Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12516. Wien, Mittwoch, den 28. Juni 1899 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12516. Wien, Mittwoch, den 28. Juni 1899 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 28.06.1899
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Neue Bücher über Musik. (I. Kalbeck. Tschaikowsky.)

Ed. H. „Opernabende“ betitelt Max Kalbeck sein neues Buch. Unter den Titel ziemte sich als charakteristische Vignette Leier und Schwert. Die Lyra des Dichters eint sich hier mit der Klinge des Kritikers zu schönem Zusammen klang. Kalbeck’s poetische Begabung, die wir aus einem Bändchen Gedichte und vielen trefflichen Operntext-Ueber setzungen kennen, durchbricht keineswegs die Kreise seiner kritischen Arbeit, vielmehr erweitert und schmückt sie die selben. Max der Poet unterstützt Max den Kritiker, indem er ihm treffende Gleichnisse, farbige Bilder, novellistisch spannende Einkleidungen liefert. Andererseits sorgt seine historische und philosophische Bildung dafür, daß die Haupt sache, die Kritik, vom Blumengewinde nicht erdrückt werde. Kalbeck liebt es vornehmlich, in den Einleitungen seiner Feuilletons weiter auszuholen und uns so in die ge wünschte Stimmung für das nachfolgende Urtheil zu versetzen. Man lese zum Beispiel den Anfang seiner Kritik von Boieldieu’s „Johann von Paris“: „An alten Briefen, die jahrelang von der frischen Luft abgesperrt, in stiller Lade verschlossen ruhen, haftet manchmal ein eigenthümlicher Duft, der uns, wenn wir das ausgeblichene Seidenband von den moderigen Blättern lösen, befremdend entgegenschlägt. Wir haben des Empfängers wie des Schreibers längst vergessen, kennen vielleicht weder den Einen noch den Andern, und doch gibt der charakteristische Odeur ihrer papierenen Hinterlassenschaft uns gewisse Kunde von ihrer leiblichen Existenz, und unvermerkt fühlen wir uns zurück versetzt in die Atmosphäre eines längst vergangenen und verschollenen Daseins. Merkwürdig, daß der niederste und verachtetste unserer Sinne der allerhöchsten, ans Ideale streifenden Verfeinerung fähig ist. Denn wir vermögen ihn, der Physiologie zum Trotz, von den Gegenständen so weit zu abstrahiren, daß wir ihn in den Bereich unserer Vor stellungen aufnehmen; eine ahnungsvolle Witterung umfängt unseren Geist und hat Ideenverbindungen zur Folge, von

denen wir uns nichts träumen lassen. Wir entfalten die Partitur „Johann von Paris“, und ein feines Geduft von Bisam und Rosenöl weht aus ihrer Musik zu uns her“.

Oder als Gegenbild die humoristische Einkleidung seines Berichtes über den „Zigeunerbaron“: „Im Anfang hatte M. Jokai eine „Grundidee“, die sich für die Bühne eignete. Und die Bühne war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Jokai’s schwebte auf dem Wasser. Da kam Herr I. Schnitzer und sprach: Es werde ein Stoff! Und es ward ein Stoff. Und derselbe Herr sah, daß der Stoff gut war und nannte ihn „Zigeuner baron“. Und der Herr sprach: Es sammle sich das Wasser an besondere Orte, daß man das Trockene sehe. Und es geschah also. Und Schnitzer nannte das Trockene Dialog und die Sammlung der Wasser nannte er Text. Und er sah, daß es gut war! Da ward aus Abend und Morgen der erste, der andere und der dritte Act. Und Schnitzer sendete den Text an Johann Strauß, auf daß er ihn componire. Und Johann Strauß ließ aufgehen Gras und Kraut, lieb liche Blumen und fruchtbare Bäume, ein Jegliches nach seiner Art. Und Strauß sprach: Lasset uns Melodien machen, welche herrschen über Alles, was da singt und springt, pfeift und geigt, die Tasten schlägt und werkelt auf Erden. Und er schuf Walzer und Polkas, lustig anzuhören, und sah an Alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut.“

