Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12161. Wien, Samstag, den 2. Juli 1898 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12161. Wien, Samstag, den 2. Juli 1898 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 02.07.1898
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Mit Unger. (Persönliche Erinnerungen.)

Ed. H. Es war im Frühling des Revolutionsjahres, als ich in sanften Rigorosumsschmerzen den Professor Hye aufsuchte. Er geleitete eben mit auffallend respectvoller Wärme einen blutjungen, blonden, schmächtigen Studenten durch den ganzen Vorsaal bis zur Thür. „Wer war das?“ fragte ich. „Ja, kennen Sie denn den genialen Unger nicht?“ rief Hye in seinem begeisterten Ungestüm; „unseren Joseph Unger?“ Ich mußte verschämt verneinen und kam mir wie jener biblische König vor, „der nichts wußte von Joseph“. Aber lange sollte meine Ignoranz nicht dauern. Ich beeilte mich, einer Sitzung des vielgenannten Studenten-Comités bei zuwohnen, das mit seinen Petitionen und Resolutionen so geräuschvolles Wesen trieb im Frühling 1848. Was haben da die jungen Leute und auch ältere in enthusiastischem Eifer nicht Alles debattirt und resolvirt! Sie Alle wollten das Wort haben und Jeder das erste, womöglich auch das letzte. Aber sobald der kaum zwanzigjährige Unger gesprochen hatte, redete Keiner mehr. Da war Alles erledigt und schlechterdings nichts weiter zu sagen. Und keine berauschende Phrase hatte Unger ins Feld geführt — nein, nur klare, scharfe Gedanken in präcisester Fassung. Sein in bestechendsten Einfällen funkeln der Geist ruhte auf der Basis reichen Wissens und einer unüberwindlichen Logik. Am bewunderungswürdigsten ist mir stets Unger’s Schlagfertigkeit erschienen, das Augenblickliche seiner witzigen Replik. Die glänzende Rednergabe des Studenten Unger wuchs zusehends mit ihren größeren Auf gaben. Sie hat seine parlamentarische Laufbahn mit ununter brochenen Triumphen geschmückt. Und doch besaß der Redner an seinem schwachen, etwas hochgestimmten Organ keine aus giebige Hilfe. Seine Rede vermochte niemals einen Erfolg melodisch zu erschmeicheln oder gar zu erdonnern; gefesselt und überzeugt hat sie aber jederzeit. Unger konnte sich den Ehrentitel eines „Sprechministers“ gefallen lassen; er, der Denkminister.

Noch nicht dreißigjährig, war er ordentlicher Pro fessor an der Prager, dann an der Wiener Universität. Nicht viel später Minister und Führer der liberalen Partei im Herrenhause. Fremde, welche ihn in dieser Stellung auf suchten, argwöhnten anfangs einen Irrthum in der Person, wenn sie die jugendlich schlanke, bewegliche Figur, mit dem von langem dichten Blondhaar eingerahmten zarten Gesicht erblickten.

Im Allgemeinen liebe ich es nicht sehr, wenn meine besten Freunde Minister werden. Glückwünschend, bewun dernd folgen unsere Blicke dem kerzengerade aufsteigenden Luftschiffer. Aber je rascher und höher er steigt, desto weiter entfernt er sich von uns, und je länger er oben verweilt, desto mehr verschwimmen ihm die Züge der Untenstehenden. Das ist so selbstverständlich und einleuchtend. Ueber einen Naturproceß wird Niemand klagen, wenn auch das Körnchen Egoismus, das jeder Liebe anhängt, sich nicht gleich ab schütteln läßt. Als Minister hat sich Unger nicht verändert in seiner freundschaftlichen Gesinnung und Umgangsform. Auch ist er bei dem guten Geschmack geblieben, die Er hebung in den Adelsstand abzulehnen. Wie seine Collegen Glaser, Herbst, Hasner, Brestel, Berger, Billroth, Dumba mochte er den Tropfen demokratischen Oels, mit dem er in die Welt getreten, sich nicht mit einer Freiherrnkrone weg wischen lassen. Ich habe Unger immer gleich herzlich und aufrichtig gefunden, so oft wir irgendwo zusammentrafen; nur die Gelegenheit, sich zu treffen, wurde immer seltener. Wer bleibend eintritt in die höchsten officiellen, gesellschaft lichen und höfischen Kreise, muß durch neue Pflichten und Rechte allmälig abgedrängt werden von seinem früheren Verkehr. So tauchen denn heute, da ich im Geiste inniger als je den alten Freund umarme, meine Erinnerungen am liebsten zurück zu den Tagen unserer gemeinsamen Jugend. Mein erster längerer Verkehr mit Unger entwickelte sich auf einer gemeinschaftlichen Reise nach Berlin im Sommer 1855. Da hatte ich zum ersten- und einzigen male in meinem Leben den Jungberühmten, um den sich gleicherweise junge Damen und alte Gelehrte stritten, vier zehn Tage lang ganz für mich allein und genoß ihn von seiner nicht allgemein bekannten gemüthlichen Seite. Vor

