Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12021. Wien, Donnerstag, den 10. Februar 1898 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12021. Wien, Donnerstag, den 10. Februar 1898 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 10.02.1898
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Musik. („Nicolai-Concert“ der Philharmoniker. Rimsky-Korsakow. Weingartner.)

Ed. H. Der vorige Sonntag bescheerte uns das all jährliche Concert des Pensionsvereines „Nicolai“ der Philharmoniker. Was es zuerst brachte, war eine Ent täuschung. Frau Saville hatte absagen lassen. Und man war so begierig, von der interessanten dramatischen Sängerin auch eine Händel’sche Arie und zwei deutsche Lieder im Concertsaal zu hören! Ihre Absage gerieth zum Glück in die Classe jener Mißgeschicke, die auch ihre gute Seite haben: das Concert wäre, um drei Gesangsstücke vermehrt, un erträglich lang geworden. Nach Cherubini’sAnakreon- Ouvertüre, deren Motive, Begleitungsfiguren und Instru mental-Effecte noch in den Ouvertüren von Boieldieu, Isouard und Spontini („Vestalin“) leibhaftig nachtwandeln, hörten wir das Clavierconcert in B-dur von Brahms. Der junge schottische Pianist Friedrich Lamond, unserm Publicum bereits vortheilhaft bekannt, bewältigte dieses überaus schwierige Stück mit ausdauernder Kraft, ver ständnißvoller Hingebung und virtuosen, nur durch einen harten, stechenden Anschlag etwas beeinträchtigtem Vor trag. Bekanntlich hat das B-dur-Concert, von der ge wöhnlichen Form abweichend, vier Sätze, und zwar recht ausgedehnte. Mit Ausnahme des leichtfaßlichen, munter hinströmenden Finales, erfordert es ein sehr auf merksam nachdenkendes Hören, das sich reichlich lohnt. Letzteres läßt sich der „Scheherezade“ von Rimsky-Korsakow schwerlich nachrühmen. Mit dieser russischen Symphonie haben die Pilharmoniker unser jüngst ausgesprochenes Verlangen nach Novitäten erfüllt und zugleich bestraft. Die brillante Aufführung der „Scheherezade“ glich einer liebenswürdigen Rache. Ist das eine Musik! seufzten wir halblaut während des Finales. Ist das eine Musik? repetirte fragend das Echo von rechts und links in unserer Nachbarschaft. Rimsky- Korsakow, heute ein Mann von 54 Jahren, commandirt die äußerste Linke der jungrussischen Schule. Vor zwanzig Jahren noch activer Officier, zeigt er auch als Componist erstaunliche

Courage. Von seinen Orchesterwerken kennen wir in Wien nur die Legende „Sadko“, welche Rubinstein1872 als Director unserer Gesellschaftsconcerte aufgeführt hat. Das vorgedruckte Programm — es ist charakteristisch für die ganze Richtung dieses Componisten — lautete: „Sadko, ein berühmter Guslaspieler, wurde von seinen Reisegenossen während einer Meerfahrt über Bord geworfen, da ihn das Los traf, dem die Weiterfahrt hindernden Seekönig geopfert zu werden. Vom Seekönig, der seine Tochter eben vermält, in die Tiefe gezogen, muß Sadko durch sein Spiel das Fest verherrlichen. Die Macht seiner Töne bringt die Wasser in Aufruhr. Immer rascher wirbelt der Tanz, immer wilder steigert sich Sadko’s Spiel — da, plötzlich reißen die Saiten, und ruhig wie vordem gleiten die Wellen des Meeres.“ Diese Composition offenbarte eine Armuth musikalischen Denkens und eine Frechheit der Instrumentation, wie sie uns früher nie vorgekommen. Dem Princip einer auf die äußerste Spitze getriebenen Programm-Musik ist Rimsky-Korsakow seither treu geblieben. Wie damals Rubinstein aus russischem Patriotismus, so bringen jetzt die Franzosen aus politischer Liebedienerei Korsakow’sche Bildermusik in ihren Concerten. Da producirte kürzlich Lamoureux eine entsetzlich lange Symphonie, betitelt „Antar“. Dieser Antar hat die Seinigen verlassen, um allein auf den Ruinen von Palmyra zu leben. Während er die Wüste betrachtet, flüchtet eine Gazelle, von einem Raubvogel verfolgt, in seine Nähe. Der Einsiedler verscheucht den Raubvogel und schläft ein, nicht ahnend, daß das ge rettete Thier die Fee Gül-Nazar gewesen. Sie verspricht zum Dank ihrem Retter die berauschendsten Genüsse des Lebens: Rache, Macht und Liebe. Diese Vorgeschichte bildet den „Inhalt“ des ersten Symphoniesatzes. Die folgenden drei schildern nach einander die Wonnen der Rache, der Macht, der Liebe. Der Pariser Kritiker Boutarel urtheilt, nachdem er dem Antar das Almosen „interessant“ zugeworfen, das sei „Kunst für eine Generation, welche nach verzweifelten Auf regungen, nach zum Paroxismus gesteigerten Empfindungen verlangt.“

