erfreute sich die andere römische Oper, „Poliuto“, welche unter dem Titel: „Les Martyrs“ in Paris, als „Römer in Melitone“ auch deutsch im Kärntnerthor-Theater gegeben ward, ohne starken, nach haltigen Erfolg in einer dieser drei Gestalten. Eine Art Uebergang von der unverfälscht Rossini’schen Epoche Doni zetti’s zu seiner von französischen, auch deutschen Elementen berührten letzten Periode bildet seine Oper: „Marino Faliero“ (Text nach dem Drama von Delavigne), die wir noch in einer der letzten italienischen Stagiones in Wien zu hören bekamen. Es ist schwer, wol auch un nöthig, diese Opern dem Leser schärfer zu charakterisiren. Wer eine davon kennt, der kennt sie alle. Erscheinen doch alle Personen mit langsamen, breiten Cantilenen, welche von gebrochenen Dreiklängen begleitet sind und sich von der Tonica zur Dominante bewegen. Nachdem dies Andante ruhig bis auf den letzten Tropfen abgeflossen ist, erdröhnen einige Trompeten-Accorde; der Sänger stutzt einen Augenblick überrascht und wirft sich hierauf beherzt

in ein lustiges Allegro, dessen jederzeit renommistischer An strich durch einen wohlbekannten Hackmesser-Rhythmus im Orchester glänzend gehoben wird. In Terzen und Sexten wird geliebt, verachtet, getanzt und ge storben — Alles ein blaues, laues Meer von Dreiklängen; selig schwimmt der Italiener oben auf; der Deutsche zappelt eine Weile, dann ertrinkt er. Und doch sind diese unsäglich dürftigen, physiognomielosen Arien einst mit Entzücken ge hört und da capo verlangt worden. Um das heute zu be greifen, müssen wir uns die hinreißenden italienischen Stimmen und Talente vergegenwärtigen, welche all diese Opern aus der Taufe gehoben haben. In „Marino Faliero“ sangen die Hauptrollen die Grisi (später Caroline Ungher), Rubini, Tamburini und Lablache — solch ein Künstlerverein braucht sich des Erträglichen nur warm an zunehmen, um es vornehm und liebenswürdig erscheinen zu lassen.

Aus der langen Reihe der rein italienischen ernsten Opern Donizetti’s hat das Festcomité, wie vorauszusehen, die „Lucia di Lammermoor“ herausgehoben. Gewiß die cor recteste Wahl, obwol unsere persönliche Sympathie mehr zu „Lucrezia Borgia“ neigt. Von allen tragischen Opern Donizetti’s hat „Lucia“ in allen Sprachen die größten und anhaltendsten Triumphe gefeiert. In Wien erreichte sie die größte Zahl der Wiederholungen, nämlich gegen 300. Daran reiht sich „Lucrezia“ mit mehr als 200 Aufführungen. Mehr als hundert Vorstellungen erlebten „Linda“, „Belisar“, „Dom Sebastian“, „Der Liebestrank“, „Die Regimentstochter“. Von eminentem Interesse für Wien sind zwei ernste Opern, welche Donizetti als k. k. Kammer-Compositeur für das Kärntnerthor-Theater geschrieben hatte: „Maria di Rohan“ und „Linda di Chamounix“. Beide ver rieten Donizetti’s Achtung vor der traditionellen Gediegen heit deutscher Zuhörer.

Sichtlich bestrebte sich der Maëstro, die bequeme Schablonen-Manier etwas zu vertiefen; die üblichsten und monotonsten Begleitungsfiguren sind seltener gebracht oder doch ausgefüllt, die dramatische Schicklichkeit sorgfältiger ge