Kalbeck’s „Opernabende“ füllen zwei elegant ausge stattete, mit den Porträts der Componisten geschmückte Bände, deren erster den deutschen Meistern gewidmet ist, während der zweite sich mit Ausländern beschäftigt. Wir finden hier die hervorragendsten Opern beurtheilt (nur das Werk, nicht die Aufführung), welche man in den letzten zwanzig Jahren im Wiener Hofoperntheater zu hören bekam. Der „deutsche“ Band reicht von Gluck und Mozart bis Goldmark, Brüll und Kienzl; der „ausländische“ von Che rubini bis Mascagni, Leoncavallo, Massenet, Smetana und Tschaikowsky. Von Richard Wagner sind, ohne sonderliche Begeisterung, die „Feen“ und „Tristan“ besprochen. Von Wagner’s „Tristan“-Dichtung schreibt Kalbeck: „Daß das unförmige, von Absurditäten trotzende Textgedicht zu „Tristan“, in welchem die deutsche Sprache vorne mit Stäben klappert und hinten mit Vocalreimen klingelt, auch seine verborgenen Schönheiten besitzt; mag wohl sein; wir sind nicht so glücklich gewesen, sie zu finden. Von der bloßen Lectüre bekommt man blaue Flecken. Auch wollen diese Verse nicht gelesen, sondern gesungen werden, wodurch sie wesentlich gewinnen, da man immer erst das zehnte Wort versteht.“ Gegen die

Mehrzahl der neuesten Opern führt Kalbeck eine recht scharfe Klinge, einigen anderen naht er mit auffallend zärtlicher Vorliebe, wie dem „Ritter Pazman“ von Strauß und der Wüllner’schen Recitativ-Bearbeitung des „Oberon“. Darüber entscheidet recht schnell die Zeit. Zu groß für ein gehende Besprechung ist leider das Register der beiden Kalbeck’schen Octavbände; dem musikalisch gebildeten Leser wird keiner dieser Opernabende ein verlorener sein.

Im selben Verlage „Harmonie“ (Berlin, 1899) sind soeben Tschaikowsky’sMusikalische Erinne rungenen“ erschienen. Mit erwartungsvoller Ungeduld griff ich danach. Verdanke ich doch der „Pathetischen Symphonie“, noch mehr dem „Eugen Onegin“ eine lebhafte Sympathie für den Componisten, in dessen früheren Orchesterwerken mich manches Rohe und Dilettantische abgestoßen hatte. Die Erinnerungen“ enthalten ein autobiographisches Fragment Tschaikowsky’s nebst einer Auswahl seiner für russische Blätter geschriebenen Musikkritiken. In dem „Fragment“ erzählt Tschaikowsky von seinen Kunstreisen nach Berlin, Leipzig und Hamburg; eine Schilderung seiner Erlebnisse in Frankreich und Amerika ist er uns leider schuldig ge blieben. Ehrlich gestanden hat das aus Tschaikowsky’s Nach laß zusammengestellte Buch mich ein wenig enttäuscht. Gerade von ihm hatte ich mehr Eigenartiges, Interessantes erwartet. Ein liebenswürdiger, aufrichtiger Mensch spricht allerdings aus diesen Mittheilungen. Aber nicht Alles, was ein solcher seinen Freunden ausführlich erzählt, bewährt ein gleiches Interesse für weitere Leserkreise. Tschaikowsky beginnt mit der Schilderung seines ersten Dirigenten-Debüts in Moskau (1886). Wie er, ganz ungeübt im Dirigiren, voll Besorgniß den Taktstock in die Hand nahm, schließlich aber Alles gut ablief. Fast dasselbe erzählt er weiter aus Peters burg und aus Leipzig, wo er ebenfalls in großen Orchester- Concerten seine eigenen Werke dirigiren mußte. Auch die ausgedehnte Erzählung von den Ungeschicklichkeiten und Miß griffen seines (nicht genannten) Concert-Agenten bietet heute wenig Interesse. Von seinen Landsleuten, den Musikern Brodski, Seloti und Friedheim, spricht er gelegentlich seines