Aehnliches gilt von der Programm-Symphonie „Sche herezade“, welche wir Sonntag gehört haben. Jeder der vier entsetzlich langen Sätze „erzählt“ ein Märchen aus 1001 Nacht. Das sonst beliebte, Tact für Tact erläuternde

Programm fehlt diesmal. Der Componist hätte die vier Märchen vollständig abdrucken müssen, was doch zu umständlich gerathen wäre auf einem Concertzettel. Er begnügt sich also mit den Ueberschriften: 1. Das Meer und Sindbad’s Schiff. 2. Erzählung des Prinzen Kalender. 3. Der junge Prinz und die junge Prinzessin. 4. Fest in Bagdad. Das Meer. Das Schiff zerschellt an einem Felsen, auf welchem der eiserne Ritter steht. Der Inhalt dieser Geschichten aus 1001 Nacht ist leider meinem Gedächtnisse entschwunden, und weder könnte ich mit Be stimmtheit sagen, was der Prinz Kalender eigentlich erzählt, noch was für Schmerzen die Prinzessin hat, noch endlich warum das Fest in Bagdad stattfindet und ein eiserner Ritter auf dem Felsen steht. Nachdem die meisten Zuhörer sich offenbar in dem gleichen hilflosen Zustande befanden, so sprach aus allen Mienen die nervöse Unsicherheit, was uns denn eigentlich da vormusicirt werde? Das ist ja das Elend der streng ausgeführten Programm-Musik; erzählt uns das Programm nicht ganz detaillirt, was ein jeder Symphonie satz vorstellt, so wird die Composition unverständlich; ge schieht es aber, so wird sie lächerlich. Etwas Anderes ist eine einfache Ueberschrift, die unsere Phantasie in bestimmter Rich tung anregt, ohne sie zu knebeln, und etwas Anderes ein de taillirtes Programm. Wenn ein Componist wie Rimsky-Korsakow es unternimmt, mit musikalischen Elementen nicht zu com poniren, sondern zu malen, zu dichten, zu erzählen, zu philosophiren, so kann sein erklärender Vorreiter nicht red selig genug sein. Je genauer er aber diesen prosaischen Dienst thut, desto mehr fälscht er das Wesen der reinen In strumental-Musik und erniedrigt ihre Würde. Wir wollen hören, was der Componist uns zu sagen hat, und nicht, was der Prinz Kalender erzählt. In Bezug auf die musikalische Ausführung beobachtet der Componist der Scheherezade“ abwechselnd zwei Methoden: entweder er ermüdet uns durch unaufhörliche Wiederholungen desselben Motivs, derselben Figur, oder er zerreißt unversehens den Zusammenhang durch plötzliche Contraste und schleudert uns in jähem Wechsel der Tact- und Tonarten hin und her. Dabei fehlt diesem Feuerwerkskünstler innere Wärme und tiefe Empfindung; inmitten seiner Raketen bleibt er selber kalt und — wir auch. Die unerhörtesten Mittel und In

