Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12381. Wien, Donnerstag, den 9. Februar 1899 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12381. Wien, Donnerstag, den 9. Februar 1899 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 09.02.1899
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Concerte. (Orchesterconcert der Herren Rabaud und d’Ollone. — Drittes Gesellschaftsconcert.)

Ed. H. Zwei liebenswürdige junge Franzosen, Henri Rabaud und Max d’Ollone, reisen als Concert geber eigens nach Wien — um, merkwürdig genug, uns weder ihre Compositionen, noch ihre Virtuosität zu zeigen. Und doch sind Beide durch ihr eigenes Talent in Paris rühmlich bekannt: Rabaud speciell als Componist, d’Ollone überdies als trefflicher Clavierspieler. Ihre Kunstreise verfolgt kein egoistisches, vielmehr ein patriotisch- künstlerisches Ziel. Sie wollen uns mit einer Auswahl des Besten bekannt machen, was französische Tondichter in neuester Zeit geschaffen haben. Wohlgemerkt: in der Orchester-Composition. Pariser Opern-Novitäten holen wir uns ja selbst. Von französischer Orchestermusik hingegen kennen wir wenig. Sie ist Musik der neuesten oder doch neueren Zeit. Man kann (von dem längst vergessenen Symphonienzopf Gossec abgesehen) Berlioz den ersten Orchester-Componisten Frankreichs nennen, der Zeit und dem Range nach. Auf ihn folgt erst Saint-Saëns mit Instru mentalwerken größeren Umfanges, welche über Frankreich hinaus Verbreitung und Erfolge errungen haben. Weitaus die größte Mehrzahl der französischen und italienischen Componisten widmet sich der Oper oder doch der Vocalmusik. Der Süden lebt und webt im Gesang, schwärmt für das Theater. Erst in neuester Zeit mehren sich Versuche der Franzosen in symphonischer und Kammermusik. Diese Spätliebe fließt aus verschiedenen Quellen zusammen. Zuerst aus der Ver ehrung für Berlioz, der, bei Lebzeiten ignorirt oder ver spottet, seit etwa 25 Jahren die begeisterte Liebe der Fran zosen genießt. Dann aus der regeren Beschäftigung mit deutscher Musik, insbesondere mit Wagner. Das ungestüme Temperament der Franzosen rückt auch in der Kunst die Gegensätze hart aneinander. Man erinnert sich der frucht losen Anstrengungen Wagner’s in Paris und des schmählichen Durchfalles seines „Tannhäuser“. Jetzt treibt die Wagnero manie dort die wunderlichsten Blüthen; nicht nur werden in der Oper „Lohengrin“ und „Die Meistersinger“ bejubelt,

nein, im Concertsaale hält man ganze, unendlich lange Acte von „Tristan“ und den „Nibelungen“ geduldig aus, ohne Handlung, ohne Costüm und Decoration. Wie stark Wagner auf die neue französische Schule, auch in der In strumentalmusik, eingewirkt hat, beweisen Chabrier, d’Indy, Bruneau u. A. Auch die Schwierigkeit, neue Opern in Paris auf die Bühne zu bringen, treibt dort viele jüngere Componisten zeitweilig der Instrumentalmusik in die Arme. Aber zur Oper drängt es sie doch Alle — Alle mit Aus nahme César Franck’s.

Es ist eine stattliche Zahl jüngerer Orchester-Componisten, welche in dem (auf zwei Concerte vertheilten) Programm der Herren Rabaud und d’Ollone zu Wort kommen: Massenet, Saint-Saëns, Franck, Dubois, d’Indy, Chabrier, Bruneau, Lalo, Dukas. Die drei erstgenannten Meister brauchen wir unseren Lesern nicht erst vorzustellen; ebensowenig die mit kleineren Clavierstücken vertretenen Bizet und Delibes. Das erste Concert begann mit einem Symphoniesatz von Vincent d’IndyWallenstein’s Lager“. Schiller’s Tragödie hat es ihm offenbar angethan. Vor etwa 25 Jahren war d’Indy im Concert populaire mit einer Ouverture, „Les Piccolominihervorgetreten; jetzt bringt er seine „Trilogie Wallenstein“, deren erster Satz das Lager schildert, während der zweite Max und Thekla“, der letzte „Wallenstein’s Tod“ be handelt. Einen deutschen Vorgänger hat d’Indy in Joseph Rheinberger, dessen Wallenstein-Symphonie vor 20 Jahren unsere Philharmoniker gespielt haben. Wie in Rheinberger’s, so hat auch in d’Indy’s Composition sich das „Lager“ als der wirksamste Satz bewährt und wird selbstständig in manchen Concerten aufgeführt. d’Indy scheint mehr an Satans Lager gedacht zu haben. Das sind nicht lustige Wallensteiner, die Karten spielen und mit Mädchen scherzen, sondern erboste Teufel, welche einander mit glühenden Zangen zwicken. Ihr Schreien und Brüllen ist täuschend nachgeahmt; ein Herr in meiner Nähe wollte sogar den Geruch des versengten Fleisches verspüren. Ein Symphonie-Scherzo dachten wir uns wenigstens einheitlich geformt, von festem Rahmen umschlossen. d’Indy hingegen bietet uns ein wüstes Durcheinander von Tonarten, Rhythmen, Klangeffecten, kein Bild, sondern eine Reihe von Farben klecksen. Die Capuzinerpredigt, für die Rheinberger mit Einem

