Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11899. Wien, Donnerstag, den 7. October 1897 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11899. Wien, Donnerstag, den 7. October 1897 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 07.10.1897
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Theater an der Wien. („Die Bohème.“ Oper (nach H. Murger) von Giacosa und Illica. Deutsch von L. Hartmann. Musik von G. Puccini.)

Ed. H. Wir können nicht ohneweiters an dem Titel vorbei. Dieser zum mindesten muß allgemein verständlich sein. Den Pariser Localausdruck La Bohème für eine Classe leichtlebiger, unsteter Künstler und Literaten einfach mit „Die Bohème“ übersetzen, ist mehr bequem als zweckmäßig oder geschmackvoll. Im Verlaufe der ganzen Oper wird das Wort „Bohème“ oder „Bohémien“ nicht ausgesprochen, geschweige denn erklärt. Aus einer weit zurückdatirenden Verwechslung von Zigeunern und Böhmen herstammend, deckt das franzö sische Wort in seinem heutigen übertragenen Sinn sich mit keinem deutschen. Es muß geschickt umschrieben werden; dazu ist man Uebersetzer. Kein deutscher Bearbeiter ließ sich bei fallen, Meilhac und Halévy’s Lustspiel „Le réveillon“ (das auch der Strauß’schen „Fledermaus“ zu Grunde liegt) mit „Der Réveillon“ wiederzugeben. Der Titel von Maillard’s beliebter Oper „Les dragons de Villars“ läßt sich wörtlich übersetzen, nicht aber vom deutschen Publicum verlangen, daß es wisse, wer Villars und seine Dragoner gewesen. Man hat darum die Oper weislich in „Das Glöckchen des Eremiten“ umgetauft. Wenn Berliner Kritiker berichten, daß sie vor der Aufführung der Oper von sehr gebildeten Leuten gefragt worden, was eine „Bohème“ sei, so hat in Wien gewiß das Gleiche sich zugetragen.

Im Theater an der Wien hatten wir also die „Bohème“. Und zwar die von Puccini, wie wir gleich beisetzen müssen. Denn fast gleichzeitig mit diesem Componisten hat auch Leoncavallo sich auf den alten Roman von Murger wie auf eine kostbare Beute gestürzt, und die beiden Com ponisten, hinter ihnen ihre Verleger Sonzogno und Riccordi, kämpfen um den Sieg. Ein halb Jahrhundert ist es her, daß Murger’s „Scènes de la vie de Bohème“ erschienen sind, ein geistreiches, lebendiges Sittenbild aus den niederen Pariser Künstlerkreisen der Dreißiger-Jahre. So lange ist es keinem Tondichter eingefallen, darin einen würdigen Opern text zu erblicken. Man hatte doch noch etwas idealere Be

griffe von der Oper. Für die Comödie mochten sich diese überwiegend dialogisch geführten „Scenen“ immerhin besser eignen, trotz ihrer sehr dürftigen Handlung. Murger hat auch wirklich mit Theodor Barrière ein Schauspiel daraus gemacht, das im Théâtre des Variétés eine zeitlang gefiel, aber nicht über Paris hinausgekommen ist. Nun ereignete sich etwas überraschend Seltsames. Das Auf sehen, das die beiden rivalisirenden Opern von Puccini und Leoncavallo hervorriefen, lenkte die Aufmerksamkeit der Pariser wieder auf jenes halbverschollene Stück; das sonst so wählerische Théâtre Français brachte es im September dieses Jahres zur Aufführung. Es errang einen hübschen Erfolg, den allerdings die Journale mehr der vortrefflichen Darstellung als dem etwas veralteten Drama zuschreiben.