strumental-Combinationen bietet er auf, um uns fremdartige Vorgänge unverständlich zu erzählen. Jene Deutlichkeit, welche nur das (gesprochene oder gesungene) Wort und die scenische Darstellung erreichen können, bleibt ihm versagt und die rein musikalische Befriedigung gleichfalls. Was bleibt also übrig? Eine Reihe von Instrumental-Effecten, die stellenweise ori ginell, pikant und reizvoll, stellenweise erkünstelt und brutal klingen. Was bringt Rimsky-Korsakow nicht Alles in Be wegung! Triangel, Tamburin, kleine Trommel, große Trommel, Tamtam, Becken, Harfen! Selbst gegen diesen Luxus wäre nichts einzuwenden, wenn damit künstlerische Zwecke erreicht, neue Ideen verkörpert würden. So aber, da wir in dem Klangtumult die schöpferischen Gedanken, ja die Seele vermissen, fühlen wir uns herabgezogen in die Sphäre der Kunstreitermusik oder, noch schlimmer, zu den Tanzunter haltungen halbnackter Wilder.

Die Programm-Musik in ihrer ernsten künstlerischen Be deutung ist von neuem und neuestem Datum. Was eine frühere Zeit an vereinzelten Tonmalereien besaß (Clavier stücke à la „Schlacht bei Leipzig“), war lediglich Spielerei, zum Ergötzen kleiner und großer Kinder. Erst Berlioz hat Programm-Symphonien von künstlerischer Bedeutung und großen Formen geschaffen. Seither hat die Mode, Orchester werken ein bestimmtes poetisches Programm zu unterlegen, sich ungemein verbreitet und festgesetzt, in Frankreich und Ruß land nicht weniger als in Deutschland. Schon hat sie bei allen drei Nationen zu höchst unkünstlerischen, ja lächerlichen Aus artungen geführt. (Siehe Rimsky-Korsakow, Balakirew, Victor d’Indy, Richard Strauß.) Gegen dieselben ist jetzt ein enthusiastischer Anhänger der Liszt-Wagner’schen Richtung, von dem ich es am wenigsten erwartet hätte, aufgetreten: Herr Felix Weingartner. Was wir in Wien von seinen Compositionen kennen, verkündet den extremen Zukunfts musiker: das Orchestervorspiel zu „Malawika“ und die Lear- Ouvertüre, noch mehr das Programm seines großen Myste riums „Die Erlösung“, welches er vier Abende lang in einem eigens dafür zu erbauenden Theater aufführen will. Nach diesen Proben mußte Weingartner’s kürzlich erschienene Broschüre Die Symphonie nach Beethoven“ sehr angenehm überraschen. Sie entwickelt geistreiche Ideen über Musik und treffende Urtheile über Componisten und das Alles nichts weniger als polemisch; vielmehr sachlich, maßvoll, mitunter sogar warm

und liebenswürdig. Hier will ich, im Zusammenhang mit der „Scheherezade“, nur einige von Weingartner’s Aussprüchen über Programm-Musik mittheilen. Das thue ich um so lieber, als sie völlig mit den Ansichten überein stimmen, welche ich vor 40 Jahren in meiner von den Wagnerianern stark angefeindeten Abhandlung „Vom Musika lisch-Schönen“ entwickelt habe. Weingartner ist so gerecht, selbst Berlioz und Liszt nicht zu schonen, wo er sie auf einem Mißbrauch der Programm-Musik betrifft.