Fagott auslangte, exponirt d’Indy in einem Fugato von drei Fagotten. Ein falscher, erquälter Humor, wie er auch an anderen Stellen in brutalen Spässen sich ergeht. Und doch fehlt in diesem Zuviel Eines, ein Wichtiges: der mili tärische Geist. Ein kurzes Marschmotiv für Trommel und Pfeifen, eine herzhafte Trompeten-Fanfare, und wir wüßten, wo wir uns befinden. Aber nichts dergleichen in d’Indy’s trotz allen Lärms doch nicht charakteristischem Lagerbild. Es versteht sich, daß d’Indy mit Leitmotiven arbeitet, dem All heilmittel der Jung-Wagnerianer. Ein den Wallenstein vorstellendes Motiv von kurzen zwei Tacten erscheint in allen drei Sätzen; dem Programm zufolge bedeutet der nur aus drei Noten (fis, g, fis) bestehende erste Tact „die herrschende Idee im Charakter Wallenstein’s“, der zweite Tact seine „Schicksalsidee“. Zu diesen zwei „Ideen“ fehlt leider nur eine dritte: die musikalische.

Wie d’Indy, so ist auch Theodor Dubois für Wien ein neuer Mann. Geboren 1837, hat Dubois längere Zeit als Organist an der Madeleine gewirkt, bis er Professor und schließlich Director des Pariser Conservatoriums wurde. Wir hörten von diesem in allen Zweigen überaus frucht baren Componisten ein Clavierconcert in F-moll, unver gleichlich schön gespielt von Fräulein Clotilde Kleeberg. Im Programm war der Platz für Dubois gut gewählt; unmittelbar nach d’Indy’s Hexenlager befreundet man sich willig mit einem Manne, der, wenn auch ohne reiche Phantasie, doch in classischer Schule gebildet, die Form beherrscht, die Kunstmittel meistert und für seine Musik weder ein erzählendes Programm noch aufdringlicher Leit motive bedarf. Dubois ist in harmonischer und contra punktischer Entwicklung seiner Ideen stärker als in origineller Erfindung derselben. Manches in seinem F-moll-Concert erinnert an Mendelssohn (Scherzo), Manches an den früheren Beethoven (Adagio), auch Grüße von Chopin und Schumann blieben nicht gänzlich aus. Was obendrein dieses Concert heute schädigt, ist die etwas veraltete, an Hummel und Moscheles erinnernde Claviertechnik, deren Glanzpunkte nicht über einige Trillerketten, Scalenläufe und Arpeggien in gerader oder Gegenbewegung hinausgehen. Neu ist die Stellung, welche Dubois der „Cadenz“ anweist: ein langes Solo zu Anfang des Finales. Mehr Lorbeerkränze dürfte Dubois heute als Conservatoriums-Director ernten, wenn

seiner künstlerischen Autorität es gelingt, einige feuerspeiende Jünglinge vor dem letzten Absturze zu retten.

