Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11979. Wien, Mittwoch, den 29. December 1897 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11979. Wien, Mittwoch, den 29. December 1897 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 29.12.1897
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Billroth und Brahms. (Gelegentlich der vierten Auflage von Billroth’s Briefen.)

Ed. H. Bei jeder Aufführung von „Wallenstein’s Lager“ freue ich mich auf die Stelle: Ein Hauptmann, den ein Anderer erstach, Ließ mir ein paar falsche Würfel nach.

Diese beiden Zeilen, ein kleiner beredter Denkstein des Zusammenwirkens zweier großer Dichter, sind von Goethe. Er hatte sie in Schiller’s Manuscript eingefügt, um zu motiviren, wie der Bauer zu den falschen Würfeln gekommen ist. Eine ähnliche verbessernde Zuthat, unscheinbar, aber interessant, hat Schumann’s Oper „Genofeva“ aufzu weisen; nur mit dem Unterschied, daß hier nicht, wie in Wallenstein’s Lager“, der ältere, erfahrenere Dichter dem jüngeren nachhalf, sondern der viel jüngere dem älteren, der Schüler dem Meister. Von Brahms sind vierzehn Tacte in der „Genofeva“. Wir erfahren dies erst jetzt, vierzig Jahre nach Schumann’s Tod, und zwar — wie seltsam! — aus der neuesten (vierten) Auflage der Bill roth-Briefe. Zu einer Aeußerung Billroth’s, er glaube nicht daran, daß Brahms eine Oper componire, macht der Herausgeber Dr. Georg Fischer folgende Randbemerkung: „Brahms hat keine Oper componirt. Es ist aber bislang unbekannt, daß derselbe an einer Oper, wenn auch nur mit vierzehn Tacten, betheiligt ist, indem er den Schluß am Liede des Siegfried im dritten Act von Schumann’s Genofeva geschrieben hat.“ Das geschah, als im Jahre 1874 die Oper am königlichen Theater zu Hannover einstudirt werden sollte. Da schickte Frau Clara Schumann dem Sänger Max Stägemann, welchem die Rolle des Pfalzgrafen zugetheilt war, den betreffenden Zu satz von Brahms mit der Erklärung, sie wäre damit nicht nur völlig einverstanden, sondern halte diesen Schluß im Interesse der Wirkung für wünschenswerth. In der Partitur, wie sie Schumann nach der ersten Leipziger Aufführung (1850) redigirt hatte und wie sie hierauf für München, Wien und Wiesbaden copirt wurde, findet sich diese Ergänzung ebensowenig wie in dem gedruckten, von Clara Schumann verfaßten Clavierauszug. Für Hannover wurden die Brahms

schen vierzehn Tacte als Einlage in die Partitur eingeheftet. Indem ich diese (mir in Abschrift vorliegende) Ergänzung mit dem Schumann’schen Original vergleiche, in welchem sie fehlt, kann ich nicht umhin, die richtige Empfindung Brahms’ zu bewundern. Er fühlte, daß bei Schumann das Lied keinen befriedigenden Abschluß habe, vielmehr an dessen Stelle recht unpassend ein fragender Halbschluß auf der Dominante steht; daß ferner auf diesen Halbschluß („Mich trennt keine Macht mehr von dir!“) viel zu rasch und un vermittelt gleich Siegfried’s Worte folgen: „Wer sprengt so eilig ins Thor herein?“ Es geschah also ebensosehr im dramatischen Interesse als im rein musikalischen, daß Brahms die zwei so heterogenen Hälften dieser Scene durch den Einschub seiner vierzehn Nothhelfertacte auseinander hielt. Von praktischer Wichtigkeit ist das heute kaum; die Genofeva“, musikalisch so vornehm und tief empfunden, aber dramatisch zaudernd und bleichsüchtig, findet mit und ohne die Brahms’sche Einlage doch nur mehr verschlossene Thüren. Aber für die Operngeschichte wie für die Verehrer von Brahms und Schumann bleibt es ein eigenartig an ziehendes Factum. Wir verdanken es, wie gesagt, der neuesten vierten Auflage der „Briefe von Th. Bill roth“, deren erste im November 1895, also erst vor zwei Jahren, erschienen ist. Dieser beispiellose Erfolg zeigt neuerdings, wie stark und lebendig die Erinnerung an Billroth in Aller Herzen haftet. Die vierte Auflage bringt allerdings zu den früheren wenig Neues hinzu: im Ganzen neun Briefe. Sie sind immerhin eine werthvolle Bereiche rung, und ich möchte nicht unterlassen, davon den zahl reichen Freunden Billroth’s zu erzählen, die, mit den frühe ren Auflagen ausgerüstet, doch nicht alljährlich eine neue dazu kaufen können.

