Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11926. Wien, Donnerstag, den 4. November 1897 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11926. Wien, Donnerstag, den 4. November 1897 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 04.11.1897
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Zur Erinnerung an Felix Mendelssohn-Bartholdy.

Ed. H. Genau ein halbes Jahrhundert schließt sich heute nach Mendelssohn’s Tod. Nach ganz kurzer, anfangs nicht gefahrdrohender Krankheit war Mendelssohn am Abend des 4. November 1847 in Leipzig gestorben. Auf der Höhe seiner Schaffenskraft und seines Ruhmes, erst 38 Jahre alt. Unvergeßlich bleibt mir der Tag, welcher die Trauer kunde nach Wien brachte. Wie ein Blitzschlag traf sie hier alle Freunde ernster Musik. Diese Gemeinde war damals beiweitem kleiner als heute, aber sie hing, wie fast alle Minoritäten, um so fester zusammen in ihren idealen Be strebungen. Musiker und Musikfreunde, die einander kaum kannten, theilten auf der Straße sich die Unglücksbotschaft mit, um den eigenen Schmerz an dem Mitgefühle Gleich gestimmter zu mildern. Es gab keinen Streit darüber: die musikalische Kirche hatte ihr sichtbares Oberhaupt verloren. Privatbriefe aus Leipzig über Mendelssohn’s Krankheit und Sterben gingen von Hand zu Hand. Ich entsinne mich namentlich eines Briefes von Moscheles, der am Todtenbette des Freundes gestanden und in ergreifenden Worten dessen letzte Augenblicke schilderte. Er hat, so hieß es darin, einen ganz sanften Tod gehabt. Man war schon Tags vorher auf die Katastrophe gefaßt. Straße, Hausflur, Treppe und Vor saal standen voll Menschen, die laut weinten; in seinem Zimmer viele Aerzte und Freunde, sein Bruder und seine Frau, die fortwährend ruhig an seinem Bett gekniet hat, ihm die Stirne küssend. Nachdem er den letzten Athemzug gethan, hat die Frau gebetet und ist gefaßt hinausgegangen zu ihren fünf Kindern. Man kannte keine glücklichere Ehe, als die Mendelssohn’s, und keine vortrefflichere Frau. Am 4. November sollte das Abonnements-Concert im Gewand haus stattfinden. Die Musiker erklärten schon Tags vorher, daß sie nicht spielen könnten, um keinen Preis der Welt. Sie standen alle unten im Hof. Am 7. November beging Leipzig eine würdige Todtenfeier in der Paulinerkirche. Dem pomphaften Begräbniß folgten alle Behörden und

Honoratioren sowie Tausende von Leidtragenden. Das Leichen tuch trugen Robert Schumann, Gade, Moscheles, Ferdinand David, Moriz Hauptmann und Rietz. Sie Alle sind dem Meister bereits nachgefolgt.

In Wien war die Bestürzung um so größer, als man unmittelbar vor der ersten Aufführung des Oratoriums Elias“ stand, welche am 7. November Mendelssohn diri giren sollte. Wie lange hatten seine Verehrer sich darauf gefreut, dem Meister einen glänzenden Triumph zu bereiten! Die Aufführung des „Elias“ fand am 14. November, Mittags, in der kaiserlichen Winterreitschule unter Mitwirkung von 1000 Musikern statt. Alle Solosänger — die Damen Aigner, Mayer, Betty Bury, E. Schwarz, die Herren Staudigl, Lutz, Ausim und Salamon — erschienen in tiefe Trauer gekleidet; die Chorsängerinnen weiß mit schwarzer Schleife an den Schultern. Das Pult, an welchem Mendels sohn sein Werk dirigiren sollte, war mit schwarzem Tuch behangen, darauf eine Notenrolle und ein Lorbeerkranz; den Tactstab führte J. B. Schmiedl an einem andern Pult. Die Tragödin Amalie Weißbach sprach einen von L. A. Frankl gedichteten Prolog, in welchem die allgemeine Trauer be redten Ausdruck fand. Das Werk machte unter so außer ordentlichen Verhältnissen natürlich einen tiefen Eindruck auf die Hörer. Von nachhaltiger Wirkung war es jedoch nicht; „Elias“ mußte elf Jahre warten bis zu seiner zweiten vollständigen Aufführung in Wien. Immerhin bleibt Wien der Ruhm, die erste Aufführung des „Elias“ auf dem Continent ins Werk gesetzt zu haben. Nur England war, auf dem Musikfest zu Birmingham, um einige Monate vorangegangen. So erschien denn halbwegs getilgt, was die Wiener Concert institute vordem an Mendelssohn verschuldet hatten. War doch die erste vollständige Aufführung des „Paulus“ in Wien erst im Jahre 1839 durchgesetzt worden, nachdem dieses Meisterwerk bereits in England und Amerika, ja in vielen kleinen deutschen Städten einen epochemachenden Er folg errungen hatte. Die bequeme Indolenz unserer Dilet tantenvereine, ihre Abneigung gegen norddeutsche Com ponisten, endlich die Scheu vor größeren Auslagen trugen die Schuld, daß Mendelssohn’s bedeutendste Schöpfun

