Neue Schriften über
Brahms.
Ed. H. Zu Ende geht das Unglücksjahr, das uns
Brahms geraubt hat. Als gälte es, ihn noch einmal fest und fester
an uns zu drücken — es häufen sich die Kränze auf seinem
Grabhügel, es drängen sich die musikalischen und literarischen
Opfergaben. Aus seiner Vaterstadt vernehmen wir den Auf
ruf zur Errichtung eines Brahms-Denkmals. In Wien,
das Brahms seine Adoptivheimat nannte, planen wir gleich
falls ein Monument — am liebsten nächst seinem Wohn
haus in den Anlagen vor der Karlskirche. Nur unsere traurigen
politischen Kämpfe und Krämpfe haben bis heute in Wien
die Constituirung eines vorbereitenden Denkmal-Comités
verhindert. Pietätvolle künstlerische Hingebung verlangt eine
beruhigte Zeit und unverstörte Gemüther. Hoffen wir
auf die Wiederkehr der ersehnten Empfänglichkeit und Samm
lung. Inzwischen widerhallten den Sommer hindurch
alle deutschen und englischen Musikfeste von Brahms’scher
Musik; auch bei uns fehlt sie jetzt kaum in einem Concert
dieser beginnenden Saison. Wir hatten immer die sichere
Empfindung, daß die liebevolle Pflege seiner Tondichtungen
nicht verlöschen werde zugleich mit den Kerzen auf seinem
Katafalk. Meister wie Brahms sterben zur Unsterblichkeit.
Die „Vier ernsten Gesänge“ — eine Todesahnung, wenn es
denn eine gab — begannen, überall und immer wieder vor
getragen, fast schon einen Verwesungsgeruch zu verbreiten
in den Concertsälen. „O, Freunde, nicht diese Töne!“
möchte man mit Beethoven ausrufen. Sie sollen nicht ver
schwinden, aber neben ihnen laßt uns vorläufig auch „andere,
freudigere anstimmen“ aus dem reichen Schatze Brahms’scher
Lieder.
Dauernder als diese verwehenden Klänge sind die verschie
denen literarischen Monumente zu Ehren Brahms’. Da lockt
uns zuerst ein prächtiges, reich illustrirtes Buch: „Johannes
Brahms“ von H. Reimann. (Berlin1898, Verlags
gesellschaft Harmonie.) Es bildet den ersten Band eines
neuen Sammelwerkes „Berühmte Musiker“. Brahms’
Lebensgeschichte ist in zusammenhängender Darstellung vor
getragen; in jedem Capitel derselben erscheinen die dahin
gehörigen Werke Brahms’ besprochen und durch charakteri
stische Notenbeispiele erklärt. Gleich die beiden ersten Capitel
„Jugendjahre in Hamburg“ und „Neue Bahnen“ über
raschen uns mit Photographien noch nie veröffentlichter
Bilder. So das Porträt des 19jährigen Brahms und mehrere
von Frau Dr. Fellinger aufgenommene Bildnisse aus seiner
letzten Zeit. Aus derselben Quelle stammen die photographischen
Abbildungen der von Brahms zuletzt bewohnten drei
Zimmer in der Karlsgasse. Ueberhaupt haben die Freunde
Brahms’ eifrig aus ihrem Privatbesitze beigesteuert zu der
Ausschmückung des vorliegenden Buches. Frau Bertha
Faber verdanken wir das Autograph des ihr gewidmeten
„Wiegenliedes“, Simrock das „magyarische“ Lied aus
op. 46, der königlichen Bibliothek in Berlin eine Partitur
seite des „Triumphliedes“. Unbekannt waren uns bisher
auch die Porträts von Brahms’ Vater und von seinem
Lehrer Marxen, das hübsche Doppelbild der Jünglinge
Brahms und Joachim, das alterthümliche Geburtshaus in
Hamburg und Anderes. Auch mehrere der merkwürdigsten
Blätter aus Max Klinger’s „Brahms-Phantasien“ sind
der Biographie an passender Stelle eingefügt. Ein reich
haltiger „Anhang“ bringt Nachweise werthvoller literarischer
Quellen, außerdem viele Briefe und Citate über Brahms.