Ueber das vorletzte Orchesterstück in BerliozRomeo- Symphonie — („Romeo am Grabe Juliens, Anrufung, Juliens Erwachen, Freudentaumel und die ersten Wirkungen des Giftes, Todesangst und Verscheiden der Liebenden“) — äußert Weingartner: „Berlioz hat hier versucht, die Einzel heiten der dramatischen Handlung durch melodische Bruch stücke, Accente, Accordverbindungen und ausdrucksvolle Figu rationen mit einer Deutlichkeit wiederzugeben, daß man sich die Fähigkeit zutrauen möchte, in jedem Tact den Vorgang ver folgen zu können. Dennoch ist der Eindruck dieses Ton stückes selbst bei der besten Wiedergabe ein durchaus ver wirrender, ja stellenweise sogar ein lächerlicher. Der Grund liegt darin, daß der Musik hier eine Aufgabe gestellt ist, die sie nicht zu lösen vermag. Wäre nicht durch den Titel ein Hinweis auf den Vorgang des Dramas gegeben, so wüßten wir überhaupt nicht, was wir hörten, und hätten die Wirkung eines sinnlosen Toncomplexes. Die Empfindung der Sinnlosig keit wird aber auch nicht aufgehoben, wenn wir wissen, was wir uns vorzustellen haben.“ Weingartner beharrt dabei, „daß die Musik eine Kunst ist, die niemals durch Begriffe zu uns sprechen kann; daß sie ihrer Hoheit entkleidet wird, wenn ein Künstler ihr Begriffe unterschiebt, die sie uns nach Art des Wortes erklären soll; daß sie erniedrigt wird, wenn er sie sklavisch von Tact zu Tact an ein Programm bindet. Die Musik vermag die Stimmung, die seelische Dis position wiederzugeben, die ein Vorgang in uns erzeugt, nicht aber den Vorgang selbst zu schildern“. Mit Recht ver theidigt Weingartner nur jene Ueberschriften, durch welche die Phantasie bedeutsam angeregt, aber nicht ängstlich ge fesselt wird. Diese Forderung glaubt er bei den meisten symphonischen Dichtungen von Liszt erfüllt zu sehen, verurtheilt aber doch dessen „Ideale“. Er sagt: „Wenn Liszt in seiner symphonischen Dichtung „Die Ideale“ Bruchstücke

des Schiller’schen Gedichtes der Reihe nach musikalisch zu interpretiren und dann diese Interpretationen zu einem Satze zusammenzuschweißen versucht, ja so weit geht, in seiner Partitur über die einzelnen Musikstücke die Theile des Gedichtes zu schreiben, die er an den be treffenden Stellen vorgestellt wissen will, so daß eigentlich nur der mit der Partitur Bewaffnete wissen kann, was er sich gerade im Augenblick denken soll, und nicht ein mal derjenige folgen kann, der die Theile des Gedichtes selbst vor sich hat, so wird die Musik, wie es in diesem Stücke thatsächlich der Fall ist, flügellahm ausfallen, weil sie sich nicht ihrem Wesen gemäß frei entwickeln kann, sondern von vornherein an die aufeinanderfolgenden Bruchstücke des Ge dichtes, also an eine Reihe von Begriffen gebunden ist.“ Das sind, wie meine Leser wissen, keineswegs neue Wahr heiten. Aber daß gerade Weingartner, einer der muthigsten Feldherren im zukünftlerischen Heere, sie ausdrücklich bekennt und energisch versicht, das scheint mir ein bedeutsames und werthvolles Factum. Weingartner macht auf seinem kritischen Streifzug auch Halt bei seinem Collegen Richard Strauß, dessen symphonischer Dichtung „Also sprach Zarathustra“ er dieselben Fehler nachweist, in welche Liszt in den „Idealen“ verfallen ist. Die Zusammenfügung der einzelnen Musikbruchstücke, aus denen diese symphonische Dichtung besteht, erforderte Uebergänge, um das Ganze nicht in einzelne Sätze aufzulösen. „Um diese Uebergänge zu ver stehen,“ fährt Weingartner fort, „ist man fortwährend ge nöthigt, die zweifellos geistreichen Gedanken, die den Com ponisten dabei geleitet haben, sowie die eventuellen Beziehungen zur programmatischen Vorlage Tact für Tact herauszuge heimnissen, daher auch hier der Eindruck von Musik im wahrsten Sinne des Wortes verloren geht.“ Weingartner gesteht offen seine Verwunderung darüber, wie „Zarathustraals ein Höhepunkt des Strauß’schen Schaffens, ja sogar als ein Höhepunkt in der bisherigen Entwicklung der Musik gepriesen werden konnte. Für ihn sei der „Zarathustra“ viel mehr „ein Merkzeichen, wie weit die Musik sich von ihrem eigenen Wesen abwenden könne“. Dieser Ausspruch macht dem Geschmacke und dem Freimuthe Weingartner’s alle Ehre.