Jahren habe ich bereits an anderer Stelle davon erzählt; doch darf ich am heutigen Festtage mir einige Reminiscen zen wol vergönnen. Wir Beide wohnten in Berlin in Einem Zimmer des „Hôtel de Petersbourg“ und besuchten gemeinschaftlich alle Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt. Nur unsere Besuche führten uns verschiedene Wege: ihn nach der juristischen, mich nach der musikalischen Seite. Da gab es manche lustige Neckerei, wenn gleichzeitig vor unserem Hotel für Unger die Equipage des Ministers Savigny und für mich die Meyerbeer’s vorfuhr. Berlin, das wir Beide sehr neugierig zum erstenmale sahen, hat uns damals wenig entzückt. Gegen die heutige, so riesig gewachsene und belebte Kaiser-Residenz er schien das Berlin von 1855 wie eine behäbig schlummernde Provinzialstadt. Welche Oede in diesen langen, langen breiten Straßen! Nirgends drängendes Leben; weder Luxus noch Lustigkeit. Der regnerische Mai-Anfang machte oben drein Alles noch verdrießlicher. Ein kühler Sonntag nachmittag führte uns in einen beliebten öffentlichen Garten; da ruderten einige Handlungscommis langweilig auf einem Teich herum, und mehrere Personen sahen ihnen stumm fröstelnd zu. Die Theater boten wenig Anlockendes. In der Oper sahen wir Taglioni’s neues Ballet „Ballanda“, glänzend ausgestattet und tödtlich langweilig. Den „Wasser träger“ von Cherubini hob nur die Mitwirkung der treff lichen Louise Köster über das Niveau des Mittelmäßigen. In Shakespeare’s „Hamlet“ vermochte einzig Döring als Polonius uns stärker zu interessiren. Aber je tiefer die Dar stellung sank, desto höher flogen die Witzraketen von Unger’s Lippen. Und immer war es der Geist, der da verneinte. Was für ein reizender, gefährlicher Theater-Kritiker wäre Unger geworden! Seine Feuilletons hätten uns den aus erlesensten Genuß und ihm die fatalsten Duelle verschafft. Auffallend war uns im königlichen Schauspielhaus der schlechte Besuch und die allzu bescheidene Toilette (mitunter Küchen- und Kinderstubenkleidung) der Damen im Parquet. Wie ist das jetzt ganz anders! Unger, von jeher allen Bier häusern abhold, hatte sich eine besonders feine Restauration empfehlen lassen, in der wir nach dem Theater uns stärken sollten. Da saßen wir denn in einem unheimlich großen

eleganten Saal („bei Mäder“) so gut wie allein. „Wer nie sein Brot mit Thränen aß,“ so scherzte Unger jeden Morgen, wenn er, in seinen Plaid gewickelt, beim Frühstück den „Vergnügungsanzeiger“ studirte, in welchem Anpreisungen von schmerzlosen Zahnoperationen u. dgl. den größten Raum einnahmen. Einen gemeinschaftlichen Besuch machten wir dem Schriftsteller Adolph Stahr und seiner Gattin Fanny Lewald. Es fiel uns auf, daß die beiden artigen und geistreichen Leute einander unausgesetzt bewunderten und außerdem jedes auch sich selbst auf eigene Rechnung. Mit großem Interesse hörte Unger auch eine Privat- Production des berühmten Berliner „Domchors“, welche Meyerbeer eigens für uns hatte veranstalten lassen. In den Morgenstunden naschten wir von den Vorlesungen einiger berühmter Professoren an der Universität. Am begierigsten waren wir auf den großen Historiker Ranke, und von ihm am wenigsten erbaut. Denn das war kein Vortrag, sondern ein von mimischen Grimassen begleiteter, gemurmelter, gelispelter, geächzter Monolog, von dem wir immer nur einzelne Worte verstanden. Alexander v. Humboldt be kamen wir eines Morgens bequem zu sehen bei der feier lichen Enthüllung der Monumente von Gneisenau und York. Desgleichen den Prinzen von Preußen, nachmaligen Kaiser Wilhelm, an dem historischen Eckfenster seines eben erdigen Arbeitszimmers.