Zuerst ein noch ungedruckter Brief an Brahms vom 6. November 1890; eines der schönsten Schriftdenkmale dieses Freundschaftsbundes. Der Brief bezieht sich auf das G-dur-Quintett op. 111 und ist — echt Billrothisch — Mor gens um 1 Uhr geschrieben, nachdem der Schreiber sich bis nach Mitternacht „mit allerlei trivialer Lebensarbeit geplagt“ hat. „Doch ich kann nicht zur Ruhe kommen,“ setzt er fort, „ohne dir, mein lieber alter Freund, gesagt zu haben, welch glückliche Stunde du mir heute wieder bereitet hast. Und fange ich an, darüber nachzudenken, in welchen Stunden

meines Lebens, mit dessen Reichthum sich wohl wenige Sterb liche messen können, mir am wohlsten war, so nimmst du doch immer den breitesten Platz ein. Ich habe einen großen Theil deines Werdens miterlebt, und du mit mir. Das ist ein Band, wie es Geschwister in einem guten Hause um schlingt. Ein Jeder der Familie geht seinen Weg, doch man findet sich immer wieder zusammen. Es hat dich früher wol gefreut, wenn ich dir dies und das über eine deiner neuen Schöpfungen sagte. In neuerer Zeit bin ich stumm, denn ich weiß nichts mehr zu sagen, als musikalisch schön, wunderschön; und nun auch für mich schon beim ersten Hören klar, himmlisch-blau klar! Wol hörte ich heute begeisterte Rufe: das Schönste, was er je geschrieben! — Ich habe in meinem lieben Garten in St. Gilgen Rosenstöcke in vollster Kraft. Sie tragen wol 100 Rosen im Jahr. Und wenn ich am Morgen wieder eine neue Rose erblüht sehe, meine ich, das ist nun die schönste! Und dabei thut man den früheren Unrecht. Es gibt eine Kraft der Blüthe und Schönheit, wo es kein schön, schöner, am schönsten gibt. ... Soll ich eins sagen, so ist es das: du concentrirst dich in der Form jetzt so, als wenn man ein schönstes Werk von Lessing, Goethe und Schiller zugleich lesen könnte. ... Ich habe oft darüber ge grübelt, was menschliches Glück sei — nun heute war ich im Anhören deiner Musik glücklich. Darüber bin ich mir ganz klar.“ Welch starkes Glücksgefühl in dieser Empfäng lichkeit, in dieser Hingebung an die Musik, an die Schön heit, an die Freundschaft! —

Außer diesem einzigen Brief an Brahms sind neu hinzugekommen noch sieben Briefe an Wilhelm Engel mann, Professor der Physiologie in Utrecht. Da grüßt uns wieder die andere für die Ewigkeit geprägte Seite von Billroth’s Januskopf: der Gelehrte, der Arzt, der Uni versitäts-Professor. Man braucht nicht Fachmusiker zu sein, um von den musikalischen Briefen Billroth’s gefesselt zu werden; ebenso sicher wecken die Theilnahme jedes Gebildeten jene Sendschreiben, in welchen Billroth medicinische oder Universitätsfragen bespricht. Die Briefe an Professor Engel mann stammen sämmtlich aus Billroth’s letzten vier Lebens jahren und behandeln die Besetzung der chirurgischen Pro fessur in Utrecht. Um seine Meinung gebeten, empfiehlt Billroth die Doctoren Friedrich Salzer und Anton

v. Eiselsberg. Er begnügt sich aber nicht mit dem schwerwiegenden Lobe: „zwei Assistenten, die zu den talent vollsten und tüchtigsten gehören, die ich je ausgebildet habe“, noch auch mit dem Zeugnisse, Beide seien „eminente Operateure allerersten Ranges“ — nein, er schreibt seiten lang ihre Biographien und charakterisirende Schilderungen ihres Wesens. Jeder Frage kommt er zuvor, die etwa noch bezüglich der Beiden gestellt werden könnte. Nachträglich erwähnt er sogar, Salzer sei blond und blauäugig und passe seinem ganzen Wesen nach vortrefflich nach Holland. Kennten wir nicht aus anderen Quellen das unvergleichlich schöne Verhältniß Billroth’s zu seinen Schülern, die paar Briefe an Engelmann würden genügen, uns ein treues Bild davon zu geben. Nur einige köstliche Stellen seien hier herausgehoben: „ich habe das ungeheure Glück,“ schreibt Billroth, „daß meine Schüler mir nicht nur persönliche Achtung entgegenbringen, sondern mit jeder Gedankenfaser an mir hängen. Nie kommt eine Heftigkeit oder eine ernste Differenz zwischen uns vor; eine leise mimische Bewegung genügt, uns zu verständigen. Ich lasse meinen Schülern die freieste subjective Entwicklung, und doch ahnen sie und folgen meinem leisesten Wink und thun nichts, was nicht in meinem Geiste zu thun wäre. Ich habe an meiner Klinik eine Tradition eingeleitet, die mit ungeschwächter Kraft fortwirkt. Ich halte nichts von der fortwährend nörgelnden Ermahnung und Erziehung. Die Mitbewegung und Mitempfindung sind die stärksten physio logischen und ethischen Motive, durch welche wir das Beste in dem Menschen erwecken und unterhalten. Wenn die wissenschaftliche und moralische Welt mit mir zufrieden ist, wie es scheint, so wird sie auch mit meinen Schülern zu frieden sein.“

