Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12104. Wien, Donnerstag, den 5. Mai 1898 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12104. Wien, Donnerstag, den 5. Mai 1898 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 05.05.1898
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Italienische Oper.

Ed. H. Er sollte durchaus kein Glück haben mit seinem Jubiläum, der arme Donizetti! In den September vorigen Jahres fiel sein hundertster Geburtstag — und zwei der glänzendsten Pflegestätten Donizetti’scher Musik, das Wiener Hofoperntheater und die Mailänder Scala, haben dazu ge schwiegen bis auf den heutigen Tag; geschwiegen, weil sie sich außer Stande sahen, irgend ein Werk ihres ehemaligen Lieblings-Componisten würdig aufzuführen. Zu dieser merk würdigen und beschämenden Thatsache gesellte sich noch der scandalöse Verlauf der „Festvorstellung“ in Donizetti’s Geburtsstadt Bergamo: „La Favorita“ wurde vor einem entrüsteten Publicum mit Müh’ und Noth zu Ende gespielt. Also das Denkmal ist da, aber die Sänger fehlen!

Jetzt erst vollzieht sich in Wien eine verspätete, aber würdige Donizetti-Feier — nicht von unseren deutschen Sängern in der Hofoper, sondern von einer im Carl- Theater gastirenden italienischen Gesellschaft, mit Marcella Sembrich an der Spitze. Ihr allein verdankt also Wien eine pietätvolle Erinnerung an den „k. k. Hof-Compositeur“, dessen Werke hier durch mehr als sechzig Jahre das Publicum entzückt haben. Seine größten Sänger sind dem Maëstro längst nachgefolgt. Seitdem auch Adelina Patti sich zurück gezogen, herrscht auf diesem Gebiete nur Eine Meisterin allerersten Ranges: Marcella Sembrich. Allem Unglauben zum Trotz hat sie es durchgesetzt, daß die Wiener jetzt wie vor Jahren wieder an den schönsten Mai-Abenden ins Theater strömen, um italienischen Gesang, italienische Opern zu hören. Letztere präsentiren sich allerdings etwas gealtert; mehr denn je bedürfen sie der Hilfe bezaubernder Stimmen und vollendeter Gesangskunst. Führt ein Glücksfall diese herbei, dann erblühen die theilweise abwelkenden Melodien

Rossini’s, Bellini’s, Donizetti’s wieder zu jugendlicher Schönheit. Verdi, der jüngere Nachfahr jener Drei, wirkt, wenigstens in seinen Hauptwerken, unmittelbarer, weil er verschwenderischer mit Zündstoff umgeht und sparsamer mit Coloratur.

Donizetti zu Ehren hat die Sembrich ihr Gastspiel mit Lucia di Lammermoor“ eröffnet. Sie brachte hierauf „Don Pasquale“, dem nächstens die „Regimentstochter“ folgen soll. Die Theaterstatistik verzeichnet „Lucia“ als die erfolgreichste und verbreitetste aller Donizetti’schen Opern. In Paris wurde sie Ende der Dreißiger-Jahre oft an demselben Abend in zwei Theatern gesungen: in der italienischen Oper und (französisch) in der „Renaissance“. Unbestritten und noch unverwelkt sind ihre Schönheiten, Perlen lyrischen Gesangs, zu welchen wir nicht blos das berühmte Sextett, sondern vor Allem auch Edgar’s Sterbescene und manche Melodie der Lucia zählen. Trotzdem habe ich mich für das ganze Werk nie recht erwärmen können, überhaupt nicht für die tragische Muse Donizetti’s. Energischer klingt die „Lucrezia“, geistreicher und seelenvoller der vierte Act (leider nur dieser) der „Favorita“. Allzeit jedoch war mir der heitere Donizetti lieber als der pathetische; jener ist natürlicher, stylvoller, genialer. Schade, daß Marcella Sembrich zum „Don Pasqualeund der „Regimentstochter“ nicht auch den „Liebestrankfügt! Mich dünkt er die frischeste, duftigste Blume in dem ganzen Donizettistrauß. Seltsamerweise wird die reizende Partie der Adina heute von unseren berühmtesten Sängerinnen ignorirt, wahrscheinlich als nicht hinreichend effectvoll. Weder die Sembrich noch Adelina Patti haben sie in ihrem Re pertoire. Als ich Letztere einmal recht eindringlich dafür zu stimmen versuchte, antwortete sie fast unwillig: „Nein! Ich bin keine Buffa!“ Und doch ist der „Liebestrank“ nicht mehr und nicht weniger Buffomusik als „Don Pasqualeoder „Die Regimentstochter“ — nur eine noch schönere.