Nach vierzehn Tagen verließ ich Berlin, um rechtzeitig zum Düsseldorfer Musikfeste einzutreffen. Unger blieb mehrere Tage länger, seiner harrte noch ein großes Diner, mit welchem, auf Savigny’s Anregung, die angesehensten Juristen Berlins den Wiener Kritiker des „Entwurfes eines bürger lichen Gesetzbuches für Sachsen“ feiern wollten. Wie stolz war ich auf meinen jüngeren Reisekameraden! Erst 26 Jahre alt, zählte Unger damals schon zu den Notabilitäten der deutschen Rechtswissenschaft. Seine außerordentliche geistige Begabung stieg überraschend schnell und glänzend wie ein Meteor in die Höhe — gottlob, nicht um zu erlöschen. Im Gegentheil, sein großes Werk über das Privatrecht und seine parlamentarischen Leistungen kamen jetzt erst an die Reihe.

Eine gemeinschaftliche Reise pflegt schneller und fester zu verbinden, als jahrelanges, ununterbrochenes Neben

einandergehen im Gewühle der Großstadt. So wirkte denn unsere Berliner Reisekameradschaft noch jahrelang erfreulich nach. Einige gesellige Mittelpunkte, die über das Wien der Fünfziger- und Sechziger-Jahre ein warmes Licht verbreitet haben, führen uns häufig zusammen. Es geschah dies haupt sächlich in den Salons der Familien Todesco, Wertheimstein und Ladenburg. Da schaarten sich regelmäßig um Unger Männer wie Leopold v. Hasner, Professor Hlasiwetz, die Rechtsgelehrten Brinz und Adolph Exner, die Maler M. v. Schwind und Engerth, die Dichter Mosenthal und Bauernfeld, die Componisten Dessauer und Esser. (Ich schreite durch eine Allee von Grabsteinen!) Mit einer Art jugendlicher Zärtlichkeit hingen Bauern feld und Dessauer — sie konnten seine Großväter sein — an Unger. Dieser junge Professor bezauberte damals Alles und Alle. Selbst seine sarkastischen Bonmots nahm man nicht übel; sie waren gar zu hübsch, zeugten immer für seinen Geist und nie gegen sein Gemüth. Nur einer von den zahllosen köstlichen Einfällen möge, als weniger bekannt, hier ein Plätzchen finden. Es hatte nämlich im Abgeordnetenhause ein heiliger oder scheinheiliger Heiß sporn den Unterrichtsminister v. C. wegen der Ernennung eines Juden zum Universitäts-Professor scharf interpellirt. Der Minister antwortete unverzüglich, wie der gesunde Menschen verstand es ihm eingab, daß in solchem Falle die wissen schaftliche Tüchtigkeit zu entscheiden habe und nicht die Con fession. Ueberrascht von diesem freisinnigen Worte, brach die gesammte Linke in anhaltenden Beifall aus. Das mag dem erschreckten Unterrichtsminister sofort eine gemessene Zurechtweisung eingetragen haben, denn er beeilte sich, gleich in der nächsten Sitzung zu erklären, er sei offenbar mißver standen worden, denn bei aller Wichtigkeit der Wissenschaft bleibe doch die Religion immer die Hauptsache u. s. w. „Großartig!“ rief Unger aus. „Ein zweiter Martin Luther! Hier stehe ich, Gott helfe mir, ich kann auch anders, Amen.“

Noch eine verborgen blühende Specialität Unger’s fesselte mich an ihm: sein musikalisches Talent. Hat er überhaupt irgend ein Talent nicht besessen, ganz und gar nicht? Ich glaube, Unger wäre ein großer Chemiker oder

