Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12354. Wien, Freitag, den 13. Januar 1899 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12354. Wien, Freitag, den 13. Januar 1899 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 13.01.1899
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Debora“, Oratorium von Händel.

Ed. H. Nachdem wir längst sein zweihundertjähriges Jubiläum gefeiert, thut der alte Herr noch immer Wunder. Und nicht blos mit seinen bekannten Meisterwerken — nein, auch noch mit ganz neuen. Auf die Zeit des regsten Händel- Cultus in Wien (unter Mozart und van Swieten) war be kanntlich eine lange Periode seiner Vernachlässigung gefolgt. Da sehen wir in den letzten Jahren ihn unversehens wieder auf tauchen, mit lauter Novitäten! 1873 dirigirt Brahms die erste Aufführung des „Saul“, 1885 bringt Hans Richter die „Theodora“, 1889 den „Josua“, und heute hören wir unter Perger’s Leitung zum erstenmal Händel’s „Debora“. Sie hatte am längsten geschlummert im Schatten ihrer be rühmteren Schwestern. Ihre Erweckung ist vornehmlich das Verdienst des unermüdlichen Händel-Forschers und Händel- Agitators Chrysander; mit seiner Neubearbeitung der Debora“ ist zuerst Hamburg, dann Köln, Berlin, Dresden, Leipzig der Wiener Aufführung vorangegangen.

Geschichte und Inhalt der „Debora“ sind bald erzählt. Seiner italienischen Opern-Unternehmung in London müde, hatte Händel mit „Esther“ sich dem alttestamentlichen Ora torium zugewendet und ihr als zweiten Vorschritt auf diesem neuen Gebiet 1732Debora“ folgen lassen. Die Ankündi gung lautete verlockend genug: „Auf Befehl Sr. Majestät. Im königlichen Theater in Haymarket wird am 17. März gegeben werden: „Debora“, ein neues Oratorium in Englisch, componirt von Herrn Händel, ausgeführt durch eine große Anzahl der besten Stimmen und Instrumente. Dies ist die letzte dramatische Aufführung, welche in dem Theater vor Ostern stattfinden wird. Das Haus wird in einer besonderen Weise ausgeschmückt und beleuchtet sein.“ Allein man hatte die Eintrittspreise sehr erhöht, und das Haus blieb leer. Erst elf Jahre später kam das Werk zu einer Wiederholung.

Die Heldin des Oratoriums ist Debora, Prophetin und zugleich Richterin in Israel. Wie Renan in seiner Histoire du peuple d’Israël“ uns erklärt, war damals die Stellung der Frauen in den patriarchalischen Tribus keines wegs, was sie später geworden, als das Haremsleben, von Salomon an, die Sitten gänzlich erniedrigt hatte. Eine an gebliche Schwester des Moses, Mirjam, behauptete in der Legende vor dem Auszug aus Egypten eine Stellung, deren Wichtigkeit nach dem gegenwärtigen Zustand der Texte kaum in ihrer vollen Bedeutung zu ermessen sei. Es gab unein geschränkt selbstständige Frauen, welche über ihr Vermögen frei verfügten, ihren Gatten selbst wählten und alle Reservat rechte einer männlichen Existenz ausübten, darunter auch das Prophetenthum und die Dichtkunst. Die Züge aus dem Leben dieser Heldinnen bildeten einen wesentlichen Bestandtheil des epischen Cyklus der Nation. Die Seherin in Israel thronte gewöhnlich unter einer Palme, welche die Palme Debora’s hieß, zwischen Rama und Bethel, da hinauf wanderten die Israeliten zu ihr, damit sie ihnen die Ent scheidungen Gottes kundgebe. Die Prophetin war wie alle Patrioten fanatisch dem Jehovahdienst ergeben und behan delte als Verbrechen jede religiöse Neuerung, jede Hinneigung des Volkes zu dem Cultus von Kanaan. Debora nahm die Befreiung des Volkes in ihre Hand. Sie schickte im Namen Jehovah’s an Barak, Sohn des Abinoam, den Befehl, mit seinen Anhängern gegen den Tabor zu marschiren. In der Schlacht wurde der feindliche Anführer Sisera vollständig geschlagen. Erschöpft floh er zu Fuß bis zum Eingang einer Hütte, Jaël, ein kenitisches Weib, hieß den Flüchtling ein treten, verbarg ihn unter ihrer Decke und labte den Er schöpften mit saurer Milch. Er schlief vor Ermüdung ein. Da ergriff Jaël einen der großen Nägel, welche zur Be festigung des Zeltes dienen, und trieb ihn mit dem Hammer so gewaltig in die Schläfe Sisera’s, daß das Eisen den Kopf durchdrang und ihn auf dem Boden festnagelte. Bald darauf kam Barak und war höchlich erfreut von diesem Anblick. Aus der empörenden Grausamkeit dieses Vorganges, welchen