In diesem Verstecke wird man ganz merkwürdige Dinge auf
stöbern; z. B. wie Richard Wagner das „Triumphlied“ durch
Friedrich Nietzsche kennen gelernt. Die SchwesterNietzsche’s
berichtet darüber: „Im Sommer 1874 hatten mein Bru
der und ich im Baseler Münster das Triumphlied von
Brahms gehört. Es war eine wunderschöne Aufführung, die
Fritz sehr gut gefiel. Als er im August 1874 nach Bayreuth
reiste, nahm er den Clavierauszug des Triumphliedes mit,
anscheinend von dem naiven Glauben geleitet, daß sich
Wagner daran freuen müsse. Ich sage „anscheinend“, weil
ich doch auf den Gedanken später gekommen bin, daß dieses
rothgebundene Triumphlied eine Art Versuchsobject war
und deßhalb Wagner’s ungeheurer Zorn nicht ganz
und gar grundlos gewesen zu sein scheint.“ Wagner selbst
erzählt der SchwesterNietzsche’s: „Ihr Bruder legte das
rothe Buch auf den Flügel; immer wenn ich in den Saal
hinunter kam, starrte mich das rothe Ding an — es reizte
mich förmlich, gerade wie den Stier das rothe Tuch. Ich
wußte wohl: Nietzsche wollte damit sagen: Sieh’ mal, das
ist auch Einer, der was Gutes machen kann — na, und
eines Abends bin ich losgebrochen, und wie losgebrochen!“
Auch die Heiratsfrage wird in den Anmerkungen
einigemale gestreift. Nach einem von Brahms diri
girten Concert in Hamburg (1880) fanden sich Abends
die Musiker zu einem Festmal zusammen. Es gab da in
heiterer Stimmung viel Trinksprüche, und der Organist
Armbrust sprach die Hoffnung aus, den Componisten so
vieler schöner Liebeslieder im nächsten Jahre an der Seite
einer holden Gattin wiederzusehen, worauf Brahms mit
den Schlußworten des Parzenliedes entgegnete: „Denkt
Kinder und Enkel! und schüttelt das Haupt.“ Ausführlicher
und vertraulicher lautete Brahms’ Bekenntniß gegen seinen
Berner Freund J. V. Widmann: „In der Zeit, wo ich
am liebsten geheiratet hätte, wurden meine Sachen in den
Concertsälen ausgepfiffen oder wenigstens mit eisiger Kälte
aufgenommen. Das konnte ich nun sehr gut vertragen,
denn ich wußte genau, was sie werth waren und wie sich
das Blatt schon wenden würde. Und wenn ich nach solchen
Mißerfolgen in meine einsame Kammer trat, war mir nicht
schlimm zu Muthe. Aber in solchen Momenten vor die
Frau hintreten, ihre fragenden Augen ängstlich auf mich
gerichtet zu sehen und ihr sagen zu müssen: „Es war
wieder nichts“ — das hätte ich nicht ertragen. Denn mochte
eine Frau mich noch so sehr lieben und auch, was man so
nennt, an mich glauben, die volle Gewißheit meines end
lichen Sieges konnte sie doch nicht haben. Und wenn sie
gar mich hätte trösten wollen ... puh, ich mag nicht
daran denken, was das für mich für eine Hölle ge
wesen wäre.“
Eine Zierde des Buches bildet das Schlußcapitel:
„Brahms als Künstler und Mensch“, worin der Verfasser
H. Reimann sein sympathisches Verständniß für Brahms
nach beiden Richtungen hin auf das schönste kundgibt.
Von ähnlicher Tendenz, nur bescheidener in Aus
stattung und Umfang, ist ein zweites neues Buch:
„Johannes Brahms; Erläuterung seiner bedeu
tendsten Werke, nebst einer Darstellung seines Lebens
ganges“ (Frankfurt a. M. bei H. Bechhold). Es verfolgt
einen mehr specifisch musikalischen Zweck und legt das
Hauptgewicht auf die Analyse von Brahms’ bedeutendsten
Compositionen, an der Hand zahlreicher Notenbeispiele. Eine
Anzahl tüchtiger bewährter Mitarbeiter hat sich in diese
Aufgabe getheilt. Richard Heuberger erklärt und zer
gliedert das Clarinett-Quintett und Clarinett-Trio, das
Violinconcert und die Nänie; Professor Knorr führt uns
durch die beiden ersten Symphonien, Dr. Hugo Riemann
durch die dritte und vierte. Als weitere Mitarbeiter sind die
Herren Beyer, Sittard, Söhle und Witte genannt.
