Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12273. Wien, Sonntag, den 23. October 1898 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12273. Wien, Sonntag, den 23. October 1898 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 23.10.1898
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hofoperntheater. („Der Freischütz.“)

Ed. H. Auf die wiedererweckte „Weiße Frau“ ist rasch ein erneuter „Freischütz“ gefolgt. Nach dem blendenden Er folge des jüngsten Nibelungen-Cyklus erinnerte sich Director Mahler auch jener zahlreichen und dankbaren Hörer, welche (nach Bülow’s geflügeltem Worte) die „Nibelungensucht“ noch nicht oder nicht mehr haben. Kurz vor der französischen Weißen Frau und dem deutschen Freischütz hat Mahler’s persönlichste Sorgfalt auch die italienische Aïda zu neuer Blüthe entfaltet — drei Opern, welche einen Wendepunkt in der Entwicklung ihrer Autoren, ja in der Musikgeschichte der drei Nationen bezeichnen. Sie alle — vornehmlich der Frei schütz und die Weiße Frau — waren bei uns seit längerer Zeit in eine Art Aschenbrödelthum gerathen; Noth- und Aushilfsvorstellungen, mit denen man nicht viel Umstände machte. Der gestrige überaus erfolgreiche Freischütz-Abend hat im musikalischen wie in dem scenischen und decorativen Theile manches Neue gebracht. Von der früheren bekannten Be setzung sind nur Frau Forster (Agathe) und Herr Schrödter (Max) im Besitz ihrer Rollen geblieben. Ver dienten Beifall wie immer erntete Frau Forster’s muster haft correcte und von edelsten Intentionen getragene Ge sangsleistung, soweit ihr Organ nicht hinter diesen Inten tionen zurückblieb. Ungetrübte Freude hatten wir an Herrn Schrödter’s frisch quellender Stimme wie an seiner noch immer wachsenden Kunst des Vortrags und der Darstellung. Den Kaspar sang zum erstenmale Herr Ritter. Er mußte die fremdartige Rolle seinem liebenswürdigen Naturell abzwingen und wurde im Gefühl dieses Zwanges durchwegs zu unruhig und gewaltsam. Im Dialog übertrieb er allzu

sehr die Stimmkraft; dabei schleuderte er Hände und Füße und das gesprochene Wort nach allen Seiten. Bei aller Ver wilderung soll Kaspar doch die Dressur des ehemaligen Tilly’schen Soldaten erkennen lassen. Einige Mäßigung wird den nächsten Wiederholungen der Rolle sehr zu statten kommen. Auch ein Streiflicht von Humor diesem ewig stirnrunzelnden und augenrollenden Bösewicht Ritter’s. Im Vortheil gegen den früheren Darsteller steht Herr Ritter durch seine Gesangstechnik, welche die rollenden Scalen am Schluß des Trinkliedes und der Arie leichter und reiner bewältigt. Auch die für einen Baß unbequem hohen Töne in beiden Nummern bringt Ritter’s Bariton klangvoll und mühelos hervor, was freilich wieder die so wichtigen tief liegenden Stellen büßen. Der rühmliche Fleiß, den der geschätzte Künstler an diese ihm wenig zusagende Rolle gewendet, fand die lauteste Anerkennung. Neu war auch Fräulein Michalek als Aennchen; ein anmuthiges Bild kindlicher Herzlichkeit und Lebensfreude. Die gar nicht leichte Gesangspartie gelang ihr überraschend gut. Auch Herr Hesch als Eremit, Herr v. Reichenberg als Kuno, Herr Neidl als Fürst Ottokar, Herr Spielmann als Kilian, endlich Frau Elizza als Brautjungfer sind neue Erscheinungen, welche dem „Freischütz“ zweifellos zum Vortheil gedeihen. Die Vorstellung, welcher Director Mahler zahlreiche sehr sorg fältige Proben gewidmet hatte, bot ein vortreffliches Ensemble. Die Ouvertüre wurde stürmisch applaudirt. War die Ein leitung nicht gar zu langsam genommen? Zum erstenmal nach vielen Jahren wird die Oper jetzt wieder in drei Acten, wie sie geschrieben ist, gegeben. Der zweite Act wird nicht mehr eigenmächtig in zwei selbstständige Aufzüge zerrissen; nur ein Zwischenvorhang trennt auf eine kurze Pause das Abschiedsterzett von der Wolfsschlucht. Vortrefflich wirken die Decorationen und die ganze Scenerie des ersten und des letzten Actes. In der Ausstattung der Wolfsschlucht ließen frühere Directoren sich verleiten, zu viel zu thun; Herr Mahler thut, wie uns scheint, zu wenig. Die neue Decoration, weder malerisch an sich, noch stimmungsvoll, zeigt uns ein Durcheinander von nackten Felswänden, die, mit den Spitzen fast zusammenstoßend, unten einen kleinen Platz für das Kugelgießen einengen. In dem löblichen Bestreben,

