Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12449. Wien, Donnerstag, den 20. April 1899 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12449. Wien, Donnerstag, den 20. April 1899 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 20.04.1899
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Drei musikalische Glückskinder.

Ed. H. Es zählt zu den Seltenheiten in der Musik geschichte, daß nacheinander drei gänzlich unbekannte junge Componisten gleich mit ihrem allerersten Werke die glän zendste Aufnahme finden. Mascagni, Perosi, Sieg fried Wagner — das Weltkind rechts, das Weltkind links, Prophete in der Mitte. Von diesen drei Jünglingen im feurigen Ruhmesofen ist Mascagni mit seiner „Caval leria“ den beiden Anderen um einige Jahre vorausgegangen. Ihre Erfolge bergen so interessante Analogien und Ver schiedenheiten, daß man dem Reize, sie zu vergleichen, kaum widerstehen kann. Mascagni ist streng genommen der Einzige in dem Kleeblatt, welcher den Erfolg ganz allein nur seinem Werke verdankt, nicht auch seinem Namen oder seinen persönlichen Verhältnissen. Ein dunkler Provinz musiker von 25 Jahren, hatte er den Muth, sich schnellfertig an Sonzogno’s Preisausschreibung zu betheiligen; seine Cavalleria“ wurde als die beste von siebzig eingesendeten Opern erkannt und gekrönt. Ihr beispielloser Erfolg in Italien erwies sich auch als weitgreifend und nachhaltig. Noch heute, nach acht Jahren, lebt die „Cavalleria“, deren künstlerischer Werth oder Unwerth uns heute nicht beschäftigt, auf allen Opernbühnen diesseits und jenseits des Weltmeeres vergnüglich fort.

Unter ungleich günstigeren Verhältnissen traten die beiden anderen Glückskinder vor die Oeffentlichkeit. Den Einen schmückt und hebt der Name seines Vaters, den Andern sein geistliches Kleid. Umstände sind die Minister der Götter. Ohne dem Talente Perosi’s oder Siegfried Wagner’s nahezutreten, darf man doch behaupten, daß nicht dieses Talent allein sie so plötzlich emporheben konnte. Mindestens ein paar Jahre leidigen Umherwanderns und

Anklopfens mit ihrem Opus 1 hätte es gekostet, hieße der Eine statt Wagner Schmied und ernährte der Andere eine zahlreiche Familie irgendwo als bescheidener Organist oder Schullehrer. Wen das Publicum und die Gesellschaft mit so jubelndem Zurufe und weitgeöffneten Armen empfängt, ohne noch eine Note von ihm zu kennen, der ist ein Sonn tagskind, wie es oft in Märchen, aber sehr selten in der Kunstgeschichte vorkommt. ...

Treten wir etwas näher an Perosi. Es begreift sich, daß die katholische Kirche, vor Allem der römische Epis copat, das Auftreten eines jungen Priesters mit religiösen Tonwerken freudigst begrüßte. Endlich ein Wiederaufleben lang unterbrochener rühmlicher Tradition! Seit mehr als zweihundert Jahren hatte der katholische Clerus nur in einzelnen nicht eben hervorragenden Componisten sich schaffend bethätigt. Im vorigen Jahrhundert besaß Italien noch an Padre Martini und dessen Schüler Padre Mattei zwei als Theoretiker und Lehrer hochangesehene Tonkünstler. In Deutschland glänzte Abbé Vogler (der Lehrer Meyer beer’s und Weber’s) als geistvoller Musikforscher und Orgel virtuose; seine zahlreichen Compositionen sind längst ver gessen, gleich jenen Martini’s und Mattei’s. In Oester reich componirten zu Mozart’s Zeiten Abbé Stad ler und der unersättlich variirende Abbé Gelinek; Beide völlig verschollen. Nach Abbé Stadler kam erst Liszt(fast ein Jahrhundert später) als der erste katho lische Tondichter, der wieder ein geistliches Oratorium schrieb. Kein Wunder, wenn heute inmitten der stärkeren Bewegung katholischen Glaubenseifers das plötzliche Erscheinen eines Oratorien schreibenden Priesters wonniges Aufsehen erregt. Man weiß, mit welchen Ehren der junge Perosi in Italien und Oesterreich überhäuft, von Clerus und Aristokratie gefeiert, an höchster geistlicher und weltlicher Stelle empfangen wurde. Dieser Widerhall seiner kirchlichen Begeisterung entscheidet allerdings noch nicht für Perosi’s musikalische Bedeutung. Nicht nur dem Tanzlustigen ist leicht aufgespielt — auch dem frommen Beter. Bei aller Sympathie mit seinem idealen Streben und redlichen Fleiß vermag ich doch in Perosi ein starkes, eigenartiges Talent

nicht zu erkennen. Glatt und gewandt geschrieben, nicht ohne einzelne anmuthige Wendungen, sind doch seine beiden hier aufgeführten Oratorien arm an ursprünglichen neuen Ge danken. „Lazzaro“ und die „Risurrezione“ — wo immer man diese beiden Partituren aufschlagen mag, es ist fast immer dasselbe. Eine dürftige, in engem Kreis melodischer Formeln und Begleitungsfiguren nistende Erfindung. Statt ausgeprägter Persönlichkeit der allgemeine Stempel katho lischer Kirchenmusik; ein durch häufige Trompeten- und Posaunenstöße erhellter monotoner Litaneienton. Den handelnden Personen fehlt fast jegliche Charakteristik, und der Chor, dieser Grundpfeiler echter Oratorienmusik, ist kümmer lich beiseite geschoben.

