Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12071. Wien, Freitag, den 1. April 1898 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12071. Wien, Freitag, den 1. April 1898 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 01.04.1898
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Ein Monument für Brahms.

Ed. H. Eine zarte Frauenhand hat zu dem Brahms- Denkmal den ersten Stein gelegt: Alice Barbi. Ihr gestriges Concert war die erste werkthätige Kundgebung für dieses edle Unternehmen. Brahms, so knorrig und unzu gänglich er sich auch zeigen mochte gegen das schöne Ge schlecht, das musicirende zumal, ist doch ein bevorzugter Liebling der Frauen gewesen. Sie haben ihn lebenslang mit zarter Sorgfalt umgeben, seine Musik tief ins Herz ge schlossen und tapfer dafür gewirkt. Zwar ist er nicht wie in Mainz der Minnesänger Frauenlob von Mädchen zur letzten Ruhestatt getragen worden, aber Frauenhände und Frauen lippen sind es doch vor Allen, die jetzt mit Sang und Saitenspiel den Ruhm des todten Meisters verbreiten. Blättern wir nur in den Wiener Concertprogrammen der jüngsten Zeit. Da hat das Damenquartett Soldat-Röger unter Mitwirkung von Fräulein Baumayer (mit dem Kammer-Virtuosen Mühlfeld) das Clarinett-Quintett und das Clarinett-Trio meisterhaft gespielt — zwei Spätwerke von Brahms, deren erstgenanntes schöner, das zweite schwie riger ist für Spieler und Hörer. Wie unter den Sänge rinnen die Barbi, so schätzte Brahms unter den Pianistinnen zuhöchst die Baumayer, unter den Geigerinnen die Soldat als musikalisch denkende und empfindende Naturen. Zwei neueste, rasch berühmte Sängerinnen aus der Fremde, Camilla Landi und Marcella Pregi, schmückten ihre Concerte mit Brahms’schen Liedern, obgleich das Deutsche ihnen nicht an der Wiege gesungen ward. Fügen wir noch den Vortrag der „Rhapsodie“ durch die Altistin Fräulein Walker hinzu, Liederspenden von Frau Prasch-Passy, die Clavierproductionen von Ilona Eibenschitz und Henriette Hemala, so haben wir nur die allerjüngsten Damen vorträge Brahms’scher Musik gestreift. Auch in den letzten Programmen unserer Kammermusiker — zuletzt das schöne F-dur-Quintett bei Rosé — und unserer Orchester- Concerte behauptete Brahms einen vorragenden Platz.

Hans Richter hat die „Philharmonischen Concerte“ mit der F-dur-Symphonie eröffnet, mit der hinreißend ge spielten „Akademischen Ouvertüre“ beschlossen. Letztere ward seinerzeit von einigen Widersachern zu dem mißlungenen Ver suche benützt, Brahms, den Gegner aller Programm-Musik, einer Inconsequenz zu zeihen. Die Akademische Ouvertüre ist aber nichts weniger als Programm-Musik; sie erzählt keinen Vorgang, noch schildert sie Gemüthsbewegungen, die einer Worterklärung bedürften. Als eine Dank- und Gelegenheits- Musik für das von der Königsberger Universität empfangene Ehrendoctorat hat Brahms diese Ouvertüre mit einigen allbekannten Studentenliedern durchflochten; sie erklingen hier als natürliche, man darf sagen nothwendige Citate. Es verhält sich damit genau so wie mit Weber’sJubel- Ouvertüre“, welche, eine Huldigung für den König von Sachsen, mit der Volkshymne „Heil dir im Siegerkranzschließt; wie mit Schumann’s Ouvertüre zu „Hermann und Dorothea“ und der darin anklingenden Marseillaise; wie mit Haydn’sGott erhalte“ in dem Kaiserquartett, oder mit Dvořak’s Ouvertüre „Mein Heim“, welche zwei patriotisch-böhmische Volkslieder citirt und durchführt. Nur Director v. Perger, der so schöne Worte am Grabe des Meisters gesprochen, unterließ es leider, eines der Gesell schafts-Concerte mit Chören oder Vocalquartetten von Brahms zu schmücken.