das scenische Bild möglichst abzuschließen und alle Aufmerk samkeit auf die Musik zu concentriren, scheint mir die jetzige Einrichtung doch etwas fehlzugehen. Indem Herr Mahler alle gespenstischen Erscheinungen wegläßt, welche den Kugelguß begleiten sollen, hat er keineswegs ein die Musik störendes, sondern ein nothwendiges Beiwerk entfernt. Der schwarze Eber, die feurigen Räder, die wilde Jagd — das Alles will gesehen sein, denn es ist in der Musik vor gebildet, mit unvergleichlicher Charakteristik ausgemalt. Es steht im Originaltext genau vorgeschrieben. Und Weber selbst hat in Berlin gegen Gropius steif und fest bei den Gespenster-Erscheinungen beharrt. Zur Versinnlichung der wilden Jagd gibt es kein vollkommeneres scenisches Mittel, als die bislang hier verwendeten Dissolving-views, diese körperlos dahinfliegenden, sich bald ausdehnenden, bald zusammenziehenden Luftgestalten von Jägern, Hunden und Rossen. Gestern sahen wir nichts als dicke Rauchwolken, welche nicht etwa quer über den Horizont huschten, sondern von unten nach oben aufquollen. Die Erinnerung an frühere kindische, grelle Wolfsschlucht-Effecte scheint Mahler jetzt ins andere Extrem zu treiben. Vor etwa 25 Jahren (unter Herbeck) erschien Samiel als eine vom Scheitel bis zur Sohle rothgekleidete Fratze, welche Lachen erregte; ein imposanter lebendiger Wasserfall übertäubte in der Wolfsschlucht mit seinem Rauschen die Musik wie den Dialog; im Hintergrund walzten etliche Teufel und umschlich ein Halbdutzend gräulicher Bestien den Kugel herd. Als wilde Jagd senkten sich aus den Soffiten leib haftige berittene Männer raketenschwingend herab, von Max und Kaspar fast mit Händen zu greifen. Schließlich kutschirte noch die rothe Siegelstange auf einer Art Vélocipède über die Bühne, welche nur noch ein Chaos von Rauch und Funken bildete. Das war gewiß viel zu viel. Spätere Directionen haben, diesen Spectakel beseitigend, die rechte Mitte ein gehalten. Jetzt ist die Wolfsschluchtscene nicht mehr über füllt, aber sie ist leer und die Orchestermusik in ihrem bedeutungsvollen sinnlichen Eindruck abgeschwächt. Gestehen wir nur unverhohlen: Die alte Wolfsschlucht war uns lieber.