gen so spät den Wienern bekannt geworden. Die Gesellschaftsconcerte brachten die „Walpurgisnacht“ erst 1845, „Athalia1849; die A-moll-Symphonie gar erst im Jahre 1851 und die Musik zum „Sommernachtstraum1852! Drei Wiener Musikfreunden, dem Hofrathe Vesque v. Püttlingen, Dr. Leopold v. Sonnleithner und F. Klemm, sei es unvergessen, daß sie die erste Auf führung des „Paulus“ auf eigene Kosten veranlaßt haben — freilich nur im kleinen Saal und mit sehr mäßiger Besetzung. Durch Mendelssohn’s Freund, den Hof opernsänger Franz Hauser in Wien, suchte damals die „Gesellschaft der Musikfreunde“ den Componisten zur persön lichen Leitung des „Paulus“ zu bewegen. Mendelssohn war anfangs geneigt, zu kommen, fühlte sich aber durch das wenig rücksichtsvolle Benehmen der „Gesellschaft“ bald zum entgegengesetzten Entschluß veranlaßt. So ist das Wiener Publicum leider nie dazu gelangt, persönliche Fühlung mit Mendelssohn zu gewinnen. Trotzdem blieb dieser nicht ganz ohne Beziehungen zu Wien. Sein Briefwechsel mit zwei Wiener Freunden — Franz Hauser und Alois Fuchsden theilweise zu veröffentlichen mir vergönnt war, gibt interessante Aufschlüsse darüber. „Suite“, Aufsätze über Musik und Musiker. — „Deutsche Rundschau1889. Erstes Heft.

Franz Hauser, der nachmalige Director des Münchener Conservatoriums (geboren 1794 in Krassowitz bei Prag), war in den Dreißiger-Jahren einer der hervorragendsten Sänger am Kärntnerthor-Theater, wo er erste Baritonpartien sowol in den deutschen als auch in den italienischen Vorstellungen sang. Sein Bündniß mit Mendelssohn gehört zu den an ziehendsten, rührendsten Freundschaftsverhältnissen zwischen Künstlern. Auf der Reise nach Italien1830 verweilt Mendelssohn eine zeitlang in Wien und wohnt bei Hauser, in der „Bärenmühle“ auf der Neuen Wieden. Der Auf enthalt ist ihm unvergeßlich und er kommt in vielen Briefen voll Dankbarkeit darauf zurück. Aus Rom erinnert er ihn daran, wie er an Hauser’s Clavier eine Stelle aus Goethe’s Erster Walpurgisnacht componirt habe, woraus sich ihm allmälig die ganze herrliche Cantate entwickelte. Gegen Preisausschreibungen hegte Mendelssohn einen eingefleischten