Die biographische Einleitung (von A. Morin) bleibt in
fortwährender Beziehung zur Chronologie der Brahms’schen
Compositionen. Bei aller Gedrängtheit enthält doch diese
Skizze manches wenig bekannte Datum. Brahms ist in
Hamburg in den kleinsten, ärmlichsten Verhältnissen auf
gewachsen; seine Mutter betrieb ein kleines Ladengeschäft
mit holländischen Waaren. Der Vater, ein schlecht besoldeter
Contrabaßspieler am Karl-Schulze-Theater, ließ die Kinder
ohne höhere Schulbildung aufwachsen. Johannes hatte zwei
Geschwister: einen Bruder, Fritz, der Musiklehrer wurde,
längere Zeit in Caracas lebte und in seiner Vaterstadt an
einem Gehirnleiden starb, und eine Schwester, Elise, die
sich mit einem Uhrmacher verheiratete und gleichfalls lange
todt ist. Johannes, dessen musikalisches Talent sich bald
offenbarte, mußte als halbwüchsiger Knabe in niederen
Unterhaltungslocalen oft die Nacht hindurch zum Tanz auf
spielen. Am schmerzlichsten empfand er wol den Mangel an
gutem Einvernehmen zwischen seinen Eltern. Die Mutter,
der er mit zärtlicher Liebe anhing, war 20 Jahre älter als
der Vater, ein bedenklicher Altersunterschied, der selten eine
ganz glückliche Ehe zuläßt. Brahms hat bekanntlich seiner
Mutter ein herrliches Denkmal errichtet in seinem „Deutschen
Requiem“.
Aus Simrock’s Verlag erhalten wir soeben ein dem
Andenken Brahms’ gewidmetes Buch poetischen Inhalts:
„Brahms-Texte“. Der herrlich ausgestattete starke
Band enthält eine vollständige Sammlung aller von
Brahms componirten Dichtungen. Ein mit
Brahms befreundeter, hochgebildeter Musikfreund, nebenbei
Richter in Crefeld, Herr G. Ophüls, hat mit muster
haftem Fleiß diese Texte, nach den Dichtern geordnet, zu
sammengestellt und mit literarischen und biographischen
Notizen versehen. Er unterzog sich der recht mühevollen
Arbeit aus Verehrung für Brahms, nachdem dieser einmal
äußerte: „Ich habe mir öfter eine Sammlung meiner Texte
gewünscht — an und für sich und dann, weil ich meine
Musik nicht gern schärfer ansehe, beim Lesen der Texte sie
mir aber bisweilen ganz gern durch den Kopf gehen lasse.“
Herrn Ophüls war es noch beschieden, Brahms mit dem
Manuscript des jetzt gedruckt vorliegenden Buches eine letzte
Freude zu bereiten. Brahms war in Bezug auf seine Lieder
texte ungemein wählerisch; nicht jede wohlklingende oder
geistreiche Strophe erschien ihm als musikfähig oder musik
bedürftig, noch weniger lockte jedes Gedicht den musikalischen
Funken gerade aus seiner Phantasie. Er selbst pflegte
gerne hinzudeuten auf seine sorgsame Auswahl nur guter
Gedichte. Der schöne Band „Brahms-Texte“ wird als werth
voller Beitrag zur Kenntiß seiner künstlerischen Eigenart
und seines Seelenlebens allen Sängern und Verehrern der
Brahms’schen Lieder willkommen sein.
Eine andere Brahms-Novität aus Simrock’s Verlag
ist nicht ebenso poetischen Inhalts, aber um so prakti
scher, nützlicher für jeden Musiker und Musikfreund: das
Supplement zu dem „Thematischen Katalog“.
Dieser war 1887, also vor zehn Jahren, erschienen und
enthielt Brahms’ Compositionen bis zu op. 101, dem
Clavier-Trio in C-moll. Das jetzt veröffentlichte Supplement
heft reicht von op. 102 bis op. 121, dem Schwanengesang
Brahms’, und umfaßt die letzten zehn Jahre. Dem Musik
historiker wie jedem Verehrer des Meisters bietet dieser
Katalog nicht blos sachliche Auskunft, sondern auch mannig
faltige Anregung. In den Blättern des Thematischen Katalogs
sehen wir das Leben des Tondichters wie in treuen Schatten
bildchen vorüberziehen. Mit der letzten Seite steht dessen
gesammtes Wirken anschaulich wie eine Summe vor uns.
Seine letzten zehn Jahre waren keineswegs sehr productiv;
die ganze Ernte beträgt zwanzig Werke, somit durchschnittlich
nur zwei in jedem Jahre. Brahms hatte zu viel Achtung
vor seiner Kunst, um sie invita Minerva in den Dienst
zu zwingen. Er ward in den letzten Jahren immer scrupu
löser und zurückhaltender mit Publicationen, umsomehr als
er, sechzigjährig, ein Nachlassen der schöpferischen Kraft zu
fühlen glaubte. Von dieser Besorgniß vermochte ihn nur
der große, aufrichtige Erfolg seines Clarinett-Quintetts
momentan zu heilen.