An eine geliebte alte Oper, die wir nach langer Zeit wieder hören, heften sich für uns recht bedeutsame Er

innerungen. Wie seltsame Schicksale hat Weber’s „Freischützerlebt! Zwar mußte er nicht, wie manches andere Meister werk, lange um seinen Erfolg werben — im Gegentheil, er hat gleich bei seiner ersten Aufführung in Berlin1821 bei spiellosen Jubel entfesselt und sich schnell über alle deutschen Bühnen verbreitet. Ja, was noch viel merkwürdiger: Paris und London, sonst so zaghaft im Aufnehmen neuer deutscher Opern, langten schleunigst nach dem „Freischütz“. Es ist wol die erste deutsche, das heißt in deut scher Sprache componirte Oper, welche bei Lebzeiten des Componisten Frankreich und England erobert hat. Aber in welchem Gewand, in welcher Entstellung! Weber hatte auf der Reise nach London, zur ersten Aufführung seines Oberon“ eilend, den Weg über Paris genommen und dort im Februar 1826 einige Tage verweilt. Da konnte er sich von seiner unverhofft schnellen Popularität überzeugen. Wenn auch nicht die Hunde auf der Straße dort den „Jungfernkranz“ bellten, wie Heine in Berlin spottete, so trugen doch die eleganten Pariser Damen roth und schwarz gestreifte „Freischützkleider“, und der Jägerchor („Chasseur diligent“) erklang mit lästiger Zudringlichkeit aus allen Ecken und Enden. Er wurde sogar auf religiösen Text in den Kirchen gesungen! („Chrétien diligent, devance l’aurore; à ton Sauveur encore, adresse tes chants. Ave Maria, gratia plena. La, lala, la, lala, la lala!“ etc.) Der „Freischütz“, von dem Musikschriftsteller Castil-Blaze anfangs vollständig und wortgetreu über setzt, hatte im Odéon eine furchtbare Niederlage erlitten; nur die Ouvertüre und der Jägerchor hatten Gnade gefunden vor dem zischenden und pfeifenden Publicum. Castil-Blaze mußte nun zu seinen Arrangeur-Talenten Zu flucht nehmen; der „Künstler“, der einen Augenblick in ihm geherrscht, wich nunmehr dem Dorfchirurgen. Er nahm sich Weber’s Partitur her, zerschnitt sie beliebig, setzte sie in anderer Ordnung wieder zusammen und quacksalberte so lange daran, bis er das Ding dem Geschmacke des Publi cums mundgerecht glaubte. In neun Tagen war das sonder bare Ragoût fix und fertig. Es erzielte den glänzendsten Erfolg und hat dem „Freischütz“ in Paris zu einer Reihe von 327 Vorstellungen verholfen. Dadurch ermuntert, machte sich Castil-Blaze nun frisch an die „Euryanthe“. Er instrumen

tirte sie nach dem Clavierauszuge — denn die Orchester stimmen waren zu theuer — fügte Stücke aus dem Freischütz“, dann andere von Beethoven und Rossini beliebig ein und betitelte das Ganze „La forêt de Sénart“. Diese freche Mißhandlung seiner „Euryanthe“ erschöpfte Weber’s Geduld. Er schrieb an Castil-Blaze, erst höflich, dann entschieden und dringend. „Gern vergesse ich erlittenes Unrecht,“ schloß sein Brief; „ich will nicht mehr vom „Frei schütz“ reden, aber lassen Sie es damit genug sein und hören Sie endlich auf!“ Mehrere Proteste, welche Weber an Castil-Blaze theils direct, theils durch den Verleger Schlesinger richtete, blieben unbeantwortet. Ein von Max Weber noch nicht gekannter Theil dieser interessanten Correspondenz ist durch A. Jullien veröffentlicht worden. Endlich wollte der französische Bearbeiter doch nicht unter den moralischen Streichen Weber’s gänzlich verstummen und erwiderte in seiner Art, das heißt mit einem Gemenge von guten und schlechten Gründen, die ihn als Künstler zwar nimmermehr entschuldigen konnten, aber doch zum Theile als Kaufmann. Er beruft sich ausschließlich auf das Gesetz, welches bestimmt, daß jedes literarische und musikalische Eigenthum jenseits der Landes grenze erlösche. Er selbst habe sich auch niemals beklagt, daß seine Bücher in Deutschland nachgedruckt und nachge bildet worden seien; aber dafür wolle er offene und gerechte Repressalien üben an deutschen Erzeugnissen und habe in Mainzvierzig Kilogramm Partituren ge kauft, von denen er jeden beliebigen Gebrauch zu machen gedenke. Schreiender läßt sich wol schwer lich die Rechtlosigkeit schildern, unter welcher vor 70 Jahren die Componisten seufzten! Weber hielt es in Paris, wo er täglich fürchten mußte, mit seinem „Bearbeiter“ zusammenzutreffen, nur wenige Tage aus. Er fuhr über Calais nach London. Hier hatte sich die Beliebtheit der „Freischütz“-Melodien förmlich als Landplage ausgebreitet. Vier bis fünf Theater wetteiferten in willkürlichen Ausschmückungen und Verkrüppelungen der Oper, und alle hatten ihr Publicum. Bei der ersten Auf führung im „English Opera-house“, beging der berühmte Tenorist Braham als Max die Geschmacklosigkeit, das deutsche Lied „Gute Nacht“ und eine englische Polacca ein zulegen. Im zweiten Acte sang Miss Stephens (Agathe) ein triviales Lied: „War’s vielleicht um Eins, war’s vielleicht