der nationale und religiöse Fanatismus des Alten Testa ments verherrlicht, mag es wenigstens theilweise sich erklären, daß „Debora“ trotz ihrer musikalischen Schönheiten nur selten aufgeführt wurde. Chrysander hat in seiner Bearbei tung diesen abstoßenden Meuchelmord, an dem weder die Seherin noch der kriegführende Held den geringsten Antheil hat, gänzlich gestrichen. Damit entfällt die ganze Figur der Jaël, welche in jeder Abtheilung des Oratoriums auftritt und mit drei großen Arien bedacht ist. Freilich verlieren wir mit dieser wilden Katze zugleich den einzigen dramatisch auf regenden Zwischenfall, welcher die sanfte Monotonie der Handlung unterbrach. Denn in dem ganzen Oratorium ge schieht eigentlich nichts Anderes, als daß die frommen Juden beten: einmal flehend um den gewünschten Sieg, dann dankend für den errungenen.

Mit seiner Dichtung hat Händel’s Poet Samuel Humphrey kein Meisterwerk geliefert. Die handelnden Personen lassen uns gleichgiltig, auch die Hauptfigur Debora entbehrt des lebendigeren Interesses, der bedeutenden Individualität. In dem die geschickte Verbindung der Chormassen mit den Solo gesängen zu organischer Einheit fehlt, erreichen selbst manche der Chöre nicht jene Wirkung, die ihrem musikalischen Ge halte nach von ihnen erwartet werden durfte. Auch die übrigen Oratorien Händel’s (mit Ausnahme der beiden christlichen „Theodora“ und „Messias“) behandeln, wie Debora“, durchwegs alttestamentliche Vorgänge, verweilen also gleichmäßig bei den Klagen der unterjochten und den Dankes hymnen der geretteten Juden. Allein innerhalb dieses be grenzten Stoffgebietes ragen doch „Saul“, „Samson“, „Josua“, Judas Makkabäus“ wirksam hervor durch mannigfaltigere Handlung, interessantere Persönlichkeiten, schärfere dramatische Gegensätze. Da treffen wir dann neben der Volksmenge auch geprägte Individualitäten, neben bloßen Vorgängen auch Thaten. In „Debora“ fesseln uns weder die Charaktere, noch bewegt uns ein dramatisches Interesse. Auch rein musikalisch kann „Debora“ trotz einzelner grandioser Chöre sich mit den späteren Oratorien nicht messen. Im Gegensatze zu manchen

Künstlern, die mit einem ersten Wurf ihr Bestes geben und dann allmälig abnehmen, ist Händel — ganz abgesehen von seiner italienischen Opernjugend — mit zunehmenden Jahren noch erstaunlich gewachsen in seinen Oratorien. Man denke nur an die zehn und zwanzig Jahre nachDeborageschaffenen „Messias“, „Josua“, „Jephta“!

Jedermann weiß, wie sehr sich Händel in seinen zahl reichen Oratorien wiederholt. Darf man es dem Kritiker verdenken, wenn er sich gleichfalls wiederholt in allerlei Händel-Berichten? Es bleibt ihm auch in der „Debora“ nicht erspart, zunächst die Kraft der großen Chöre zu rühmen, daneben zu beklagen den starren Ausdruck, die stereotype Form und Ausschmückung der Arien, endlich das äußerst dürftige, fast nur auf Streichinstrumente beschränkte Orchester. An prachtvollen Chören bringt gleich im Anfang die erste Abtheilung den achtstimmigen Hymnus „Du Gott der Macht“ und den Aufruf zum Kampf: „Wirf ab die Scheu!“ Noch gewaltiger erhebt sich im zweiten Theil der Doppelchor der eifernden Baalspriester gegen die in frommem Gottvertrauen betenden Israelisten. Auch die dritte Abtheilung des Orato riums wiederholt diesen Gegensatz: einem jammernden Chor der besiegten Kananiter antwortet das dankerfüllte Israel mit dem großen, kunstvoll aufgebauten Schlußchor: „Zum Himmel auf!“ Was die Solopartien betrifft, so gesteht sogar Chrysander zu, es sei in ihnen das individuell Bedeut same, dem Chor gegenüber, „nicht völlig entwickelt“. „Kaum angedeutet,“ möchten wir lieber sagen. Von verhältnißmäßig starker, der Situation entsprechender Wirkung ist im ersten Theil der Gesang, mit welchem Debora als Leiterin der ganzen israelitischen Bewegung sich mit dem Chor vereinigt. Weich, gefühlvoll klingt die Baß-Arie Abinoam’s „O, mein Sohn“, über deren ermüdende Ausdehnung uns der lang entbehrte Klang zweier Flöten freundlich hinweghilft. Das Schlußduett Debora’s mit Barak (im Original mit Jaël) wirkt bei ge ringer Originalität der Melodie, zuletzt durch den Wohlklang der beiden in Terzen- und Sextengängen vereinigten Stimmen. Ein Hinderniß für unser lebendiges Mitfühlen ist übrigens