Daß jetzt gerade die Componisten sich mit solchem Eifer dieses Stückes bemächtigen, charakterisirt den Zeitgeschmack, welcher auch in der Oper dem Verismo, dem rücksichtslosen Realismus huldigt. Die wenigen älteren Opern, welche Liebeleien zwischen leichtfertigen Courtisanen und schwächlichen Jünglingen ernsthaft behandeln („Traviata“, „Carmen“, zuletzt „Manon“), haben sie wenigstens in malerische natio nale oder historische Tracht gekleidet, in eine romantische Umgebung versetzt und damit aus den niedrigsten Regionen der Alltagsmisère emporgehoben. Mit der „Bohème“ voll ziehen unsere Componisten den letzten Schritt zur nackten prosaischen Liederlichkeit unserer Tage; die Helden in groß carrirten Beinkleidern, schreienden Cravaten und zerknüllten Filzhütten, den Cigarrenstummel im Mund, ihre Gefährtin nen in Häubchen und ärmlichen Umhängtüchern. Das ist neu im lyrischen Drama, ein sensationeller Bruch mit den letzten romantischen und malerischen Traditionen der Oper. Deßhalb der athemlose Wetteifer zweier bereits namhafter Tondichter nach diesem noch unversuchten pikanten Lock mittel. Die gleichzeitige Bearbeitung desselben Operntextes ist ein Mißgeschick für den einen oder den andern Com ponisten. Nur in den ersten Lehr- und Wanderjahren der Oper, da alle Tondichter dasselbe enge Gebiet der classisch heroischen oder mythologischen Stoffe bearbeiteten und es fast so viele Medeen, Iphigenien und Ariadnen gab als Componisten, konnten die verschiedensten Compositionen des

nämlichen Sujets sich auf denselben Bühnen neben ein ander vertragen und behaupten. Das rein musikalische Interesse an der Oper war eben ein weit überwiegendes, um nicht zu sagen ausschließliches. In dem Maße, als die dramatische Charakteristik in den Vordergrund trat, das Stoffgebiet der Oper sich ungemein erweiterte, die dramatische Musik sich individualisirte, wurden wir gewöhnt, einen bestimmten Operntext mit einer bestimmten Musik zu identi ficiren, beide als ein untrennbar Zusammengehöriges auf zufassen. Das ist heute unser Standpunkt und dürfte es vernünftigerweise bleiben. Puccini scheint anderer Ansicht, denn er hat auch „Manon Lescaut“ componirt, trotz der noch unerschütterten Herrschaft von Massenet’s Oper. In Deutschland lehrt die Erfahrung, daß heute zwei Composi tionen desselben Opernstoffes sich neben einander nicht be haupten können. Rubinstein’s „Feramors“ wurde — nicht blos von Dingelstedt in Wien — überall zurückgewiesen, wo Félicien David’s „Lalla Rockh“, florirte, ebenso wie Auber’sMaskenball“ allerorten vor Verdi’s gleichnami ger Oper verschwand. Und zwar ganz von selbst, wie durch eine Naturnothwendigkeit. Die Wichtigkeit, welche man jetzt dem dramatischen Theil der Oper neben oder selbst vor dem rein musikalischen einräumt, erklärt diese Wendung. Für den Kritiker und musikalischen Gourmand wäre es von aus erlesenem Reiz, beide in ihrem Libretto fast identische Opern von Puccini und Leoncavallo miteinander zu vergleichen: das Publicum dürfte aber kaum nach der zweiten verlangen, so lange ihm die erste gefällt. Bekanntlich soll Leoncavallo’s Bohème“ im Hofoperntheater bald nachfolgen. Ihr Schicksal wird nicht blos von ihrem eigenen Werth, sondern ebenso sehr von dem Werth und Glück ihrer schnellfüßigen Rivalin, der „BohèmePuccini’s, abhängen.

Letztere Oper erschien im Theater an der Wien, un mittelbar nachdem dort die gefeierte Franceschina Prevosti sechsmal nacheinander die Traviata gesungen. Das Husten der sterbenden Violetta nistete uns noch peinlich im Ohr, als auf derselben Bühne Puccini’s Mimi sich todt zu husten begann. Der erste Act der „Bohème“ beginnt noch leidlich heiter in dem Dachstübchen, das der Maler Marcell mit dem Poeten Rudolph theilt. Es ist Winterszeit, und die