Er spinnt den liebgewordenen Gedanken noch weiter aus in einem späteren Briefe an Engelmann: „Ich habe es früher wol bedauert, daß ich keine leiblichen Söhne habe, doch wenn ich ernsthaft jetzt darüber nachdenke, so habe ich allen Grund, mit der Wahl meiner geistigen Adoptivsöhne mehr als zufrieden zu sein. Sie bringen mir nicht nur Achtung und Vertrauen entgegen, sondern wirklich eine Liebe, Treue und Anhänglichkeit, wie man sie einem leib lichen Vater gegenüber fühlt.“ Und daß ein leiblicher Vater nicht liebevoller für seine Söhne sorgen konnte, beweist uns

ein bald nachfolgender, wieder von Salzer handelnder Brief. „Ich werde ihn schon am 30. Juni entlassen, damit er Muße hat, sich für seine neue Stellung vorzubereiten. Ich habe meinen Assistenten immer nur von Ueberarbeitung zurück halten müssen; er wollte noch hier einige größere Arbeiten abschließen, die er im Kopfe und theilweise vorbereitet hat. Ich habe ihn dringend gebeten, dies nicht zu thun, damit er frisch in seine neue Stellung eintritt. Das stillere Leben in einer kleinen Stadt zeitigt die Arbeit besser als hier im Wirbel der großen Centrale.“ Dr. Salzer wurde Professor der Chirurgie in Utrecht. Leider hielt seine schwächliche Gesundheit nicht lange vor; er erkrankte bald und starb mit 36 Jahren. Sein Nachfolger wurde Bill roth’s Assistent Anton v. Eiselsberg. Auch ihm folgt Billroth’s liebevolle Sorgfalt bis in die neue Heimat nach. „Ermahnen Sie ihn nur von Zeit zu Zeit,“ schreibt er an Professor Engelmann im November 1893, „langsamer beim Vortrag zu sprechen; er läßt sich bei dem reichen Zufluß von Gedanken leicht verleiten, allzu schnell zu sprechen. Ich hatte in Zürich mit demselben Fehler zu kämpfen, wo mich die Schweizer anfangs schwer verstanden. Daß er Alles kann, was die moderne Chirurgie überhaupt vermag, werden Sie bald erfahren. Wenn Sie seine Mutter kennen lernen und das rührend schöne Verhältniß, in welchem Mutter und Sohn stehen, wird Ihnen Manches von den vortreff lichen Eigenschaften Toni’s erklärlich werden.“

Es übt einen besonderen Reiz auf uns, daß selbst in dieser Correspondenz zweier berühmter Aerzte über die Be setzung einer chirurgischen Lehrkanzel es nicht ohne musika lische Anhängsel und Randverzierung abgeht. Professor Engelmann war als feinsinniger Musikfreund auch von Brahms geschätzt. Dieser vertheilte die Widmung seiner drei Streichquartette zwischen die beiden Aerzte: Billroth wurde das erste und zweite (op. 51), Engelmann das dritte (op. 67) dedicirt. „Wir sind also auch außer der Universität Collegen,“ schreibt Billroth und fügt das drollige Geständniß hinzu, er sei auf Engelmann eifersüchtig gewesen, als dieses dritte Quartett in B-dur („Ihr Quartett“) von Joachim1890 in Wien gespielt wurde. „Der Erfolg war selbst neben Beethoven, Mozart, Haydn, Schumann ein colossaler. Die conservativsten alten Musik söhne kamen auf mich zu (ich gelte nämlich hier als Haupt-

Brahmane), um mich zu versichern, daß sie eigentlich jetzt erst das Quartett verstanden hätten. Und auch das große Leimsieder-Publicum gerieth in Ekstase. Ich fürchte, daß diese Dedicationen unsere Namen länger in Erinnerung halten werden, als unsere besten Arbeiten. Für uns nicht sehr schmeichelhaft, doch schön für die Menschheit, die mit richtigem Instinct die Kunst für ewiger nimmt, als die Wissenschaft. Es ist der ewige menschliche Satz, daß uns Liebe schwerer wiegt, als Hochachtung.“ Wie intensiv be leuchtet dieser Ausspruch Billroth’s innerstes Wesen!