Mit Freuden begrüßen wir jedes Erscheinen der Sem brich in Wien. In den elf Jahren seit ihrem ersten Wiener Gastspiele (1887) hat sie nicht das Mindeste eingebüßt an dem weichen Silberklang ihrer Stimme, der makellosen

Reinheit, dem Glanz und der Treffsicherheit ihrer Bravour, endlich an der edlen Plastik ihrer Canti lene. Das ist der Segen einer musikalisch strengen Methode, insbesondere in vollkommener Gymnastik des Athmens. Dem Charakter ihres streng begrenzten Repertoires wie ihrer künstlerischen Individualität entspricht es, daß die eminent musikalische Natur der Sembrich stets ihre Herrschaft bewahrt neben oder über der dramatischen Aufgabe. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß sie letztere vernachlässige. Ihre Rollen sind im Gegentheil auch nach der charakteristischen Seite hin auf das sorgsamste ausgearbeitet, doch immer nur so weit, als in den Grenzen des bel canto Raum ist für individualisirenden Ausdruck. Die Sembrich bleibt auch als Darstellerin weder ihrer Lucia und Traviata noch ihrer Rosina und Norina etwas schuldig; oberstes künstlerisches Gesetz ist ihr jedoch das musikalische und in diesem das edle Maß, die Schönheitslinie. Auf neue „Auffassungen“ und verblüffende Effecte geht sie nicht aus, es erscheint jede ihrer Rollen in sich harmonisch vollendet. Deshalb fällt es schwer, Einzelheiten hervorzuheben aus ihren Darstellungen. Wir lauschen mit gleichem Entzücken ihrem Gesang in der ernsten wie in der komischen Oper. Welch rührende Lucia, welch bezaubernde Violetta! Vielleicht liegt es an meiner Vorliebe für Rossini’s „Barbier von Sevilla“, daß diese Vorstellung als Ganzes mich am vollständigsten befrie digte. Hier findet die Sembrich auch die beste Unterstützung in einem Ensemble von echt italienischer Lebendigkeit und Laune. Wie unwiderstehlich komisch ist der Signor Tra vecchia als Doctor Bartolo! Und Arimondi mit seinem wie Kanonendonner einschlagenden Baß als Don Basilio! Als Figaro wirkt Signor Magini-Coletti durch seine wohlausgebildete Stimme und schmucke männ liche Erscheinung. Der Tenorist Signor Giannini steht hinter den Uebrigen zurück; sein nicht unangenehmes, aber dürftiges Organ und unbeholfenes Spiel konnten ihm keinen Erfolg erringen. Aber wo findet man heute italienische Tenoristen mit hinreißend schöner Stimme und künstlerisch vollendetem Vortrag? Und wenn man sie findet, wer kann sie bezahlen?

Als Rosina hat die Sembrich schon im Jahre 1884 in Paris das größte Aufsehen gemacht. Der kürzlich verstorbene treffliche Musikkritiker Oskar Comettant schickte mir damals seinen begeisterten Bericht im Siècle. „Gott sei ge lobt,“ ruft er aus, „ich bin seit vorigen Samstag um dreißig Jahre jünger! Madame Sembrich sang mir — ich glaube, sie sang für mich allein, so versunken war ich im Anhören — die Rosina, und durch den Zauber der Erinnerung sah ich mich zurückgetragen in die ruhmvollen Tage des Pariser Théâtre Italien, da die größten Namen der neueren italie nischen Gesangskunst zusammenwirkten. Ah! Madame, ich bin einer der Alterspräsidenten der Musikkritik in Frankreich — nun wol, ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich in meinem Leben kein größeres Vergnügen, keine wärmere Be wunderung empfunden habe als am letzten Samstag, da Sie die Rosina sangen!“