beiden Freunde frieren in dem kalten Zimmerchen, welches der Dichter schließlich mit seinem neuesten Trauerspiel heizt. Da bringt der Dritte im Bund der Kunstzigeuner, der Componist Schaunard, einige Fünf-Francsstücke, mit denen sie Alle im Café Momus sich gütlich thun wollen. Vorher werden sie noch von ihrem Hausherrn, Mr. Bernard, aufgehalten; er fordert den rückständigen Miethzins. Die Freunde, zu denen sich noch als Vierter der Philosoph Collin gesellt hat, hänseln Herrn Bernard mit allerhand witzlosen Anzüglich keiten, machen ihn halb betrunken und schieben ihn endlich zur Thür hinaus. Drei von den Freunden begeben sich nun ins Kaffeehaus, während Rudolph noch einen Journalartikel beenden will. Da klopft es an seiner Thür; die junge hübsche Nachbarin Mimi bittet, ihre vom Zugwind aus geblasene Kerze bei ihm anzünden zu dürfen. Auch seine Kerze erlischt, und im Dunkel finden sich ihre Hände, ihre Lippen. Nach einer kurzen Liebeserklärung läßt sich Mimi von Rudolph ins Café Momus führen. Dort treffen sie, zu Anfang des zweiten Actes, die Freunde, umschwirrt von Kaffeehausgästen, Ausrufern und Verkäufern. Die zweite Heldin des Stückes, die schöne eitle Musette, erscheint am Arm eines reichen Gecken. Sie weiß ihn bald listig zu entfernen, um ihrem früheren, zeitweilig immer neu zu Gnaden auf genommenen Geliebten Marcell um den Hals zu fallen. Unter den grellen Klängen einer vorbeiziehenden Musikbande und dem Gejohle der Straßenjugend fällt der Vorhang. Der dritte Act spielt vor einer ärmlichen Kneipe an der Linie, bei Morgengrauen. Mimi schleicht fröstelnd heran und erlauscht hinter einem Verstecke, wie ihr geliebter Ru dolph zu Marcell die Absicht äußert, sich von ihr zu trennen, da Mimi, unrettbar lungenkrank, dem Tode verfallen sei. Weinend nimmt sie von Rudolph Abschied, während gleich zeitig eine heftige Zank- und Entzweiungsscene zwischen Musette und Marcell sich abspielt. Der Vorhang hebt sich zum vierten- und letztenmale über dem bekannten Dach stübchen, in welchem Marcell vor der Staffelei, Rudolph am Schreibtische sitzt. Beide sind unfähig, zu arbeiten; ihre Gedanken weilen ferne bei Mimi und Musette, welche in zwischen reichere Verehrer eingetauscht haben. Collin und Schaunard bringen nun ein höchst frugales Abendmal herbei, das die Freunde mit widerwärtigem Galgenhumor und schließlich mit einer improvisirten tollen Quadrille würzen.

Da stürzt atemlos Musette herein mit der Meldung, Mimi sei todtkrank auf der Treppe hingesunken. Man trägt die Arme herein und legt sie auf das Bett, wo sie, von Rudolph zärtlich Abschied nehmend, verscheidet. Ein langes peinliches Sterben, recht grausam ausgedehnt und ausge stattet mit allem pathologischen Jammer. Dazu noch die nackte Armuth und Hilflosigkeit dieser das Sterbelager um stehenden Kunstproletarier. Daß unmittelbar an ihre possen hafte Quadrille der Todeskampf Mimi’s sich anschließt, ist bezeichnend für das Textbuch, welches hauptsächlich durch enges Aneinanderrücken der grellsten Contraste wirkt. Hat eine Scene mit ihrer brutalen Lustigkeit uns ins Gesicht geschlagen, so bohrt die folgende mit ihren Seelenqualen und Todesschauern sich langsam schmerzhaft in unser Herz. Finden die Zuschauer wirklich Freude und Erhebung in Opern dieses Schlages, um so besser für sie und den Theater- Director. Ich habe dafür nicht die leiseste Regung von Dankbarkeit.

Die Musik spielt in dieser Oper eigentlich eine secundäre Rolle, mag sie an einzelnen Stellen auch noch so anspruchsvoll und lärmend vordrängen. Liest man vor der Aufführung die vier bis fünf ersten Seiten des enggedruckten Textbuches, so zweifelt man, ob das wirklich ein Opernlibretto und nicht vielmehr eine Comödie sei. Dieser unersättlich ge schwätzige Dialog, der sich witzlos, gemüthlos um die aller gewöhnlichsten Dinge dreht — der soll Musik hervorlocken, soll einen Tondichter begeistern? Unmöglich kann die Musik hier als gleichberechtigte, selbstständig formende Kunst wirken; nur als Untermalung, Grundirung alltäglicher Conver sation. Also die vorletzte Stufe der im Herabsteigen begrif fenen Musik; die nächste, letzte ist das unverhüllte Melodram. Eigentlich vernehmen wir schon in der Bohème“ weniger ein Singen als ein Sprechen dieser Personen über charakteristischen Orchesterklängen. Oben drein bei dem raschen Tempo so enormer Wortmassen ein undeutliches, unverständliches Sprechen. Sehr begreif lich, daß bei dieser Ueberfluthung mit redseligem Dialog ganze Seiten der Partitur — um ein Wort aus der Akustik zu entlehnen — aus lauter „todten Punkten“ be stehen müssen und auch wirklich bestehen. Aus diesen todten Punkten befreien sich von Zeit zu Zeit flüchtige melodische Gedanken, es beginnt mitten im Sprechgesang zu klingen