Zwischen die kirchlichen und die musikalischen Ansprüche gestellt, die ja im Oratorium häufig auseinandergehen, be vorzugt Perosioffenbar die ersteren, wie schon die ganz un gewöhnliche Wahl der lateinischen Sprache für seinen Text darthut. Die berühmtesten Componisten Italiens, schon Carissimi und die an der Wiener Hofcapelle angestellten alten Meister, haben sich im Oratorium ihrer Muttersprache bedient; Massenet, Tinel, C. Franck schrieben auf französi schen Text, die deutschen Katholiken (Haydn, Beethoven, sogar Abbé Liszt) auf deutschen. Weßhalb wendet sich Perosi nicht an sein Volk? Latein ist die Sprache keiner lebenden Nation, sondern die des katholischen Clerus. Sie drängt Perosi’s Styl in eine traditionelle kirchliche Starrheit und erschwert jede unmittelbare Hingabe an seine Musik. Dazu das Festhalten an den knappen Worten des Evangelisten. Das verursacht ein maßloses Ueber wiegen des erzählenden Theiles über den lyrischen, einen zerhackten Dialog an Stelle einer musikalisch geformten, sich ausbreitenden Melodie. Aufrecht erhalten konnte Perosi den streng kirchlichen Styl trotzdem nicht; moderne Wen dungen, sogar Wagner’sche, färben den Gesang wie die In strumentirung. Ihm daraus einen Vorwurf zu schmieden und unbedingte Rückkehr zu Palestrina vorzuschreiben (wie jüngst in einem großen Blatte geschehen) wäre Thorheit. Kein Künstler kann sich heute um drei bis vier Jahrhunderte zurückschrauben, wenn er nicht auf jedes Verstehen und

Mitfühlen seiner Zeitgenossen verzichten will. Nur muß seine Kunst, sein Talent und sein ästhetisches Empfinden stark genug sein, um eine Harmonie zwischen kirchlichen und musikalischen Anforderungen festzuhalten. Ein kräftiges, originelles Talent kann uns sogar mit Einzelheiten ver söhnen, wo der Bruch, der im Begriffe der „Kirchenmusik“ steckt, etwa zu Gunsten der Musik und zum Nachtheile der Kirche hervortritt. Wer gedachte nicht beim Anhören von Perosi’s „Lazarus“ an das gleichnamige (unvollendete) Ora torium von Franz Schubert! Wie fesselt und erhebt uns die Innigkeit und melodiöse Fülle, welche hier Leben aus dem Tode zaubert! In Schubert ist mehr Musik und weniger Kirche, in Perosi das Gegentheil. Ob Perosi’s halb reife Kunst sich noch zu wirklicher Bedeutung entwickeln, be reichern und vertiefen werde? Wir möchten das um so sehnlicher wünschen, als die fabelhaften äußeren Erfolge seiner jungen Berühmtheit sich schwerlich ein zweitesmal wiederholen dürften.

Wie dem jungen Abbate die hohe Geistlichkeit mit Palmzweigen und Rauchfässern vorangeschritten war, so nahte uns Siegfried Wagner unter den Fanfaren der Chamberlain-Husaren von Bayreuth. Perosi blieb weit unter meinen hochgespannten Erwartungen, hingegen habe ich im Bärenhäuter“ Besseres gefunden, als ich vermuthete. Siegfried hatte einen ungleich schwereren Stand, als Don Perosi. Einer allerersten großen Oper pflegt man mit gerechtem Mißtrauen zu begegnen. Wie viele Jugendopern von Gluck, Mozart, Cherubini, Weber, Auber und Rossini sind durchgefallen oder in rasches Dunkel verschwunden, bevor diese Meister mit einem völlig reifen Werk sich Aner kennung erkämpften. Selbst „Fidelio“, die erste und zugleich letzte Oper Beethoven’s, brauchte neun Jahre, um sich von ihrem ersten Fall zu erholen. Ein zweiter Grund zu einigem Mißtrauen lag in Siegfried’s gefeiertem Namen. Wann hat je der Sohn eines berühmten Tondichters auch nur halbwegs den Vater erreicht? Nehmen wir etwa von Bach’s elf Söhnen Emanuel und Friedemann aus, deren Namen wir noch ehren, ihre Werke aber kaum mehr kennen, so sind die Ausnahmen mit diesem Beispiele wol erschöpft.