Bildhauer, ein berühmter Balletmeister oder Bischof ge worden, wenn er sich’s vorgenommen und Passion dafür gehabt hätte. Mußte er doch als Knabe sich eines Tages vor Liszt produciren, der ihm eine glänzende Virtuosen laufbahn in Aussicht stellte. Zu seinem und unserem Glück hat Unger eine andere eingeschlagen. Wir haben manchmal zusammen vierhändig gespielt, und da war es charakteristisch für Unger’s lebhafte und nervöse Natur, daß er im Allegro wie ein feuriger Renner dahinflog, im Adagio hingegen zu keinem tief athmenden Behagen kam, sondern von innerem Drange vorwärts getrieben wurde, gleichsam ungeduldig nach dem, was weiter kommt. Einmal hat er sein sonst be scheiden rückhaltendes Musiktalent doch herausgekehrt, um mir einen wesentlichen Freundschaftsdienst zu leisten. Es betraf meine Bewerbung um eine außerordentliche Professur für Geschichte und Aesthetik der Musik an der Wiener Universität. Ich hatte durch einige Jahre als Privatdocent mit unbestrittenem Er folge Vorlesungen über Musikwissenschaft gehalten, so daß ein Bedürfniß nach einer solchen Lehrkanzel, gerade in Wien, der Musikstadt par excellence, kaum abzuleugnen war. Aber die Bureaukraten, insbesondere vom Finanzministerium, er starrten bei diesem Gedanken. Da erbot sich mir Unger, zu meinen Gunsten beim Unterrichtsminister Thun vorzu sprechen, dessen Vertrauen er in hohem Grade besaß. Er bediente sich für sein Anliegen einer recht heiteren Ein kleidung. „Ich komme in einer musikalischen Angelegenheit,“ begann er. „So?“ unterbrach ihn ganz erstaunt der Minister. „Ja, Excellenz, aber zuvor sollten Sie eigentlich ein Clavier hieher schaffen lassen, damit ich Ihnen eine Phantasie von Liszt oder Thalberg vorspielen und so meine Vertrautheit mit musikalischen Dingen beweisen kann.“ Dazu hat es glücklicherweise keines Instrumentes bedurft. Unger’s Worte wirkten auf den Minister überzeugender, als das ge läufigste Clavierspiel.

Es steht mir nicht zu, Unger’s wissenschaftliche Leistungen zu rühmen. Doch konnte ich gleichsam im Vorübergehen mitunter einen Atemzug seiner geistigen Arbeit beobachten, welcher so außerordentliche Resultate mir mit erklären half. Zum Durchlesen irgend eines interessanten Buches, das ich ihm lieh, bedurfte Unger kaum so viel Stunden, als ein

anderer Vormittage. Er schien immer zwei Druckseiten auf Einmal zu überfliegen. Es war ein sehr schnelles und doch kein oberflächliches Lesen. Nur durch die Gabe einer so raschen und zugleich energischen Apperception konnte Unger zu seiner unglaublichen Belesenheit gelangen in den verschiedensten Fächern aller Literaturen. Nicht minder erstaunlich als diese Aufnahmsfähigkeit war die spontane Gewalt seines Produ cirens. Ich besuchte ihn eines Morgens in seiner Jung gesellenwohnung im Münzamte, als er eben ein Capitel seines epochemachenden Werkes über das Privatrecht dictirte. Jeden Morgen hatte der Copist zur bestimmten Zeit einzu treffen; ein Stündchen vorher hatte Unger sein Pensum überdacht, und nun dictirte er aus dem Kopf ganze Capitel seines grundlegenden Werkes. Es klang wie eine Improvi sation und konnte doch sofort in die Druckerei abgehen, nachdem Unger nur noch die bibliographischen Fußnoten mit seiner kleinen nadelspitzen Schrift eigenhändig unter den Text geschrieben. Wie durchschauerte es mich, wenn er Hieb auf Hieb gegen gewisse „verpfuschte“ Partien unseres All gemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches führte, in dessen gläubiger Verehrung ich auferzogen war.

Es ist begreiflich, daß so stürmische Schaffenskraft nicht ewig sich in gleicher Fülle und Stetigkeit ergießen kann. Unger hat in jungen Jahren seinem Genius allzu viel ab verlangt. Die Vorsicht gebot, den Strom doch allmälig zu stauen. Seit zwanzig Jahren ist Unger mit keiner größeren Arbeit hervorgetreten. Wer aber seine im Herrenhause gehaltenen Reden aus dieser Zeit, wer die geist- und herzvollen, form vollendeten Nachrufe liest, die Unger seinen vorangegangenen Freunden Julius Glaser und Adolph Exner in der Neuen Freien Presse“ gewidmet, der wird darin die geistige Frische aus Unger’s Jünglingsjahren unversehrt wieder gefunden haben. Kein Nachlassen der Kräfte, nur eine heil same Schonung derselben erklärt das langsamere Tempo seiner Productivität in den letzten Jahren. Und daß sein unruhiger Feuergeist diese von der Natur gebotenen Schranken nicht jetzt noch im Schaffensdrang niederwerfe, das verdanken wir der Sorgfalt und Liebe der großen schönen Frau, die ihm der Himmel zur Lebensgefährtin gegeben. Möge sie ihn noch lange behüten und beglücken!