Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12005. Wien, Dienstag, den 25. Januar 1898 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12005. Wien, Dienstag, den 25. Januar 1898 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 25.01.1898
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Hofoperntheater. (Bizet’s einactige Oper „Djamileh“.)

Ed. H. Bizet’s „Djamileh“ spielt im Orient, einem Gebiet, das, von Operncomponisten des vorigen Jahrhunderts sehr fleißig betreten, seit siebzig Jahren immer mehr aus der Mode gekommen ist. Am wenigsten fühlte Deutschland sich zu einem Welttheil hingezogen, mit dem es, im Gegen satz zu Frankreich und Italien, nur spärliche Beziehungen hatte. Vielleicht gewinnen wir eines Tages aus Kiaotschau neue chinesische Opernstoffe. Nach Mozart’s „Entführungund Winter’s „Opferfest“, war über ein Vierteljahrhundert verflossen bis zu Spohr’s indischer „Jessonda“, und seit dieser vor siebzig Jahren erschienenen Oper haben nur Goldmark und Cornelius vorübergehend den Orient aufge sucht. Italienische Operncomponisten benützen den Orien talen, speciell den Türken, gern als komische Figur; wie viel ist nicht gelacht worden in Rossini’s „Italienerin in Algier“, seinem „Türken in Italien“ und deren späterem Nachzügler „Tutti in maschera“ von Pedrotti! Mit einer einzigen hervorragenden Ausnahme („Aïda“) zogen alle diese italienischen Opern ihre Hauptwirkung aus dem Gegensatz zwischen Europäern und Orientalen. Dieses Motiv beherrscht auch die französische Opern-Production, welche relativ noch am häufigsten zurückgekehrt ist zu orientalischen Stoffen. Auber’s „Premier jour de bonheur“ und der „Kadi“ von Ambroise Thomas bringen orientalische Sitten in komischen Contrast zu französischer Cultur; Delibes’ „Lakmé“ spielt Engländer und Indier gegen einander aus. Félicien David, unter den Franzosen der musikalische Generalpächter des Orients, verzichtet in seiner indischen „Lalla Rookh“ auf diesen Contrast, und gleicherweise behilft sich Bizet’s kleine Oper, bei der wir nun wieder angelangt wären, ohne Europäer.

Nur drei Personen bewegen die einfache Handlung von Djamileh“: ein reicher junger Türke, Namens Harun, dann sein Hausverwalter und ehemaliger Erzieher Splendiano, endlich die Sklavin Djamileh. Harun lebt ein lustiges, ver schwenderisches Junggesellenleben. Gewarnt durch die unglück liche Ehe seines Vaters, hütet er sich ängstlich, von einem Weibe gefesselt zu werden. Daher sein streng eingehaltenes Princip, keine Sklavin länger als einen Monat in seinem Dienst zu behalten. Seine letzte Sklavin, Djamileh, eine sinnige, tief empfindende Natur, verhehlt mühsam die leiden schaftliche Liebe für ihren Herrn. Harun, der nichts davon ahnt, behandelt sie gleichgiltig. Um so sicherer rechnet Splendiano darauf, die Schöne für sich zu ge winnen. Er erinnert seinen Gebieter, daß der festgesetzte Tag der Verabschiedung Djamileh’s gekommen sei, und Harun bestellt unverzüglich den Sklavenhändler, der ihm neue Waare bringen soll. Während Harun mit seinen Freunden sich am Würfelspiel ergötzt, verkündet Splendiano der armen Djamileh, was ihr bevorsteht. Sie erbittet sich nur das Eine: daß sie noch einmal an Stelle der neuge wählten Sklavin, in deren Tracht verkleidet, Harun bedienen dürfe. Vielleicht gelänge es ihr, in dieser Täuschung Harun’s Herz zu rühren. Splendiano geht darauf ein, verrechnet sich aber in seinen Erwartungen. In dem entscheidenden Augen blick fühlt Harun von Djamileh’s treuer Hingebung sich mächtig bewegt; er erkennt, wo das wahre Lebensglück ihm winke, und denkt nicht mehr an eine Trennung.

Das Textbuch ist nach Alfred de Musset’s „Namounavon L. Gallet geschickt bearbeitet. Dem Uebersetzer Herrn Ludwig Hartmann gebührt das Verdienst, die halbver gessene Oper Bizet’s der deutschen Bühne erobert zu haben. Die Handlung zeigt in ihrem Hauptmotiv eine starke Ver wandtschaft mit „Freund Fritz“. Auch hier der ehescheue reiche Junggeselle, der, von der echten Liebe seiner Susel gerührt, sie schließlich heiratet. Allein so wie das Elsaß unseren Schritten, so liegen auch Fritz und Susel unserem Herzen näher, als die beiden seltsamen egyptischen Leutchen.