Auf Dubois’ mehr didaktisches als poetisches Concert wirkte als doppelt pikantes Gegenstück eine kleine Orchester- Suite von Massenet: „Scènes alsaciennes“. Die erste dieser drei anspruchslosen Elsässer Idyllen schildert das fest lich müßige Treiben am Sonntag Vormittags in einer kleinen Stadt. Darauf folgt als zweites Bild der „Abend im Wirthshaus“: es schlägt acht Uhr, einige kurze Trommel wirbel und Trompetenstöße ertönen und die ganze Jugend marschirt vergnügt hinter dem französischen Zapfenstreich. Zum Schlusse die Scene „unter dem Lindenbaum“, ein zärtliches Duo zwischen Violoncell und Clarinette. Die Stücke sind sämmtlich kurz und recht interessant. Während die beiden ersten verschwenderisch umgehen mit dem scharfen harmonischen und rhythmischen Gewürz, ohne welches der moderne Franzose nun einmal nicht bestehen kann, erfreut das dritte durch ungetrübten Wohllaut und zarte Empfin dung. Der süße Lindenduft versetzte die Zuhörer in die wohligste Stimmung. Keines von den gewaltsamen großen Orchesterstücken dieses Abends hat einen so starken, ein müthigen Beifall hervorgerufen, wie dieses kleine Genrebild.

Die C-moll-Symphonie von Saint-Saëns (Nr. 3) genießt in Frankreich beim Publicum wie bei der Kritik ein ungemeines Ansehen. Das Wiener Publicum trat dem neuen Werke mit ausgesprochener Sympathie entgegen, hat es doch seinerzeit an Saint-Saëns’ geistreichen Tongemälden „Der Todtentanz“ und „Das Spinnrad der Omphale“, dann an zwei effectvollen Clavierconcerten aufrichtiges Gefallen ge funden, auch den Autor als eminenten Clavierspieler und Orgel-Virtuosen schätzen gelernt. Mit der C-moll-Symphonie trachtet Saint-Saëns seine früheren Werke nicht blos an Gehalt und Umfang, sondern auch durch Neuerungen in der Form und den Ausdrucksmitteln zu überholen. Seine Symphonie hat blos zwei Sätze, in welchen nähere Be trachtung allerdings die alten vier Sätze in sorgsamer Ver hüllung wiederfindet. Der erste Allegrosatz überfließt in das Andante; die zweite Abtheilung heftet das Finale unmittel bar an das Scherzo. Vielleicht ein Zusammenhang mit der Widmung dieser Symphonie an Liszt, dessen „Symphonische Dichtungen“ drei Sätze verschiedenen Charakters in Einen verschmelzen oder vielmehr an

einander reihen. Die zweite Neuerung betrifft das Orchester, das zu dem stärksten Aufgebot aller gebräuch lichen Instrumente auch noch die Orgel und das Clavier hinzufügt. Die Mitwirkung des Claviers (einige rapide Tonleitern in hoher Lage) ist dabei so gering und über flüssig, daß man sie ohne Schaden ganz streichen dürfte. Wirksamer ist die Orgel verwendet, und zwar nicht etwa gleichberechtigt oder concertant (wie einst in Herbeck’s Symphonie), sondern weislich nur zur Unterstützung einzelner besonders wichtiger, feierlicher Stellen. Saint-Saëns bewährt sich in diesem Werke neuerdings als ein großes Talent; für ein wahrhaft schöpferisches haben wir ihn nie halten können. Die Combination, die grübelnde und künstelnde Arbeit über wiegt doch zu empfindlich den freien Flug der Phantasie, die ursprüngliche Erfindung. Wir vermissen in dieser auf gethürmten, rastlos bewegten Tonfluth die einfachen, schlicht auftretenden, herzerfreuenden Gedanken. Manche überaus schöne Einzelheit, eine Fülle geistreichen Details und kunstvoller Ciselir-Arbeit erregt unsere Bewunderung — das Ganze wirkt mehr bedrückend als erhebend. Saint-Saëns beugt seine Symphonie nicht unter ein bestimmtes „Pro gramm“, wie heute die meisten jungen Musiker thun, welche bei der Dichtkunst und Malerei erbetteln müssen, was ihnen an eigener Münze abgeht. „Je n’ai jamais été, je ne suis pas, je ne serai jamais de la réligion Wagnerienne,“ so erklärt Saint-Saëns in einer seiner geistreichen Abhand lungen. In Frankreich zählt man ihn deßhalb, sehr mit Unrecht, schon zu den Reactionären; in seinen gewagten Orchester-Effecten, wie in der Auflösung der Formen, ja oft der Form überhaupt, ist er ganz modern, zuweilen bis zum Revolutionär.

Das Publicum zeigte sich von der Novität mehr inter essirt als wahrhaft erwärmt. Sie ist in der That nicht leicht zu verstehen; auch nicht leicht zu spielen. Hier müssen wir den beiden jungen Dirigenten unsere volle Bewunderung ausdrücken. Sie haben im Einstudiren und Dirigiren so complicirter, schwieriger Werke mit einem fremden Orchester Außerordentliches geleistet. Henri Rabaud und Max d’Ollone zählen heute schon zu den geschicktesten Diri genten und Missionären ihres Vaterlandes.