Im engen Zusammenhange mit diesen Ansichten stehen Weingartner’s Aussprüche über die Wagner’schen Leit motive. Nicht gegen diese Leitmotive selbst wendet sich

Weingartner als strenggläubiger Wagnerianer, wol aber gegen deren Ausnützung von Seiten der Erklärer. In der That haben die Leitmotive in „Tristan“, „Nibelungenringund „Parsifal“ bereits eine kleine Literatur von „Führern“, einen förmlichen Industriezweig geschaffen. Es ist wirklich zum Todtlachen, wenn man die armen Leute im Parquet betrachtet, wie sie nervös in Wolzogen’s Leitfaden vor- und nachblättern, welches von den neunzig Leitmotiven des Nibelungenringes“ jetzt eben vorüberhuscht: das Schwert-, das Drachen-, das Rachewahnmotiv, das Riesen- und Zwergen motiv, das „Leitmotiv des matten Sigmund“ oder was sonst noch? „Die Leitmotive mit ihren abenteuerlichen Benennun gen,“ schreibt Weingartner, „und ihre Gefolgschaft, die Leitfaden, haben über Wagner’s Kunst mehr Verwirrung wie Aufklärung gebracht, denn sehr oft glaubte man die Werke genügend studirt zu haben, wenn man möglichst viel Leitmotive herausgefunden hatte; man verlor sich in Spitz findigkeit und gedankenloser Gedächtnißarbeit, anstatt tiefere Erkenntnisse zu gewinnen.“ Diesem Gedankengang entspricht auch vollständig Weingartner’s Abneigung gegen die bei Orchester-Concerten jetzt üblichen Programmbücher. „Der intellectuelle Schaden, den sie dem Hörer zufügen, ist noch größer als der materielle Vortheil, den die Heraus geber einheimsen. Welchen Werth kann im Concert so ein zerstreutes Zuhören mit ungenügendem Nachlesen haben? Wer glaubt, die Programmbücher nicht entbehren zu können, der lese sie vor den Concerten, zu Hause, in Verbindung mit dem Studium der Partitur oder eines guten Clavier auszuges!“

Weingartner’s Urtheile über unsere hervorragenderen Symphonie-Componisten sind durchwegs ernst und aufrichtig, gewiß auch so weit gerecht, als es einer bestimmten Indivi dualität gegenüber höchst verschiedenartigen Künstlernaturen möglich ist. Von Brahms spricht Weingartner mit höchstem Respect, aber ohne Liebe. Mit dem Herzen ist er bei Bruckner, obwol er ihm zahlreiche Irrthümer und Ver stöße nachweist. Ueber Geschmack und Sympathie läßt sich nicht streiten, nicht richten. Ein näheres Eingehen auf Einzelheiten würde die uns gesteckten Grenzen überschreiten. Doch dürfte schon das Gesagte genügen, um den Leser für die Lectüre der geistreichen und anregenden Ausführungen Weingartner’s zu gewinnen.