die musikalische Verkörperung des Helden Barak in einer Altstimme. Hingegen ist nicht einzusehen, warum wir uns, nach Chrysander’s Behauptung, Deboranur als Altistin denken können. Händel selbst und andere classische Meister haben Heldinnen und Prophetinnen genug geschaffen, welche, wie Debora, Sopran singen und an eindringendem Pathos und kräftiger Wirkung es nicht fehlen lassen. Debora selbst bestätigt unsere Ansicht durch ihre Arie „Vor Jehovah’s An gesicht“, welche übrigens wie noch andere Arien aus älteren Werken Händel’s (der Deutschen Passion und den Krönungs- Anthems) einfach herübergenommen sind. In früheren Zeiten ist diese bequeme Praxis insbesondere von Händel anstandslos und sehr gern geübt worden. Heutzutage würde ein solches Ballspiel mit Musikstücken, die einem bestimmten Kunst werk entwachsen und verwachsen sind, uns schmerzlich be rühren.

Eine merkwürdige Novität haben wir in dieser an 170 Jahre alten „Debora“ kennen gelernt — eine Novität, in der aber nicht Alles oder auch nur Vieles uns neu ge klungen hat. Unser Nachbar, ein alter Musikfreund, der seit Decennien keine Händel-Aufführung versäumt, behauptete nach der Aufführung, er habe „Debora“ gewiß schon ein mal in Wien gehört, vielleicht mit etwas verändertem Text. Der Mann war im Irrthum, aber der Irrthum ist ent schuldbar und bezeichnend. Wer so außerordentlich viel und schnell producirte wie Händel und ein ganzes Oratorium gewöhnlich in drei bis vier Wochen fertig machte, der konnte unmöglich immer Neues und Originelles bringen, noch bei jedem Musikstück den Genius an seiner Seite haben. Auch durch seine alttestamentlichen Texte war Händel an eine starke Gleichförmigkeit des Ausdruckes gebunden. Wer dürfte sich verhehlen, daß dieses Stoffgebiet in der Kunst einem stetig abnehmenden Interesse begegnet? Und damit auch ein namhafter Theil der Händel’schen Musik? Als Händel starb, war Mozart schon drei Jahre alt. Welch neue, von Händel ungeahnte Welt, in der wir uns noch heute jung fühlen, hat Er uns erschlossen!

Die Aufführung des schwierigen und anstrengenden Werkes verdient gerechte Anerkennung. Director R. v. Perger, der uns im Vorjahre mit mehreren neuen vom Auslande her berühmten Oratorien bekannt gemacht hat (Tinel’s Franciscus“, Massenet’s „Eva“, Dvořak’s „Ludmilla“, C. Franck’s „Seligkeiten“), erfüllte mit „Debora“ wieder seine Pflichten gegen die classische Vergangenheit. In dem Kranze Händel’scher Oratorien dürfte uns heute nur noch „Joseph“ fehlen. „Debora“ war von Perger sorg fältig studirt und von allen Mitwirkenden liebevoll aus geführt. Fräulein Katzmayr, welche im vorigen Jahre durch ihr rasches Einspringen die Aufführung der „Jahres zeiten“ ermöglicht hatte, bewies auch in der Hauptrolle des Oratoriums größte musikalische Sicherheit und eindringendes Verständniß. Die Partie des Barak verschaffte uns die werthvolle Bekanntschaft einer jungen Altistin, Fräulein Osborne aus Leipzig. Ihre wohlklingende, trefflich geschulte Stimme, deutliche Aussprache und musikalische Em pfindung machten den günstigsten Eindruck auf das Publi cum. Herr Felix Kraus, ein Wiener, der sich in jüngster Zeit zu einem der beliebtesten Oratorien-Sänger in Deutsch land aufgeschwungen hat, sang die Baßpartie (Abinoam) mit rühmlichem Erfolge. Er mußte im dritten Theil seine Arie wiederholen, ein seltenes Ereigniß in einem Oratorium. Als Feldherrn Sisera hörten wir Herrn Pacal, dessen jugendlich frischer Tenor uns immer erquickt; als Boten Herrn Rosalewicz, einen vielversprechenden Opernschüler des Conservatoriums. Für die Wiener Aufführung waren nebst der Jaël nicht weniger als „drei Israelitinnen“ gestrichen worden. (Goldene Salvator-Medaille?) Die Clavierbegleitung lag in den bewährten Händen des Herrn Prohaska; daß sie das ganze Werk hindurch ununterbrochen mitwirkt, scheint mir ein Fehlgriff: vortrefflich als Accompagnement der Recitative, ist sie im Fortissimo von Chor und Orchester unhörbar, also überflüssig. Die Aufführung war gut besucht, der Bei fall überaus lebhaft.