Das letzte Orchesterstück im Programm war die Ouvertüre zur Oper „Gwendoline“ von Emanuel Chabrier. Diese

Gwendoline, ein sechzehnjähriges Fischermädchen an der breto nischen Küste, zähmt durch Liebe den gewaltthätigen Helden Harald. Die Beiden nehmen aber kein so glückliches Ende wie ihr Vorbild Ingomar und Parthenia; sie sterben ge meinsam an Liebe, Mord und Selbstmord. Vergebens hatte der Componist jahrelang das Thor der Pariser Großen Oper belagert mit seiner Gwendoline; aber Catulle Mendès, der General-Consul des Pariser Wagnerthums, waltete seines Amtes und unterbrachte die hilflose Gwendoline in den ver bündeten Städten München und Karlsruhe; zum bitteren Leidwesen des dortigen Publicums. Die Pariser Große Oper folgte 1893 mit der Aufführung nach. Weniger aus Be quemlichkeit als aus Unparteilichkeit erlaube ich mir das Urtheil zweier hochangesehener Pariser Musikkritiker, eines älteren und eines jüngeren, über Chabrier’s Ouvertüre zu citiren. Arthur Pougin schreibt im Ménestrel: „In dieser Ouvertüre hört man gleichzeitig die Violinen kreischen, die Contrabasse brummen, das Piccolo pfeifen, die Blechinstrumente brüllen, die Cymbeln klingeln. Niemals hat man ein ärgeres Durcheinander von Noten erlebt. Das ist nicht mehr Musik, das ist Tollwuth.“ — „Der Lärm in dieser Ouvertüre ist wahrhaft peinlich,“ ruft Octave Fouqué in der Revue des deux Mondes. „Nichts schmerzhafter für das Ohr, als die Coda, wo die Posaunen das Walhalla thema heulen, während darunter das ganze Orchester wüthet. Oh, diese dicke, dicke, grobe Musik! Eine mit der Hacke zu gehauene Musik. Wie die Harmonie, so ist die Instrumen tirung zum Aeußersten getrieben, bis zum Wahnsinn. Warum muß doch dieser Lärm jede Erinnerung, die das Werk in uns zurückläßt, übertäuben, so daß uns die Ohren weh thun, so oft wir nur daran zurückdenken!“ Man hat mir mangelnde Sympathie für Jung-Frankreich vorgehalten. Ich weiß mich gänz lich frei von dieser Voreingenommenheit; die Nacheingenommen heit kann ich aber nicht leugnen. Das Urtheil der beiden fran zösischen Autoritäten dürfte meine Empfindung rechtfertigen.

Nicht den bedeutendsten, gewiß aber den angenehmsten Theil des französischen Concertes bildeten einige kleinere Clavierstücke von Bizet, Delibes, Fauré und Go dard, welche Fräulein Clotilde Kleeberg aus Paris mit unvergleichlicher Anmuth und Feinheit vortrug. Ihr Spiel, bis ins kleinste Detail vollendet und von geistreicher Laune beseelt, war ohne Frage der größte Erfolg des Abends...