Das kurze, schüchterne Künstlerleben von Mozart’sSohn war ein Martyrum, auch ein materielles. Ein geistiges wenigstens die Laufbahn von Goethe’s Enkeln Wolfgang, dem Dichter, und Walther, dem Componisten. In vielen Fällen ahnen die Väter, mitunter auch die Söhne selbst, das Aussichtslose solcher Nachfolge. Die Söhne C. M. Weber’s, Mendelssohn’s, Gounod’s folgten praktischen Berufszweigen. Die Natur vererbt nicht gerne ein großes Talent, viel lieber enterbt sie. Richard Wagnerselbst hatte seinen Sohn be kanntlich zum Architekten bestimmt. Nun kommt Jung- Siegfried, wagemuthig wie sein Namenspatron folgt er seinem Triebe zur Musik und überrascht die Welt — nicht etwa mit ein paar Lieder- oder Clavierheften, sondern gleich mit einer großen Oper. Es glückt ihm dieser Anfang besser, als vordem seinem Vater. „Bärenhäuter“ ist in Text und Musik jedenfalls wirksamer als Richard Wagner’s Erstlingsoper „Die Feen“, die wir in München mit so ungläubigem Befremden gehört haben. Groß und eigenartig wie die Vortheile sind aber auch die Gefahren eines ererbten Namens. Und nicht erst vor dem Publicum. Schon während der Arbeit umlauern sie den Sohn. Stark, selbstständig soll er in seinem Werke erscheinen, nicht als bloßer Wagnerianer. Ebensowenig ziemt ihm andererseits ein völliges Verleugnen des väterlichen Stylprincips und Co lorits. Fürwahr, kein leichter Conflict! Man denkt unwill kürlich an die Zweifel Nathan’s des Weisen vor seiner Ant wort an den Sultan: „So ganz Stockjude sein zu wollen, geht schon nicht. Und ganz und gar nicht Jude geht noch minder!“ Siegfriedtrachtet nach beiden Seiten hin zu be friedigen, redlich, doch nicht mit gleichem Gelingen. Wo er unbefangen dem eigenen Schaffensdrang sich hingibt und möglichst natürlich bleibt, wie vielfach im zweiten Act, da folgt man ihm willig. Wo er hingegen gewaltsam sich seiner Kronprinzenwürde erinnert und den Vater copirt, „so weit die vorhandenen Kräfte reichen“, da wird er ungenügend, affectirt, langweilig. Das empfindet man schon häufig im ersten Act; am stärksten im dritten, namentlich während des unaushaltbar langen und langweiligen Duetts des Bärenhäuters mit der obligaten

„erlösenden“ Maid. Besten Dank unserem Director Mahler, daß er diesem gesungenen Drachen, welchen Siegfried, statt ihn zu erschlagen, gezeugt hat, wenigstens die Pfoten und den Schweif abhieb! Auch in der maßlosen Ausdehnung des ganzen Werkes, in Unterjochung der selbstständigen Melodie und zerbröckelnden Declamation folgt Siegfried allzu getreu Wagner’schen Mustern. Ja, er sucht sie noch zu überbieten in dem wie ein nervöser Ameisenhaufen durcheinander kribbelnden Orchester, das die paar hübschen melodiösen Anfänge unbarmherzig verschüttet. Uebertrumpft hat Sieg fried den Vater auch darin, daß er nicht blos das verpönte Wort „Oper“, sondern auch das von Wagner substituirte „Musikdrama“ verabscheut und statt dessen — gar nichts hinschreibt. Das ist doch ein bischen kindisch. Die alte Be zeichnung „Oper“ hat noch niemals einer guten Musik ge schadet und das stolze Aushängeschild „Musikdrama“ noch keine schlechte gerettet. Ohne Zweifel wird auch diese neueste Obstruction Schule machen bei den Jung-Wagnerianern; möge es dann nur wirklich heißen: Mittel ohne Titel! Dem „Bärenhäuter“ kam die musterhafte Vorstellung im Hofoperntheater sehr zu statten, während die miserable Auf führung der „Risurrezione“ dem Eindrucke dieser Compo sition ohne Frage geschadet hat. Andererseits stand Perosi wieder im Vortheil durch die Kürze seines Werkes. Er hat nicht viel zu sagen, sagt es also kurz. Siegfried weiß auch nicht viel Neues, erzählt es aber so lang und umständlich, daß man verzweifeln könnte.

Die fachmännische Beurtheilung, welche Perosi und der Bärenhäuter“ bereits in diesem Blatte gefunden haben, befreit mich von der Versuchung, nochmals verspätet auf Einzelheiten einzugehen. Es ziemte mir nur, den sub jectiven Eindruck flüchtig zu schildern, den ich von den ge feierten Novitäten empfangen habe. Unser Publicum hat bekanntlich beide in der allergünstigsten Weise aufgenommen. Dabei dürfte es eine kurze Zeit lang auch bleiben. Wen Kritik nicht plagt, der wird im „Bärenhäuter“ sich stellen weise unterhalten, und wer hochgradig fromm ist, sich bei Perosi gewiß nicht langweilen.