Widerwillen. „In Wien,“ schreibt er 1835 an Hauser, „haben sie für die beste Symphonie einen Preis von 50 Ducaten ausgesetzt, und Seyfried, Umlauf, Kreutzer und Consorten sollen’s entscheiden, lauter Kerls, die keine Symphonie zusammenbringen können, und wenn sie sich drei Jahre kasteiten. Wäre es ein Comité von den besten Componisten der Welt, so möcht’ ich doch auch um keinen Preis concurriren; der bloße Gedanke, daß ich eine Preismusik componirte, machte mich so unmusikalisch, wie Umlauf und Seyfried zusammengenommen.“ In seinen letzten Briefen tritt Mendelssohn’s Wunsch, die Kaiserstadt wieder zu sehen, immer bestimmter auf. „Wahrhaftig, ich muß einmal nach Wien,“ schreibt er im Mai 1846 an Hauser, „ich höre doch gar zu viel rechts und links davon erzählen, und ihr Alle sagt mir so viel Freundliches über meine Musik und so viel Außerordentliches über ihre Aus führung dort, daß mir der Mund sehr wässerig wird. Vielleicht bring’ ich den „Elias“, wenn er ganz neu ist, so gegen den Winter, oder ich warte, bis ich einen Opern stoff gefunden und componirt habe und bis die Jenny Lind wieder einmal da ist — und das Letztere wäre mir das Liebste — aber auf irgend eine Art hoffe ich mir doch eure Kaiserstadt einmal selbst anzusehen, und dann gehe ich zuerst nicht nach dem Stephansthurm, auch nicht zum Sperl, sondern in die Bärenmühle.“ Es war ihm, war uns nicht beschieden. —

Mendelssohn’s Correspondenz mit dem Hofkriegsraths- Beamten Alois Fuchs beruhte nicht sowol auf innigem Freundschaftsbedürfnisse, als auf einem äußeren Motiv. Fuchs († 1853) war bekanntlich ein kenntnißreicher, un ermüdlicher Sammler von musikalischen Autographen und Porträts. Während seines Wiener Aufenthaltes im Sommer 1830 hatte Mendelssohn mit lebhaftestem Interesse die Fuchs’sche Sammlung besichtigt und sich erboten, dafür nach Kräften thätig zu sein. Er sendet ihm auf seinen Reisen werthvolle Handschriften und Porträts aus Italien, Frank reich und Deutschland; jeder Brief ein Document von Mendelssohn’s unerschöpflicher Liebenswürdigkeit. Die Fuchs’sche Autographen-Sammlung bleibt das oberste Leitmotiv dieser

durch vierzehn Jahre fortlaufenden Correspondenz. Aber nicht das einzige. Mit lebhaftestem Eifer erkundigt sich Mendels sohn, was an den neuen Beethoven’schen Sachen, von denen man so viel spricht, Wahres oder Unwahres ist? Er hat von einer nachgelassenen zehnten Symphonie gehört, dann von einer dritten Ouvertüre zu „Fidelio“; Fuchs möchte um irgend einen Preis ihm womöglich eine Abschrift davon besorgen. Daß man noch im Jahre 1835 an eine nachgelassene zehnte Sym phonie von Beethoven geglaubt hat, klingt heute seltsam genug. Von den Ouvertüren zu „Leonore“ (Fidelio) kannte Mendelssohn zur Zeit nur zwei: die in C-dur mit dem Trompetensolo (jetzt als Nr. 3 bekannt) und die vierte in E-dur. Mit seiner Verehrung der Classiker geht bei Mendels sohn stets Hand in Hand das lebhafteste Interesse für neue Schöpfungen. Er wünscht durch Fuchs die Orchesterstimmen zu Lachner’s in Wien preisgekrönter E-moll-Symphonie noch im Laufe der Leipziger Concertsaison zu erhalten. Da hatte sie auch das Glück, von Mendelssohn dirigirt — und das Mißgeschick, von Schumann unbarmherzig kritisirt zu werden. Endlich kommt auch einmal die Reihe an Mendels sohn „als Supplicant mit aufgehobenen Händen“ zu er scheinen. Fuchs möge ihm einen neuen Flügel von Conrad Graf aussuchen und nach Berlin schicken. Das Instrument — „eines der besten“ — soll Alles in Allem nicht über 300 Gulden kosten! Wie sind seitdem die Preise der besten Wiener Pianos in die Höhe gegangen! Noch einen zweiten Graf’schen Flügel bestellt er für sich nach Düsseldorf und einen dritten als Hochzeitsgeschenk für seinen Bruder.