Als virtuose und anmuthige Gesangsleistung der Sembrich steht ihre Norina (in „Don Pasquale“) kaum zurück hinter ihrer Rosina. Den Gesammteindruck dämpfte mir nur die Empfindung, daß der bedenkliche, katzenfalsche Charakter dieser Norina unserer Künstlerin innerlich fremd sei und von ihr nur mit einer gewissen Anstrengung ver körpert werde. Diese jugendliche Egoistin nimmt keinen An stand, unter gleißnerischer Maske sich den Alten förmlich zu erschmeicheln und zu erlügen, blos damit er alle Qualen und Impertinenzen, die sie ihm nach Abschluß des Contractes sofort zufügt, ihr mit einer erklecklichen Summe abkaufe. Das einzige Motiv, das einen mildernden Schein auf diese Gaunerei werfen könnte, ihre Liebe zu Ernesto, ist vom Dichter und Componisten nur sehr schwach accentuirt. Man kann sich einiger Besorgniß nicht erwehren, wie es eines Tages auch dem armen Ernesto ergehen werde unter dem Pantoffel Norina’s. Die Rosina im „Barbier“ steht fast wie eine Heilige daneben — ist doch sie die Gequälte, die aus Nothwehr und nicht ohne Vergnügen einen tyrannischen Vormund hintergeht, der sein vom Leben abgesperrtes Opfer nun auch zu Tode heiraten will. Uebrigens ist auch im Barbier“ die Liebe Rosina’s zu Almaviva nur ange

deutet. Rossini hat dem Figürchen allen erdenklichen Glanz und Esprit, aber keinen Atemzug Gemüth gegeben. — Noch weniger vermag eine Sängerin diesem Unband Norina Gemüth einhauchen. Die Sembrich suchte die Schärfe dieses Charakters nach Kräften zu mildern. An ihr lag es nicht, sondern an dem Darsteller des Pasquale, Herrn Travecchia, wenn die Herzlosigkeit der Norina noch verletzender wirkte. Zucchini gab seinerzeit den Pasquale nicht wie Herr Travecchia, als einen kranken, gebrochenen Greis, sondern als geputzten, selbstgefälligen alten Gecken, eine komische Figur, über die man nicht aus dem Lachen, somit auch nicht zur Besinnung kam über das mit ihm getriebene häß liche Spiel. Zucchini zappelte vor vergnügter Erwartung, Travecchia schien sich blos nach einer Krankenwärterin zu sehnen. Er wollte offenbar mehr Mitleid als Heiterkeit erregen. Als er eine Viertelstunde mit dem Kopfe auf den Tisch gelehnt, schluchzte und weinte, da er zielte er allerdings dieses Mitleid, aber mit der Lustspielstimmung, die auch in dieser Scene nicht ganz untergehen darf, war es vorbei. Auch das Ensemble der Barbier“-Vorstellung ward in „Don Pasquale“ nicht erreicht. Die Herren Magini und Giannini thaten ihr Bestes, es war aber diesmal nicht genug. Wer dachte nicht an den wundervollen Gesang Calzolari’s und Debassini’s als Ernesto und Malatesta! Opern, wie „Don Pasquale“, in denen es nichts zu schauen gibt und wenig vorgeht, sind ganz auf die Stimmen und die Gesangskunst der vier Mit wirkenden angewiesen. Wo dieser Zauber ganz oder (wie im Carl-Theater) zum größeren Theile fehlt, da pflegt „Don Pasquale“ überall kälter aufgenommen zu werden, als die reizvolle Musik es verdient. Donizetti hat sie 1843 in Einem Zug frischer Inspiration niedergeschrieben; nicht mehr als acht Tage verwendete er daran. Das letzte glänzende Aufflackern des erlöschenden Lichtes.

Das Gastspiel der Sembrich verspricht leider nur mehr drei Vorstellungen. Wir haben alle Ursache, uns zu beeilen und auf diese letzten Abende uns ganz besonders zu freuen.