Und das Ausland? Die Programme jeder größeren oder mittleren Stadt Deutschlands bezeugen, wie fest und immer fester Brahms im Herzen der Nation sich angesiedelt hat. Von außerdeutschen Ländern scheinen ihn zumeist Eng land, Holland und Nordamerika zu pflegen, neuestens auch Skandinavien; Frankreich und Italien wenigstens auf dem Gebiete der Kammermusik. Interessant ist ein Programm aus Lausanne, wo vor vier Wochen ein eigenes Concert „à la mémoire de J. Brahms“ stattgefunden hat mit der Zweiten Symphonie und dem Clavier-Concert in D-moll an der Spitze.

Einmal in Statistisches hineingerathen, gedenken wir gerne in Kürze auch der neuesten Brahms-Literatur. In einem früheren Feuilleton haben wir bereits das reich

illustrirte Buch von H. Reimann besprochen, ferner die bei Bechhold in Frankfurt erschienenen „Erläuterungen Brahms’scher Werke“, die von Simrock herausgegebenen Brahms-Texte“, sowie dessen Supplement zu dem „Thema tischen Katalog“. Die ursprünglich in der „Deutschen Rund schau“ erschienenen fesselnden „Erinnerungen an Brahmsvon V. Widmann liegen jetzt als selbstständiges Buch (Paetel’s Verlag in Berlin) vor uns, das allen Freunden des Meisters warm empfohlen sei. Auch Brahms’ lang jähriger Freund, Geheimrath Deiters in Coblenz, hat sich neuerdings wieder vernehmen lassen. Sein Aufsatz über Brahms erhob sich in der von Breitkopf & Härtel herausgegebenen Sammlung musikalischer Vorträge“ als einer der werthvollsten; im Jahre 1880 erschienen, reichte derselbe nur bis zur „Akademi schen Ouvertüre“ op. 80. Nun hat der geehrte Verfasser seine Arbeit durch ein zweites Heft vervollständigt, welches das Leben und Schaffen Brahms’ vom Jahre 1880 an bis ans Ende behandelt. Diese zweite Hälfte von Deiters’ Mono graphie ist mit derselben philologischen Sorgfalt und Voll ständigkeit, derselben eindringenden Kenntniß und fast unbe grenzten Liebe für Brahms, den Menschen und Künstler, geschrieben wie die erste. Viel Neues und Anziehendes ent halten die in der „Gegenwart“ veröffentlichten „Erinnerungen an Brahms“ von Klaus Groth. Dem berühmten Dichter des „Quickborn“ war Brahms durch jahrelange innige Freundschaft verbunden, obendrein durch Landsmann schaft. BrahmsGroßvater und der Großvater von Klaus Groth haben in dem dithmarschen Flecken Heide in Einer Häuserreihe gewohnt. Klaus Groth erinnert sich, wie sein Vater eines Morgens am Kaffeetische von dem plötzlich auf getauchten jungen Musiker in Hamburg vorlas. „Das muß der Sohn sein von meinem Schulkameraden Johann Brahms; der entlief dem Alten aus Leidenschaft für die Musik.“ Unser Johannes Brahms hat die Geschichte, wie sein Vater Musiker geworden, mit folgenden Worten ergänzt: „Aus reiner Leidenschaft zur Musik ist er zweimal dem elterlichen Hause entlaufen zum nächsten Stadtmusikus; erst das drittemal wurde er mit Segen, Bettzeug und Uebrigen entlassen. (Ich kann meine Leidenschaft zur Musik nicht so gut beweisen!)