In seinen zahlreichen Briefen an Moscheles, F. David, Hiller und Andere erhebt Mendelssohn häufig die Selbst anklage, er sei ein nachlässiger, fauler Briefschreiber. Wir staunen im Gegentheil über die große Menge von ausführ lichen inhaltreichen Briefen, die von ihm gedruckt vorliegen. Unbegreiflich wie die Fülle von Tondichtungen, welche Mendelssohn in so kurzer Lebensdauer schuf, ist uns neben seiner angestrengten Thätigkeit als Componist, Dirigent, Lehrer, Virtuose, Organisator die Reichhaltigkeit seiner Correspondenz. Und in all den zahlreichen Briefen von ihm an die verschiedensten Menschen, aus den wechselndsten Lebens

lagen — immer dieselbe unzerstörbare Liebenswürdigkeit, dieselbe goldene Natürlichkeit und Anmuth, derselbe von dem blühendsten Humor umrankte Ernst!

Heute, da zum fünfzigstenmale sein Todestag sich jährt, kehrt unser Denken und Empfinden mit erhöhter Kraft zu Mendelssohn zurück. Nur diesem Gefühle und persönlicher Erinnerung gilt dieses Blatt; für eine kritische Würdigung seiner Werke bietet es weder Raum noch Anlaß. Manche Blumen und Sträucher aus seinem üppigen Garten mögen an den Spitzen zu welken beginnen — welcher Componist entginge nach so langen Jahren diesem Schicksal? Das ehe dem heißhungrige Genießen Mendelssohn’scher Musik hat im Laufe von 70 Jahren Zeit gehabt, sich zu beruhigen, seit der 16jährige Felix seine wundervolle Ouvertüre zum Sommernachtstraum“ schrieb. Auch sind andere jüngere Com ponisten von glänzendem Talent ihm nachgefolgt und haben ihn theilweise aus dem öffentlichen Musikleben zurückgedrängt. Seine „Walpurgisnacht“, seine Symphonien in A-dur und A-moll (Werke eines zweiundzwanzigjährigen Jünglings!), seine Concert-Ouvertüren, endlich sein „Paulus“ und „Eliaswirken trotzdem noch mit unversehrter Frische und Macht. „Ewig“ ist ein leeres Wort für musikalische Schöpfungen — aber auf sehr, sehr lange hinaus werden sie alle Freunde edler, ernster Kunst erquicken und erheben. In neuerer Zeit haben auch Elemente von Außen her sich gegen Mendelssohn gekehrt: die in Haß und Ueberhebung vereinigten Wagnerianer und Antisemiten. Gönnen wir ihnen das traurige Geschäft.

Was uns Mendelssohn so verehrungswürdig und liebenswerth macht, ist, neben seiner Kunst, sein persönlicher Charakter. Ich darf hier ein meines Wissens noch nirgends veröffentlichtes Schriftstück mittheilen, aus welchem eine der schönsten Seiten von Mendelssohn’s Charakter hell hervorleuchtet. Es ist ein Brief Mendelssohn’s an Herrn Hermann Wittgenstein, in dessen Wiener Familie Musikliebe und Musikverständniß fröhlich fortleben. Das Schreiben handelt von dem zwölfjährigen Joseph Joachim. Seine Tante, Frau Wittgenstein, hatte den Knaben nach Leipzig zu Mendelssohn gebracht und seine musikalische Ausbildung liebevoll gefördert. Mendelssohn

schreibt aus London, 28. Mai 1844, an Herrn Wittgen stein folgenden Bericht über das erste dortige Concert des jungen Virtuosen:

„Verehrter Herr! Ich kann’s nicht unterlassen, wenig stens mit einigen Worten Ihnen zu sagen, welch einen unerhörten, beispiellosen Erfolg unser lieber Joseph gestern Abends im Philharmonischen Concert durch seinen Vortrag des Beethoven’schen Violin-Concertes gehabt hat. Ein Jubel des ganzen Publicums, eine einstimmige Liebe und Hoch achtung aller Musiker, eine herzliche Zuneigung von Allen, die an der Musik aufrichtig theilnehmen und die schönsten Hoffnungen auf solch ein Talent bauen — das Alles sprach sich am gestrigen Abend aus. Haben Sie Dank, daß Sie und Ihre Gemalin die Ursache waren, diesen vortrefflichen Knaben in unsere Gegend zu bringen; haben Sie Dank für alle Freude, die er mir namentlich schon gemacht hat, und erhalte ihn der Himmel nur in fester, guter Gesund heit, alles Andere, was wir für ihn wünschen, wird dann nicht ausbleiben — oder vielmehr, es kann nicht ausbleiben, denn er braucht nicht mehr ein trefflicher Künstler und ein braver Mensch zu werden, er ist es schon so sicher, wie es je ein Knabe seines Alters sein kann oder gewesen ist.