Noch einmal kommt er auf Brahms zu sprechen, in dem letzten an Engelmann gerichteten Briefe vom 5. November 1893. Er schreibt: „Brahms hat in diesem Sommer wieder ein Dutzend Clavierstücke componirt; ich weiß nicht, woher ihm diese Passion auf einmal gekommen ist. Ich liebe dieses Genre von ihm am wenigsten, die Rhapsodie in G-moll ausgenommen. Er ist in der von ihm gewählten Form nicht mannigfaltig genug, meist zu schwer fällig, nicht pikant genug. Chopin und Schumann verstanden das besser. Beethoven’s Bagatellen liebe ich auch nicht, auch nur wenige Stücke dieser Art von Schubert. Brahms sollte beim großen Styl bleiben.“ Diese Aeußerung gibt Zeugniß, daß Billroth bei seinem fast schrankenlosen Enthusiasmus für Brahms ihn doch nicht immer und überall, nicht blindlings bewunderte. Die hier erwähnten Clavierstücke (op. 118, 119) sind die letzten Brahms’schen Compositionen, welche Billroth noch kennen gelernt. Nur die beiden Clarinett-Sonaten op. 120 und die „Vier ernsten Gesänge“ hat er nicht mehr erlebt. Er konnte bei aller Vor- und Ueberliebe sich nicht verhehlen, daß über den fünf Clavierheften (op. 116 bis 119) ein fremdartig grauer Schleier liegt, ein hypochondrisch grübelnder Zug. Als geistvoller souveräner Beherrscher seiner Kunst imponirt Brahms allerdings auch in diesen kleineren Stücken, aber der kühne Flug der Phantasie erscheint ge hemmt, der lebendige Saft der Melodie eingetrocknet. Brief lich und mündlich betonte Billroth gegen mich den „senilen Charakter“ der späteren Brahms’schen Production, die in dem Clarinett-Quintett noch einen einmaligen Höhenpunkt erstürmt hatte. Gegen Brahms schwieg er natürlich davon. Zwischen dem 60. und 70. Jahre fühlt das ja ohnehin jeder Künstler selbst am deutlichsten und schmerzlichsten.

Niemand braucht ihn auf die erste leichte Lähmung seiner Schwingen erst aufmerksam zu machen. Und so sehen wir Brahms wie Billroth in ihren letzten Jahren auffallend oft, fast absichtlich von ihrer geschwächten Productionskraft sprechen. Ohne Zweifel waren Beide immer noch kräftiger und reicher, als alle ihre jüngeren Concurrenten, aber sie wollten lieber das Prävenire spielen und selbst auf den Einfluß des Alters hindeuten, bevor Andere es thun.

Neu ist außerdem nur noch ein kurzes Billet Billroth’s vom 2. Januar 1894 aus Abbazia an den dortigen Arzt Dr. Glax. „Ich wollte Sie schon immer bitten, falls mir etwas Menschliches passiren sollte, an Dr. Gersuny in Wien zu telegraphiren. Es geht mir nicht gerade schlechter. ... Bitte sich deßhalb nicht zu mir zu bemühen; es sind nur bekannte Zustände.“ Jedesmal, wenn Billroth in der knappen letzten Frist seines Lebens nothgedrungen von seiner Krankheit berichtet, schließt er den Brief mit einer tröstlich beruhigenden Wendung. Und doch war er sich seines nahen Endes vollständig bewußt. Er blieb zart fühlend, schonend bis zum letzten Atemzug. Das Merk würdigste ist, daß er noch in den letzten Briefen (vierzehn Tage vor seinem Tode) eifrig Erkundigungen einzieht über Tact und Tongeschlecht der italienischen Volkslieder. Mit der ihm eigenen unerbittlichen Energie spannte er seinen Geist in wissenschaftliche Arbeit, um darüber die körperlichen Qualen zu vergessen. Diesen traurigen Eindruck mochte ich nicht als letzten behalten und blätterte zurück, bald hier, bald dort in den mir wohlbekannten Briefen. Ich war ver wundert, daß Alles mich wieder so neu und fesselnd an sprach. Nicht mehr loslassen wollten mich diese Blätter, in denen ein großer und guter Mensch sein bestes Denken und Empfinden so wahr und unmittelbar ausströmte. Ob er nun von einer neuen Symphonie oder einer Reform des Krankenhauses sprach, von interessanten Büchern oder Reisen, von politischen Fragen oder Familien-Angelegen heiten — immer derselbe klare Geist, dasselbe warme zarte Empfinden, dasselbe himmlische Mitgefühl! Da hat uns Billroth ein kostbares Vermächtniß hinterlassen, von dem er selbst nichts ahnte. Es ward mir bei diesem Jahres abschiednehmen ein wahres Erbauungsbuch — eine Weih nachtsandacht, in welcher die Glockenstimmen heiterer Er hebung und innigen Dankgefühls zusammenklingen.