wahrt, die Instrumentation fleißiger. In „Maria di Rohanversucht schon die effectvolle Ouvertüre einen höheren Flug; die erste Arie Maria’s und einige Cantilenen Enrico’s bringen glücklich erfundene, dabei charaktervolle Melodien. Allein diese Aufwallungen haben einen sehr kurzen Athem; den schönen Anfängen oder sorgfältigen Einzelheiten folgt alsbald der alte Hackbrettgeist, der ewig lauernde Dämon der Terzen, Sexten und Unisono-Gänge. Musika lisch ist diese „Maria“ so monoton, daß sie durchaus von ganz ungemeinen Kräften getragen sein muß, um nicht langweilig zu werden. Der an sich sehr dankbare Stoff ist Dumas Drama „Un duel sous Richelieu“ entnommen. Aber wie ungeschickt ist hier das effectvolle Material drama tisirt! Bei aller Dürftigkeit ist die Intrigue dennoch un klar; der Autor reiht in ermüdender Folge Arie an Arie und läßt uns nach einem Chorsatz schmachten. Im zweiten Acte steigert sich zwar die dramatische Bewegung, allein ihr Culminationspunkt mahnt an die Situation des Schlußduetts im vierten Acte der „Hugenotten“ mit einer Handgreiflichkeit, welche Dichter und Componist um jeden Preis zu vermeiden hatten. Die 1842 zum erstenmale mit Jubel aufgenommene „Lindaerlebte in Wien dreißig Jahre später (1872) noch ein flüchtiges glänzendes Aufflackern durch Adelina Patti in der Titelrolle. Die Oper hat niemals zu unseren Lieblingen gezählt. Der Gedanke, für ein deutsches Publicum zu schreiben, eiferte den Componisten allerdings zu größerer Sorgfalt an; schon die Ouvertüre (wie jene zu „Maria di Rohan“) hebt sich ansehnlich über die italienische Schablone empor. An vielen Stellen dieser Oper ist das Orchester feiner behandelt als gewöhnlich, desgleichen der dramatische Ausdruck, welcher in Einzelnem, z. B. dem Anfang des Duetts zwischen Linda und ihrem Vater (zweiter Act), eine bemerkenswerthe Prägnanz erreicht. Ueberall hingegen, wo melodiöse In spiration schöpferisch eintreten soll, namentlich in den Liebes scenen, wird die Musik platt und geistlos. Es ist nicht Eine Nummer in der „Linda“, welche an das Sextett oder Edgar’s Sterbescene in „Lucia“, an das Terzett oder Schluß duett im zweiten Acte der „Lucrezia“ hinanreicht. Die größere

Mühe und Sorgfalt entscheidet eben nicht allein. Donizetti’s melodiöse Erfindung war offenbar mit der „Linda“ (1842) schon in das Stadium der Erschöpfung getreten; noch einmal danach folgte ein glänzendes Aufflackern („Don Pasquale“, 1843), dann erlosch die Flamme.

Es war ein naheliegender glücklicher Gedanke, für das Jubiläums-Repertoire auch eine von den auf französischen Text componirten Opern Donizetti’s zu wählen. Man hat den Maëstro ein musikalisches Chamäleon genannt, das wechselnd die Farbe des Landes annimmt, auf dem es sich eben befindet. Von dem starken und günstigen Einfluß fran zösischen Musikgeistes auf „Don Pasquale“ und die „Re gimentstochter“ war bereits die Rede. Unter Donizetti’s ernsten Opern französischer Herkunft konnte nur „La Favorite“ und „Dom Sebastian“ in Frage kommen. Man hat sich in Bergamo mit Recht für die „Favorite“ ent schieden. „Dom Sebastian“, der einzige consequent durch geführte Versuch Donizetti’s im Styl der französischen Großen Oper, bedarf einer sehr großen Bühne und prunk vollen Ausstattung zur scenischen Entfaltung des imposanten Leichenzuges. Hat man doch, boshaft genug, den „Dom Sebastian“ eine prachtvolle Begräbnißfeier mit angehängter Oper genannt. So entschied man sich denn mit Recht für „La Favorite“, trotz der Geringfügigkeit mehrerer ihrer Musikstücke. Obwol Donizetti diese Oper weit mehr im französischen als im italienischen Geschmack componirt hatte, so fand sie doch nur eine kühle Aufnahme. Ueberhaupt hat außer „Don Pasquale“, seltsam genug, keine von Donizetti’s für Paris geschriebenen Opern dort einen entschiedenen und unwider sprochenen Erfolg errungen. Mit Unrecht erklärte die Pariser Kritik die „Favorite“ für eine der mittelmäßigsten Arbeiten des berühmten Maëstro, der sogar für seine Par titur nur schwer und unter ungünstigen Bedingungen einen Verleger fand. Diesmal ereignete sich der in der fran zösischen Theatergeschichte überaus seltene Fall, daß die Pro vinz das Urtheil der Hauptstadt cassirte. Auf allen Pro vinzbühnen mit glänzendem Erfolg gegeben, fand „La Favorite“ erst allmälig eine bessere Aufnahme bei der

Großen Oper, wo sie noch heute eines der beliebtesten Repertoirestücke bildet. Die beiden ersten Acte enthalten viel Mittelmäßiges und Langweiliges, obgleich auch hier die ein leitende Scene zwischen Fernando und dem Großcomthur (dramatisch eine der besten Expositionen, die wir kennen), der Frauenchor und die hübsche Balletmusik günstig hervor stechen. Der dritte Act hebt sich schon zu bedeutenderer Höhe; die Romanze des Königs, noch mehr die Arie Leonorens (eine der hübschesten von Donizetti) und das sehr effectvolle Finale sind von bester Wirkung.