und zu singen — aber wie lange dauert das? Solche Oasen, wo sich die Empfindung concentrirt, die Melodie Gestalt annimmt und sich ausbreitet, finden sich noch am reinsten und häufigsten in der Rolle der Mimi. Im Ganzen ist die melodische Erfindung äußerst gering. Reichlicher in der Partitur verstreut blinkt allerlei feines instrumentales Detail und geistreich anspielender Witz. Diese das musikalische Schaffen und Gestalten beinahe verdrän genden Reizmittel gehören ja ganz eigentlich unserer neuesten Schule an, sogar der neuesten italienischen. Was Puccini gänzlich fehlt, ist eine Eigenschaft, die uns Murger’s Schilderungen so anziehend macht: der Humor. Die Scenen in Marcell’s Dachstube zu Anfang des ersten wie des vierten Actes sind trocken, gequält und langweilig, trotz oder wegen der großen Anstrengung des Componisten, humoristisch zu sein. Dasselbe gilt vom zweiten Acte, der zur Illustration des fröhlichen Pariser Straßenlebens un zählige bunte Effecte aneinanderreiht, ohne einen wirklichen Effect zu erreichen. Alles zersplittert sich in kleinste Stücke und Stückchen; die überschauende und zusammenfassende Kraft, ohne welche es in der Musik keine echte Wirkung gibt, fehlt gänzlich. Die Musik vor dem Café Momus ist trotz Militärmusik, Glöckchenspiel, Holz- und Strohharmonika und sonstigen Spectakels nicht heiter und lebensfroh, sondern nur wirr und lärmend. Mit einem Gesangswalzer (selbst mit einem „langsamen“) wie der Musettens in E-dur darf man sich gerade in Wien nicht sehen lassen. War dieser zweite Act trivial und langweilig, so ist der dritte sentimental und langweilig. Die erste Scene (Zollwächter und Marktleute an der Bar rière) steht nicht im geringsten Zusammenhange mit den folgenden. Unwillkürlich denkt man an die analoge Scene gleichfalls an der Pariser Barrière in Cherubini’s Wasserträger“, welche so spannend die ganze Entwicklung des Dramas vorbereitet. Auf einige zart empfundene, nur durch allzu heftige Aufschreie und derbe Unisonsschlüsse verunzierte Stellen zwischen Mimi und Rudolph folgt nun das Schlußquartett. Es mußte den Componisten reizen, den sentimentalen Abschied Mimi’s mit Rudolph mit dem hitzigen Zankduett zwischen Musette und Marcell zu Einem harmonischen Musikstück zu vereinigen. Will man an einem Gegenstück ermessen, wie wenig Puccini das verstanden hat,

so vergleiche man damit das Quartett am Schluß von Rigoletto“. Wie geistreich und ungezwungen stellt hier Verdi die beiden scherzenden Stimmen den schmerzlich klagenden gegenüber; wie formschön und klangvoll vereinigt er sie zu musikalischer Einheit! Bei Puccini sondern sich die beiden Hälften des Quartetts wie Oel vom Wasser; man könnte jede von ihnen streichen, ohne daß die andere wesentlich dadurch verlieren oder gewinnen würde.