Klaus Groth machte Brahms’ persönliche Bekanntschaft 1856 in Düsseldorf; da ärgerte er sich, als Brahms, in einer Gesellschaft ans Clavier gebeten, nur Schubert’sche Tänze spielte. Erst nach seiner Verheiratung gerieth Klaus Groth tiefer hinein in die Musik, indem er fast jeden Abend mit seiner Frau vierhändig spielte. Da kamen sie auch einmal auf das B-dur-Sextett von Brahms. „Als wir das Werk durchgenommen hatten, sagte ich: So, Kind, ein Mann, der das geschrieben hat, kann nichts Unbedeutendes machen. Von nun an studiren wir Alles von Brahms, was uns sonstweg paßt, so lange bis wir es verstehen.“ Schwer fielen ihm zunächst die größeren Gesänge, beispielsweise die Magelonenlieder. Groth hörte seine Frau oft ein und das selbe Lied zehn-, zwanzigmal allmälig üben. Sie ließ nicht nach und er nicht, und so allmälig drang es durch, zuletzt bis zum Entzücken. Er erfand dafür den Ausdruck: „Zuerst geht es in die Wildniß, man erkennt nichts; dann merkt man, es ist ein Fußpfad; endlich erstaunt man: es ist ja eine neue große Straße ins ferne Land der Poesie.“ Die Erzählungen des (jetzt 79jährigen) Dichters schließen mit dem Bekenntnisse: „Die Musik bringt mir noch den ein zigen Sonnenschein, und wenn Brahms etwas von mir componirt, so empfinde ich das immer wie die Verleihung eines Verdienstordens.“

Von Brahms’ wiederholtem Aufenthalt in der Schweiz lesen wir manches Interessante in dem „Neujahrsblatt der Allgemeinen Musikgesellschaft in Zürich“. Musik director F. Hegar citirt da einige sehr charakteristische Aus sprüche über moderne Componisten, wie wir sie überein stimmend auch aus Brahms’ eigenem Munde vernommen haben. Als Bülow sich mit Geringschätzung über Verdi’sRequiem geäußert hatte, ging Brahms zum Musikhändler Hugs, ließ sich den Clavierauszug geben und las ihn durch. Dann sagte er: „Bülow hat sich unsterblich blamirt; so etwas kann nur ein Genie schreiben.“ Als ein Freund mit etwas herablassender Geringschätzung über Mendelssohn sprach, ließ Brahms ihn ruhig ausreden und meinte dann: „Ja, ja, Mendelssohn ist der letzte große Meister gewesen.“ Daß Brahms für Strauß’sche Walzer schwärmte und für Bizet’sCarmen“, ist bekannt.