Auch fühlen wir uns ob der Zukunft des schwäbischen Braut paares ungleich beruhigter, als über Harun’s treue Be ständigkeit. Bizet’s einactige Oper bietet uns in engem Rahmen ein mit minutiöser Sorgfalt ausgeführtes an muthiges Genrebild. Aus „Carmen“ und der Musik zu Daudet’s „Arlésienne“ kennen wir Bizet als geistreichen, feinen, in exotischem Musikstyle besonders glücklichen Com ponisten; gerade für sein Talent war Djamileh eine lockende Aufgabe. „Carmen“ ist blendender, effectvoller, mit satteren Farben und breiterem Pinsel gemalt; doch scheint uns manche Scene in „Djamileh“ noch zartere Schattirungen, noch eigenthümlichere Züge aufzuweisen. Diese kleine Partitur enthält reizvolle Musikstücke; dabei eine wohlthuende Harmonie und Styleinheit des Ganzen, welche durch keinen Einbruch in die Große Oper, noch durch ein Herabsingen zur Posse zerstört wird. Mit der Ouvertüre pflegen sich Componisten der französischen Opéra Comique nicht anzustrengen; auch die zur „Djamilehwiegt nicht schwer als selbstständiges Musikstück. Aber in ihrem leichten frohbewegten Gang versetzt sie uns unmittel bar in den Localcharakter der Oper und fesselt trotz häufiger Wiederholungen unser Interesse. Daß wir auf melodisch Seltsames, auf harmonisch Gewagtes gefaßt sein mögen, das sagt uns die Erinnerung an „Carmen“ und Arlésienne“ voraus; hier tritt noch verführerisch zu der Eigenart des Tondichters das orientalische Sujet. Schon im ersten Tact der Ouvertüre zupft eine harmonische Gewalt samkeit uns am Ohr. Unwillkürlich erinnerte sie mich an den reactionären Pariser Musikkritiker Scudo und die drollige Anekdote, die von ihm vor zwanzig Jahren Hugo Wittmann in diesem Blatte erzählt hat. Bei der Première von Bizet’s Oper „Die Perlenfischer“ im Théâtre Lyrique beginnt mitten in der Vorstellung der alte Scudo auf seinem Balconsitz laut zu brummen, zu schimpfen und ruft, als sich Alles nach ihm umwendet, laut ins Parterre hinab: „Ich werde nicht durch meine Anwesenheit solche Scheußlichkeiten recht fertigen!“ Und stürmt über seine Sitznachbarn hinweg ge

räuschvoll zur Thür hinaus. Wahrscheinlich wäre dieses weiße Hermelin der alten Schule schon nach den ersten Tacten der Djamileh-Ouvertüre abgefahren. Lassen wir das Stück ohne ihn beginnen. Gleich die erste Scene ist erfüllt von poetischem Duft. Während Harun auf seinem Divan träu mend und rauchend ausgestreckt liegt, ertönt von ferne der melan cholische Gesang der Nilschiffer. Ihn durchbricht nach den ersten Strophen ein kurzes, leises Orchester-Intermezzo, während dessen Djamileh, den Blick auf Harun gerichtet, langsam das Gemach durchschreitet. Diesen träumerischen, eigenartig schwebenden Charakter bewahrt die Musik in allen Solo scenen der Djamileh. Das Duett zwischen Harun und Splendiano erinnert in dem Ges-dur-Andantino („Sei das Weib ein Engel“) an Gounod und erhebt sich nicht merklich über das beliebte Niveau der Opéra comique. Die nächste Scene zwischen Harun und Djamileh beginnt im Orchester mit dem schwermüthigen Andante, welches das erste stumme Auftreten Djamileh’s begleitet hat. Die Stim mung erheitert sich in dem von leichter Fröhlichkeit ange hauchten Terzett, mit welchem die Drei sich zu Tische setzen. Der sich anschließende Gesang Djamileh’s zur Mandoline biegt wieder in den ernst sinnenden Ton orientalischer Musikweise ein. Das Stück ist origi nell, nur die Benennung „Ghazel“ ist falsch. Diese Ballade vom König Nurredin hat in Form und Inhalt nichts gemein mit der lyrischen Gattung des „Ghazel“, das bekanntlich aus zweizeiligen Strophen besteht, welche durch einen gleichen Reim der zweiten Zeile miteinander verbunden sind. Es folgt ein gleichfalls zart empfundenes und interessantes Melodram (Harun hängt der Djamileh einen Schmuck um den Hals) und hierauf der lebensfrische Chor der Spieler, „Djamileh’s Klage“, mehr declamatorischen als melodiösen Charakters, würde durch ein weniger schleppen des Tempo gewinnen. Die Maschen dieses Gewebes sind an sich zu weit, um ohne Nachtheil noch ausgedehnt zu werden. Den Einzug des Sklavenhändlers mit den neuen Sklavinnen begleitet das pikante Marschmotiv aus der