Das vorletzte Gesellschafts-Concert hatte uns die erste Aufführung eines Händel’schen Oratoriums (Debora) gebracht; im letzten hörten wir eine für Wien neue Cantate von Bach. Die beiden Großmeister deutscher Tonkunst sind unerschöpflich — noch anderthalb Jahrhunderte nach ihrem Tode. „Wachet auf, ruft uns die Stimme,“ heißt die Cantate, welche Bach1731 auf ein dreistrophiges Kirchenlied von Philipp Nicolai componirt hat; Recitative und zwei Duette trennen die Strophen desselben. Mit feier licher Andacht folgten die Zuhörer dieser Musik, schienen aber schließlich von dem Ganzen mehr befremdet als begeistert. Alle Ehrfurcht und Bewunderung für Bach’s erstaunliche Kunst vermag nicht ganz zu verhindern, daß uns heute die süßliche, unleidlich pietistische Dichtung stört. Zwei förmliche Liebesduette singt Christus mit seiner Braut. Damit ist die „gläubige Seele“ gemeint, bekanntlich in der älteren prote stantischen Kirchenmusik eine stereotype Figur, die auch in Bach’s herrlicher Cantate: „Ich hatte viel Bekümmernißund anderen in unmittelbare Beziehung zum Heiland tritt. Die endlos wiederholten Worte in dem ersten Duett: „Wann kommst du, mein Heil? — Ich komme, dein Heil!“ „Komm’, Jesu! Ich komme!“ ermüden und verstimmen uns: noch mehr das in opernhaften Terzengängen kosende zweite Duett zwischen Christus und seiner Braut: „Mein Freund ist mein und ich bin dein! Die Liebe soll nichts scheiden!“ Man muß glaubenseifriger Protestant und unbedingter Bach- Enthusiast sein, um in dieser Cantate mit ganzem Herzen auszugehen. Gewiß ist es unsere Schuld und die Schuld unseres ausgehenden Jahrhunderts, daß wir für diese pietistischen Anschauungen und Empfindungen nicht dieselbe Wärme aufbringen, wie seinerzeit Bach und seine Gemeinde. Aber leugnen können wir nicht dieses leise Widerstreben, das weder vor unserem historischen Begreifen noch vor dem mächtigen Eindrucke Bach’scher Kunst ganz verschwindet. Die beiden sehr schwierigen Solopartien wurden von der Baronin Leonore Bach und Herrn Scheidemantel vorzüg lich gesungen. Schade, daß dieser verständnißvolle und treff lich geschulte Sänger in jüngster Zeit so sehr zum Tremoliren neigt. ... Freudig begrüßten wir einige nur zu selten gehörte Vocalchöre von Brahms. Insbesondere die „Nachtwache“, ein bewunderungswürdiger sechsstimmiger Satz, und „Letztes Glück“ (das schöne Gedicht von Max Kalbeck) gehören

zu den Perlen Brahms’scher Vocalmusik. Das von Brahms harmonisirte Volkslied „Wollust in den Mayen“, dessen populäre Wirkung niemals versagt, mußte wiederholt wer den, wie auch das markige Chorlied „Beherzigung“. Die Stücke waren von Director R. v. Perger passend ausgewählt und sorgfältig studirt. Ein schöner Erfolg unseres „Sing vereins“. Das Concert schloß mit Mendelssohn’s Cantate „Die erste Walpurgisnacht“. Vor 55 Jahren zum erstenmal in Wien aufgeführt, hat diese Tondichtung noch nichts eingebüßt von ihrer jugendlichen Frische. Die siegreiche Unmittelbarkeit ihres Eindruckes ließe kaum errathen, welch gewissenhafte Arbeit und Ueberprüfung Mendelssohn daran gewendet. Im Jahre 1831 in Rom componirt, gelangte die Walpurgisnacht“ erst zwölf Jahre später nach durchgreifen der Umgestaltung in die Oeffentlichkeit. Welche Bedenken wegen der Instrumentirung des Hexenchors! Wiederholt zweifelt Mendelssohn, ob er die große Trommel dazu nehmen dürfe oder nicht. Glücklicherweise hat er seine ästhetischen Scrupel besiegt; er setzte die große Trommel dahin, nicht blos wo sie effectvoll, sondern wo sie unentbehrlich ist. Heute gibt es keine „Symphonische Dichtung“ mehr, an welcher sie nicht mitdichtet.

Allgemein aufgefallen sind die Abänderungen des Goetheschen Gedichtes, welche das Concertprogramm vom 5. d. M. aufweist. Bei Goethe singen bekanntlich die heidnischen Wächter: „Kommt mit Zacken und mit Gabeln und mit Gluth und Klapperstöcken — Mit dem Teufel, den sie fabeln, wollen wir sie selbst erschrecken. Dies dumpfen Pfaffenchristen, laßt uns keck sie überlisten!“ Wer mag der muntere Censor sein, der aus den Pfaffenchristen „diese Christen“ gemacht hat und — den Reim „Gabeln, fabeln“ stolz ignorirend — fabeln in „fürchten“ verwandelte? Wir dachten, diese von Aengstlichkeit und Hochmuth dictirte „Verbesserung“ einer gefeierten, durch Mendelssohn’s Musik in allen Kreisen heimischen Dichtung Goethe’s müsse aus dem Vormärz sich unbeachtet in unsere Tage eingeschlichen haben. Allein dem ist nicht so. Ich habe vor dem Jahre 1848 als Student Mendelssohn’s „Walpurgisnachtin Prag und Wien singen gehört, immer mit dem Goetheschen Originaltext. Das außerordentlich kirchliche Feingefühl unserer Behörden ist also ein neu aufgeblühtes Pflänzlein. So weit gebracht!!“ singt der alte Druide.