Wie schnell hat doch der junge Mascagni Schule gemacht! Speciell mit seinen rhythmischen und harmoni schen Bizzarerien, der melodischen Unnatur und Willkür. Von Mascagni rührt der in „La Bohème“, herrschende fortwährende Tactwechsel, das unvermittelte Moduliren oder, richtiger, Hineinspringen in die entferntesten Tonarten und die fast kindische Ueberfüllung mit Vortragsnuancen. In einer Cantilene der Mimi von nur sechzehn Tacten finden wir folgende Anweisungen: Agitando appena, rallentando, allargendo, calmo, con molto anima, con grande espansione, con expressione intensa etc. Die Grundempfindung des Ganzen, unaufhörlich zerrissen, zer flattert dergestalt in lauter nervösen Details. Aber kein Componist wird den ihm fehlenden langen Athem durch lauter Stoßseufzer und Schluchzer ersetzen können. Ein neuer Effect Mascagni’s, der offenbar die neidvolle Bewunderung unserer jüngsten Mascagniden erregt hat, findet sich gleich in dem Vorspiele zum „Amico Fritz“, wo bekanntlich ganze Reihen peinlich dissonirender Accorde auf den Hörer los stechen. Das ist aber nur ein leichter Scherz gegen die har monischen Scheußlichkeiten bei Puccini. Da erheben sich in den verschiedensten Scenen Colonnen auf- und niedersteigen der paralleler Quinten von so aufdringlicher Häßlichkeit — am liebsten „marcatissimo“, von Trompeten geblasen! — daß man sich vergebens fragt, was denn der Componist mit diesen ungezogenen Scheusälchen bezwecken mochte? Der Text bietet dafür nicht die entfernteste Motivirung, denn mit diesen gräßlichen Quinten-Spießruthen behandelt Puccini gleichmäßig die Conversation der Freunde im Atelier, die Volksscene vor dem Kaffeehause, sogar die Manipulation der Zollwächter an der Linie. Für einen „witzigen“ Protest gegen die Harmonielehre unserer großen Meister können wir diese raffinirte Züchtung des Häßlichen doch unmöglich halten; sie ist nichts weiter, als eine rohe musikalische Be

leidigung. Die unmotivirte Anwendung des Häßlichen, blos weil es häßlich ist, sowie die anmaßende Vorherrschaft des banalsten Dialoges sind eine Consequenz des nunmehr auch in die Oper eingedrungenen nackten Realismus. Die Kritik bleibt ohnmächtig gegen solche Strömungen. Sie dürften eine zeitlang fortdauern, wol auch noch anschwellen, und so werden wir nicht sonderlich erstaunen; eines Tages Die Unehrlichen“ von Rovetta, „Die Erziehung zur Ehevon Hartleben und ähnliche modernste Stücke unverändert unter Musik gesetzt zu sehen. Je prosaischer, je realistischer, je unsauberer, desto besser. Die Musik ist heute auf das Alles bestens eingerichtet.

Der Erfolg der neuen Oper war, wie bereits gemeldet, ein glänzender. Mit lautem Applaus, wiederholtem Hervor ruf und reichen Blumenspenden ehrte das Publicum die Hauptdarsteller und den Componisten Herrn Puccini, der auch durch sein liebenswürdiges und bescheidenes Wesen die Wiener für sich eingenommen hat. Eine überaus an ziehende Bekanntschaft war uns die Sängerin Madame Francès Saville, welche die Rolle der Mimi mit sympathischer, trefflich geschulter Stimme, inniger Empfin dung und großem schauspielerischen Talente gab. In Amerika geboren, von unserer berühmten Meisterin Frau Marchesi ausgebildet, hat die anmuthige Künstlerin bereits in Rußland, Belgien und England Triumphe ge feiert, zuletzt auch an der Opéra Comique in Paris. Ihre Leistung als Mimi ist um so höher anzuschlagen, als Madame Saville hier zum erstenmale in deutscher Sprache gesungen hat. Sie fand einen vortrefflichen Partner in dem Tenoristen Herrn Naval von der Berliner Hofoper. Dieser ausgezeichnete Sänger und Schauspieler ist dem Wiener Publicum kein Fremder mehr; wir haben also blos zu constatiren, daß Rudolph zu seinen besten Rollen gehört. Verdienten Beifall haben Fräulein Frey, die gewandte, graziöse Darstellerin der Musette, und Herr Walter als Maler Marcell gefunden. Kleinere, mehr schauspielerisch als gesanglich wichtige Partien waren in den Händen der Herren Josephi, Alexy, Wallner und Pohl geborgen. Ein großes Verdienst um die mit großen Schwierigkeiten verbundene scenische und musikalische Ge staltung dieser Oper haben Frau Director Schönerer und Herr Capellmeister Adolph Müller.