Der vierte Act ist unseres Erachtens geradezu das Beste, was Donizetti je auf dem Gebiet der ernsten Oper geleistet hat. Mit bemerkenswerther Mäßigung, Weichheit und Empfindung schmiegt sich hier die Musik an die er greifende Situation. Ja ein bei Donizetti nirgends sonst vorfindliches eigenthümliches Helldunkel, eine Ahnung mittel alteriger Kloster-Romantik schimmert mild und wohlthuend aus diesen Klängen. Seltsamerweise ist dieser vierte Act eine nachträgliche Ergänzung, gleich manchem anderen be wunderten Musikstück, das man mit innerer Nothwendigkeit aus der Grundidee entsprossen glaubt. Wie Rossini das Schlußgebet des „Moses“ erst für die zweite Vorstellung nachcomponirte, wie Meyerbeer erst während der Proben zu den „Hugenotten“ auf die Idee eines großen Liebes duetts nach der Waffenweihe verfiel, so hat auch Doni zetti diesen vierten Act zu einer dem Renaissance-Theater zugedachten Oper: „L’ange de Nisida“, rasch hinzucom ponirt, um letztere in passender Umgestaltung für die Pariser Große Oper tauglich zu machen. Den Darstellern der Leonore und des Fernando bietet „Die Favoritinbedeutende dramatische Aufgaben; ein Grund mehr, weß halb man diese in Frankreich ununterbrochen gepflegte Oper auch in Deutschland gerne wieder hervorsucht, wenn eine geniale Künstlerin wie Pauline Lucca sich dafür findet.

Donizetti’s Persönlichkeit denken wir uns sympathisch und liebenswürdig, überaus heiter und anregend im Verkehr. So wird er uns übereinstimmend von seinen Zeitgenossen geschildert. Voll Ehrfurcht sprach er von den großen Meistern, mit herzlicher Anerkennung von fremden Leistungen, mit

größter Bescheidenheit von seinen eigenen. Einen anziehen den Beitrag zur Charakteristik des Menschen Donizetti bieten uns mehrere von Herrn v. Eisner zum erstenmal ver öffentlichte Briefe. Herr Angelo v. Eisner-Eisenhof, in unseren besten musikalischen Kreisen als vortrefflicher Sänger bekannt, hat durch die Veranstaltung der Wiener Donizetti-Ausstellung, durch seine Thätigkeit im Festcomité, endlich durch die Publication der Donizetti-Briefe sich große Verdienste um die Jubiläumsfeier gesammelt. Die Briefe dürften vornehmlich in Wien interessiren, denn sie sind an zwei Wiener Freunde des Componisten gerichtet. Die Mittheilungen an den Ober-Regisseur des Kärntner thor-Theaters, Leo Herz, beschränken sich auf kurze sachliche Nachrichten und bühnentechnische Bemerkungen, insbesondere für die Aufführungen von „Linda“, „Maria di Rohan“, „Dom Sebastian“. Anziehender, persönlicher sind die Briefe an August Thomas, den Procuraführer des Bankhauses Arnstein & Eskeles, wo Donizetti den größeren Theil seines Vermögens angelegt hatte. Bedeutende Kunst urtheile möge man da freilich nicht erwarten, auch nicht längere zusammenhängende Erzählungen oder Betrachtungen. Dazu hatte Donizetti niemals Zeit noch Lust. Alles ist in fliegender Hast niedergeschrieben. Doch dringen die Töne herzlicher Freundschaft und naiver, sich an Scherzworten er lustigender Heiterkeit allerwärts hervor. Häufig schreibt der gutgelaunte Maëstro in gereimten Versen, ohne die fort laufenden Prosazeilen zu unterbrechen. Zum Beispiel: „Dove sei Lindovo mio, ... in qualdido tu re spiri ... per tornar ti tiri e tiri, ma che fotta è questa qua! Non capisco perchè mai, non retiri da Mecchetti, sui fiorini Donizetti, tutto quel che può servir! Questo è proprio tutto dir.“ Mitunter purzeln französische und italienische Sätze bunt durcheinander, sogar recht drollig etliche deutsche Worte.

Noch eine zweite literarische Spende wird den Gästen in Bergamo geboten: eine mit zahlreichen Abbildungen, Autographen, biographischen Aufsätzen und lyrischen Bei trägen geschmückte Festschrift, deren Reichhaltigkeit und vornehme typographische Ausstattung allen ähnlichen Veran staltungen zum Muster dienen darf.