Ouvertüre. Eine Perle ist der „Tanz der Almer“ mit be gleitendem Männerchor; echt orientalisch klingt die zwischen Dur und Moll sich klagend durchwindende Melodie über der im Baß festgehaltenen leeren Quinte a—e. Wie die Musik sich dann dem beschleunigten Tanz anschmiegt, ihn anfeuert und schließlich wieder lethargisch zusammensinkt, das Alles ist mit einer genial zu nennenden Technik gemacht. Es folgt nunmehr noch ein unbedeutendes komisches Lied des Splen diano und das große Schlußduett zwischen Harun und Djamileh, das nicht frei von Anklängen an französische und italienische Opernmotive, doch in seinem Schlußtheil („Aus deinem süßen Munde“) durch die lieblich auf und nieder gleitende Violinfigur interessirt und mit seinem glänzenden Aufschwung der Singstimmen effectvoll abschließt. Die eigen thümlichsten, werthvollsten Nummern der Oper sind diejenigen, welche der Componist aus der Seele des Orients heraus empfunden und gestaltet hat — eine Vereinigung von Geist, Feinheit und Charakteristik, welche dicht an der Schwelle des Schönen steht.

George Bizet war im Leben wenig von Glück begünstigt. Als Wunderkind angestaunt, dann mit dem ersten Preise des Pariser Conservatoriums gekrönt, vermochte er doch mit keinem Werke durchzudringen. Zwei komische Opern, „Die Perlenfischer“ (1863) und „Das schöne Mädchen von Perth(1867) wanderten nach wenigen Vorstellungen ins Archiv. Man verurtheilte sie als „Wagnerisch“, obwol kein Tact darin an Wagner erinnert. Seltsames Volk! Jetzt kann es sich an Wagner gar nicht satttrinken, im Theater und im Concert. Von seinen beiden letzten Opern, „Djamileh(1872) und „Carmen“ (1875), hat Bizet zwar die erste Vorstellung erlebt, aber nicht das letzte Wort. Dieses wurde erst nach seinem Tode vom Publicum und der Kritik ge sprochen, und zwar in deutscher Sprache. Die Wiener Oper ging (unter Jauner’s Direction) mit „Carmenvoran; durch Pauline Lucca, an die keine frühere oder spätere Carmen hinanreichte, gewann diese Oper den Höhen punkt ihrer Erfolge. Anfangs zögernd, betroffen von der

Frivolität der Titelrolle, folgten dann immer eifriger alle deutschen Bühnen nach. Aehnlich dürfte es, in bescheidenerem Maßstabe, „Djamileh“ ergehen, seitdem Berlin mit der Wiederausgrabung dieses in Paris verschütteten kleinen Juwels den Anfang gemacht hat. Eine hinreißende Wirkung vermag nach allem bereits Gesagten „Djamileh“ nicht hervorzu bringen; darauf sind weder die Handlung noch die Musik angelegt. An die Stelle von populären Melodien und schlagend dramatischen Effecten treten hier feine charakte ristische Züge, reizvolle Wendungen, entzückende Orchester klänge, einheitlich zusammengehalten von einer geistreichen, meisterlichen Technik. „Djamileh“ ist mehr eine Oper für musikalische Feinschmecker, als für ein großes Publicum; aber auch dieses hat, wie die Erfahrung lehrt, nach wieder holtem Hören oft an dergleichen Leckerbissen Geschmack ge funden und ihn beibehalten.

Die Novität wurde im Hofoperntheater ohne lärmenden Enthusiasmus, aber durchaus freundlich, antheilvoll begrüßt. Ueberaus dankbar erwies sich das Publicum gegen die ge lungene Aufführung. Fräulein Renard, die als Djamileh bezaubernd aussieht, vornehm singt und spielt, überraschte obendrein als graziöse Tänzerin in der großen Balletscene. Sie übernimmt höchst persönlich den Tanz, der auf allen anderen Bühnen einer Prima ballerina zugetheilt ist. Der Absicht des Textdichters entspricht dies nicht, aber der Erfolg ist auf Seite der Renard. Herr Schrödter leiht dem Harun erfolgreich seine unverwüstlich frischquellende Stimme. Der immer fleißige und überall verwendbare Schitten helm strebt als Splendiano unausgesetzt nach komischer Wirkung. Weniger würde hier mehr sein. Er wird sich in den nächsten Reprisen gewiß mäßigen. Denn gar so albern und gehirnerweicht darf doch der Mann nicht erscheinen, welchen Harun seinen „Freund und Erzieher“ nennt. Herr Director Mahler hat sich durch die Aufführung von Bizet’s Oper, die er persönlich dirigirte, ein neues Verdienst erworben.