Die Aufregung, in die er schon in der Probe alle Leute versetzt hatte, war so groß, daß ein rasender Applaus anfing, sobald er gestern ins Orchester trat, und es dauerte sehr lange, bis das Stück beginnen konnte. Dann spielte er aber den Anfang so herrlich sicher und rein, und trotzdem daß er ohne Noten spielte, mit solcher untadligen Festigkeit, daß das Publicum ihn noch vor dem ersten großen Tutti dreimal durch Applaudiren unterbrach und dann das halbe Tutti durch applaudirte; ebenso unterbrachen sie ihn einmal mitten in seiner Cadenz, und nach dem ersten Stücke hörte der Lärm eben nur auf, weil er einmal aufhören mußte und weil den Leuten die Hände vom Klatschen und die Kehlen vom Schreien weh thun mußten. Es war eine große Freude, das mit anzusehen, und dabei des Knaben ruhige und feste, durch nichts angefochtene Bescheidenheit. Er sagte mir nach dem ersten Stück leise: „Ich habe doch eigentlich sehr große Augst.“ Der Jubel des Publicums

begleitete jede einzelne Stelle das ganze Concert hindurch; als es aus war und ich ihn schon die Treppe hinuntergebracht hatte, mußte ich ihn noch einmal wieder holen, daß er noch einmal sich bedankte, und auch dann dauerte der donnernde Lärm noch, bis er lange wieder die Treppe herunter und aus dem Saal war. Ein Erfolg, wie der anerkannteste, berühmteste Künstler ihn nie besser wünschen und besser haben kann!

Der Hauptzweck, der bei einem ersten englischen Auf enthalt nach meiner Meinung zu erreichen war, ist hiedurch aufs vollständigste erreicht: Alles, was sich hier für Musik interessirt, ist ihm Freund und wird seiner eingedenk bleiben. Nun wünsche ich, was Sie wissen: daß er bald zu vollkommener Ruhe und gänzlicher Abgeschiedenheit vom äußerlichen Treiben zurückkehre, daß er die nächsten zwei bis drei Jahre nur dazu anwende, sein Inneres in jeder Beziehung zu bilden, sich dabei in allen Fächern seiner Kunst zu üben, in denen es ihm noch fehlt, ohne das zu vernach lässigen, was er schon erreicht hat, fleißig zu componiren, noch fleißiger spazieren zu gehen und für seine körperliche Entwicklung zu sorgen, um dann in drei Jahren ein so gesunder Jüngling an Körper und Geist zu sein, wie er jetzt ein Knabe ist. Ohne vollkommene Ruhe halte ich das für unmöglich; möge sie ihm vergönnt sein zu allem Guten, was der Himmel ihm schon gab.

An Ihre Frau Gemalin ist der Brief mitgerichtet; also nur noch ein kurzes Lebewohl von Ihrem ergebensten Felix Mendelssohn-Bartholdy.“

Ist es nicht rührend, daß Mendelssohn, der in London von Früh bis in die Nacht vollauf Beschäftigte, sich gleich am nächsten Morgen hinsetzt, um die Angehörigen Joachim’s mit diesem Berichte zu erfreuen? Ferdinand Hiller hat Recht, wenn er Mendelssohn „eine Lichtgestalt“ nennt und hinzufügt: „Wäre es denkbar, daß alle seine Werke der Vernichtung anheimfielen, so würde die Erinnerung an seine poetische Gestalt allein hinreichen, um dem deutschen Volke eine hohe Befriedigung zu gewähren in der Anschauung, daß eine solche Persönlichkeit aus seiner Mitte geboren wurde, blühte und reiste.“