um Zwei“, statt des wegbleibenden Duetts. Das Duett zwischen Max und Agathe wurde nach einer anderen Composition gesungen. Die von Bishop für das Drury-Lane-Theater verfertigte Bearbeitung hatte von Weber’s Original fast nichts übrig gelassen. Im Covent garden-Theater waren dem „Freischütz“ sogar ganz neue Figuren eingeschoben, eine Nixe aus dem Hochlande, ein Gastwirth u. s. w. Im Lyceum wurden der „Jungfern kranz“ und das Duett der beiden Mädchen gesprochen. Kein Wunder, wenn der Componist in London nervös wurde, sobald man nur das Wort „Freischütz“ aussprach.

Gerne möchten wir hier enden mit der Aufzählung der am „Freischütz“ verübten Frevel. Allein die Gerechtigkeit fordert, daß wir auch — Wien nicht vergessen. Am 3. October 1821, zum Namensfeste der Kaiserin, ging der Freischütz“ hier zum erstenmale in Scene und fand enthusiastischen Beifall. Das vermochte nur die Zauberkraft der Weber’schen Musik; denn das Stück selbst war durch die Wiener Censur und höfische Einflüsse auf das unsinnigste abgeändert. Der Kaiser (so erzählt Max v. Weber) hatte sich das Schießen auf der Bühne verbeten; die knallende Büchse verwandelte sich in eine prosaische Armbrust, aus dem Kugelgießen, diesem poetisch grauenvollen Nachtstück, machte man ein mattherziges Auffinden bezauberter Bolzen in einem hohlen Baum! Die Censur endlich hatte nichts mehr und nichts weniger ge strichen als — den Klausner und den Samiel! Ersterer ward in einen „weltlichen“ Einsiedler umgestaltet, der Samiel durfte nur als „Stimme eines bösen Geistes“ mitspielen. Weber wendete sich um Abhilfe an den von ihm hochgeschätzten Hofrath v. Mosel. Sein in überaus be scheidenem Tone gehaltener, langer Brief gipfelt in dem Satz, es herrsche im Auslande die Ueberzeugung, „daß es fast unmöglich sei, ein Werk in Wien auf die Bühne zu bringen“. Das ist gottlob vor bei seit fünfzig Jahren. Wir können nach diesen unglaub lichen Schicksalen des „Freischütz“ aufathmend uns wenigstens der Genugthuung hingeben, daß die früher allgemein herr schende ästhetische und materielle Rechtlosigkeit der Opern componisten, sowie die willkürliche Verschändung ihrer Werke für immer ihr Ende erreicht hat.