Nach dieser längeren Abschweifung, welche der Leser um des Gegenstandes willen verzeihen wird, kehren wir zurück zu dem Concert der Alice Barbi. Auf das schönste hat die berühmte Künstlerin damit ihre Verehrung für Brahms öffentlich bezeugt — ein Gefühl, das er auf richtig erwiderte. Er schätzte die Barbi zuhöchst unter den Liedersängerinnen und ließ zu einer Zeit, da er nicht mehr gerne öffentlich auftrat, sich nicht nehmen, sie in einem ihrer letzten Concerte selbst zu accompagniren. Alice Barbi hat, seit ihre Verheitratung sie von der Oeffentlichkeit fern gehalten, nichts eingebüßt von dem sympathisch seelenvollen Klang ihrer Stimme, nichts von dem geläuterten Kunst geschmack und der sich unmittelbar mittheilenden innigen Empfindung. Sie bot uns einen vollen Strauß Brahmsscher Lieder in sinniger Auswahl und Abwechslung. Von dem dunklen Grund schmerzlicher Resignation („Immer leiser wird mein Schlummer“) oder der aufgewühlten Leidenschaft („Nicht mehr zu dir zu kommen“) hoben sich wie hellfarbige Blumen das schalkhafte „Mädchenlied“, „Therese“, „Vergebliches Ständchen“ und das „Rheinische Volkslied“. Die selige Stille der „Mondnacht“ und der „Feldeinsamkeit“ wich dem beglückten Aufjauchzen „Meine Liebe ist grün!“ Für all diese wechseln den Stimmungen, heitere wie traurige, besitzt Alice Barbi die entsprechenden Töne und, man darf hinzusetzen, Mienen. Denn ohne die leiseste dramatische Action spiegelt ihr edles, bewegliches Antlitz die wechselnden Empfindungen jedes Liedes wider. Als die schönsten Beispiele möchte ich das er schütternde „Immer leiser“ und das naive „Vergebliche Ständchen“ hervorheben — als Beispiele ihrer Kunst, nicht als Vorbilder für Andere. Läßt sich doch das Eigenthümlichste dieses Zaubers nicht von jeder beliebigen Sängerin erlernen oder nachahmen; dazu gehört außer der Intelligenz, Em pfindung und Technik der Barbi auch ihr Gesicht mit seiner wunderbar mitspielender Beredsamkeit und dem sprechenden schönen Auge. Von dem glänzenden äußeren Erfolg des Concertes haben wir bereits in Kürze berichtet. So hat denn die liebenswürdige und geniale Sängerin das Wiener Publicum heuer ebenso stark, ja noch stärker gefesselt und entzückt, als bei ihrem ersten Erscheinen vor neun Jahren.

Gewiß wird das schöne Beispiel der Barbi bald Nach eiferung wecken und die Errichtung des Monumentes mächtig fördern. Wir denken uns dasselbe am liebsten in den An lagen vor der Karlskirche, also zunächst dem Hause, welches Brahms durch so viele Jahre bewohnt hat bis an sein Ende. Längst war dieses Vorhaben von den Freunden geplant; die Vorbereitungen jedoch wurden durch die leidigen politischen und materiellen Zustände bis jetzt verzögert. Erst vor Kurzem konnte das Wiener Denkmal-Comité unter dem Vorsitze von Bezecny und Dumba sich constituiren und einen Aufruf erlassen. Zu den Unterschriften wird demnächst noch eine große Zahl von Namen auswärtiger Freunde und Verehrer Brahms’ hinzukommen, deren Zusage und thätige Mitwirkung gesichert erscheint. Der Tod Brahms’ ist als ein unersetzlicher Verlust überall so schmerzlich beklagt worden, daß an dem Gelingen des Werkes nicht zu zweifeln ist. Künstlerisch hat diese allgemeine Theilnahme sich in den zahlreichen großen Brahms-Aufführungen documentirt, mit welchen in diesem Jahreslaufe alle Musikstädte sich beeifert haben. Persönlich stand er den Wienern am nächsten. Mit Recht heißt es in Max Kalbeck’s beredtem Aufrufe: „Nirgends ist der unersetzliche Verlust des edlen Künstlers tiefer empfunden, heißer beweint, nachhaltiger betrauert worden, als in Wien. Johannes Brahms selbst verlieh den Wienern ein eigenes Vorrecht der Trauer. Er hat an der schönen Stadt und ihren freundlichen Bewohnern mit der Zärtlichkeit gehangen, mit der man sonst nur die Vaterstadt liebt, und er ist dieser Zuneigung treu geblieben bis in den Tod. Aber ein Brahms-Denkmal in Wien kann keine auf den Bannkreis der Stadt beschränkte, keine von den Grenzen des Landes umschriebene Angelegenheit bleiben; es muß zur allgemeinen Sache aller dankbaren Musikfreunde gemacht werden!“

Diese Worte werden nicht wirkungslos verklingen. Tausende, die Brahms mit seinen Tondichtungen gerührt, beglückt, erhoben hat, werden, nachgezogen von der voran klingenden Silberstimme Alice Barbi’s, sich zusammenschaaren, um die Gestalt des geliebten Todten in Marmor uns wieder aufleben zu lassen!