Gleich zu Anfang des neuen Supplementheftes stehen
die vierstimmigen „Zigeunerlieder“ (op. 103) und drei Hefte
zu je fünf Liedern (op. 105, 106, 107), aus welchen
Brahms’ melodische Erfindung und feiner Humor noch so
frisch wie je hervorblühen. Man denke an die von Walter
eingeführten Lieder „Der Mond steht über den Bergen“,
„Schwalbe, sag’ mir an“, „Wie Melodien“ und andere.
Anfangs der Neunziger-Jahre sehen wir Brahms mit Vor
liebe an Instrumentalwerken thätig: er gibt uns sein letztes
Streichquartett in G-dur und seine Violin-Sonate in
D-moll; hierauf die Kammermusikstücke mit Clari
nette (das berühmte Quintett op. 115, dann das Trio
und die beiden Sonaten). In den Jahren 1892 und 1893
erfüllt er mit einer längeren Reihe von Clavierstücken
einen immer dringender geäußerten Wunsch der Clavier
spieler: die „Phantasien“, „Intermezzi“, „Clavierstücke“
op. 116 bis 119. Die „Vier ernsten Gesänge“ endlich haben
in dem Katalog die letzte Opuszahl: 121. Wir besitzen aber
aus Brahms’ letzter Zeit auch noch mehrere werthvolle
überaus erfolgreiche Arbeiten, welche trotzdem keine Opus
zahl tragen. Sie erscheinen im Anhang des Katalogs als
„Bearbeitungen“; so die sechs Hefte „Deutsche Volks
lieder“ (1894), welche durch Brahms’ meisterhafte
Begleitung beinahe etwas Neues geworden sind, analog
den von ihm bearbeiteten „Ungarischen Tänzen“.
In dem Nachtragskatalog der letzten zehn Jahre finden
wir alle von Brahms früher bearbeiteten Kunstformen
wieder vertreten — nur kein einziges großes Orchester- oder
Chorwerk. Dafür schien er sich nicht mehr die volle Kraft
zuzutrauen. Auch in seiner Abneigung gegen Dedicationen
finden wir Brahms unverändert; von den zwanzig Werken
seines letzten Decenniums sind nur drei mit einer Wid
mung versehen: die Violin-Sonate op. 108 an Bülow
die „Fest- und Gedenksprüche“ an den Bürgermeister
von Hamburg (ein Dank für das Ehrenbürgerrecht), end
lich die „Vier ernsten Gesänge“ an den Maler Max Klin
ger. — Brahms waren acht Lebensjahre mehr beschieden
als Beethoven; 18 Jahre mehr als Schumann;
trotzdem ist die Anzahl seiner Compositionen (121) kleiner
als die Beethoven’s (137) oder Schumann’s (143).
Und nun zum Abschied ein Gruß von J. V. Wid
mann in Bern, dem treuen Freunde und Reisegefährten
unseres Brahms! Nach meinem trockenen Literaturbericht
greife der Leser zu Widmann’s „Erinnerungen an Brahms“
im October- und Novemberheft der „Deutschen Rundschau“.
Wer Victor Widmann aus persönlichem Verkehre oder auch
nur aus seinen Schriften kennt, der hat ihn unbedingt
liebgewonnen. Und das war Brahms’ Fall. An Widmann’s
italienischen und Schweizer Schilderungen — („Jenseits des
Gotthard“, „Sommerwanderungen und Winterfahrten“,
„Spaziergänge in den Alpen“) — erfreute uns oft und
nachhaltig diese glücklichste Mischung von Ernst und Humor,
von Naturfreude und Kunstbegeisterung. So oft Brahms
sich zu einer Erholungsreise entschloß, immer zog es ihn
wieder nach Italien. Aber er war der Sprache nicht mächtig,
überhaupt etwas linkisch auf fremdem Boden. Ja, Wid
mann müßte mit! Das war vor Allem ins Reine zu
bringen. Drei längere italienische Reisen hat Brahms in
Gesellschaft Widmann’s unternommen. Von diesen Aus
flügen, dann von Brahms’ Aufenthalt in der Schweiz, in
Baden-Baden, in Meiningen und wo sonst noch die Beiden
heitere Tage verlebt haben, erzählen uns Widmann’s
„Erinnerungen“. Aber auch in seinem allerneuesten
Buche „Sicilien und andere Gegenden Italiens“
(Frauenfeld bei J. Huber, 1898) spielt Brahms als
Mitreisender eine anziehende Nebenrolle. Ihm sollte das
Buch noch bei Lebzeiten zukommen und Freude machen. Zu
spät! Die Widmung an Brahms „in treuer Erinnerung
an herzliche Freundschaft und Reisekameradschaft“ kann jetzt
nur im Herzen seiner Freunde erklingen. Diese werden dem
trefflichen Poeten wenigstens als Leser treue Reisekamerad
schaft halten auf seiner „Frühlingsfahrt durch Sicilien“.