Leipziger Aufenthaltes mit außerordentlicher Wärme, ohne jedoch deren Talente und Leistungen näher zu charakterisiren. Interessant sind hingegen seine Urtheile über einige berühmte Componisten. In Leipzig lernt er Brahms kennen, dessen Erscheinung ihm merkwürdigerweise „gar nicht deutsch“ vorkommt, sondern „an den Typus des echten Großrussen erinnert, wie man ihn besonders unter Geist lichen antrifft“. Tschaikowsky’s geringe Sympathie für die Musik von Brahms ist bekannt; es scheint, daß diese Empfindung gegenseitig war. „Wie alle meine musikalischen Freunde in Rußland,“ schreibt Tschaikowsky, „schätze ich Brahms als ehrlichen, überzeugungstreuen, energischen Musiker, aber trotz allen guten Willens kann ich seine Musik nicht lieben. In dieser liegt für das russische Herz etwas Trockenes, Kaltes, Nebelhaftes und Abstoßendes; von unserem Standpunkte aus fehlt Brahms jede melodische Erfindung. Wenn man ihn hört, fragt man sich: ist Brahms in der That tief oder kokettirt er nur mit der Tiefe seiner musikalischen Erfindung, um die äußerste Armuth der Phantasie zu maskiren? Es dürfte schwer halten, diese Frage definitiv zu entscheiden.“ Wir achten die Aufrichtigkeit von Tschaikowsky’s Bekenntniß, das, fern von Dünkel und Gehässigkeit, sich rein subjectiv ausspricht; daß sein Urtheil uns trotzdem höchst einseitig, beschränkt und ungerecht erscheint, brauchen wir unseren Lesern nicht erst zu sagen. Ueber Brahms’ Charakter, seine echte Bescheidenheit, sein hilfs bereites Wirken für junge Tonkünstler spricht Tschaikowsky mit aufrichtiger Wärme. „Richard Wagner,“ erzählt Tschai kowsky, „pflegte besonders boshaft über Brahms’ Schöpfungen sich zu äußern. Als man nun Brahms einmal einen neuen, besonders boshaften Ausfall Wagner’s an seine Adresse hinterbrachte, rief er aus: „Mein Gott, Wagner schreitet ja triumphirend auf der großen Straße! Wodurch kann ich ihm wol hinderlich sein oder ihn ärgern, wenn ich meinen bescheidenen kleinen Fußpfad gehe, und warum kann er mich nicht in Ruhe lassen, da ich gewiß niemals seinen Weg kreuzen werde?“ Das ist echter Brahms!

Ganz anders fühlt Tschaikowsky für Edward Grieg, der es verstanden habe, sich für immer die russischen Herzen zu erobern. „In seiner von zarter Melancholie durchdrun genen Musik spiegeln sich gleichsam die Schönheiten der nor wegischen Natur ab, die, bald erhaben und großartig, bald in Nebel verschleiert, in anspruchsloser Dürftigkeit sich zeigt,

aber für die Seele des Nordländers etwas unaussprechlich Reizvolles, einen verwandten Ton besitzt, der in unseren Herzen einen Widerhall weckt. Es ist möglich, daß Grieg viel weniger Meisterschaft besitzt als Brahms, weniger hochfliegende Pläne verfolgt und der Neigung zu bodenloser Tiefe gänzlich entbehrt, aber dafür steht er uns menschlich viel näher.“ Tschaikowsky ist unerschöpflich in Lobpreisungen Grieg’s, denen man so ziemlich beipflichten kann, bis auf die Behauptung, daß Grieg „allem Gesuchten und Gequälten aus dem Wege geht.“ Im Gegentheil, auf diesem Wege glauben wir ihm recht häufig zu begegnen. Allerdings dürfen wir die Eigenart nationalen Geschmacks nicht zu gering anschlagen. Dem skandinavischen Volke klingt Vieles keines wegs gesucht und gequält, was wir so nennen; dem Russen nicht roh und lärmend, was uns so berührt; dafür dürfen wir Deutsche ruhig auch die Vorwürfe ablehnen, welche Russen und Norweger gegen Brahms erheben. Voll Bewunderung spricht Tschaikowsky von dem Dirigenten- Genie des jungen Capellmeisters Arthur Nikisch; mit wärmster Anerkennung von dem glänzenden Talente Busoni’s, des Componisten und Virtuosen. Gleichwol be dauert er, daß Busoni seiner Natur Gewalt anthue und um jeden Preis als Deutscher erscheinen wolle. Ebenso Sgambati. „Sie schämen sich Beide, Italiener zu sein, fürchten, daß in ihren Compositionen auch nur ein Schatten von Melodie durchleuchte, und wollen „tief“ sein nach deut scher Art.“ Tschaikowsky nennt dies eine traurige Er scheinung; überzeugt, „daß die italienische Musik nur dann eine neue Blüthenperiode erleben wird, wenn ihre Vertreter sich entschließen, anstatt im Widerspruch mit ihrem künst lerischen Naturell in die Reihen von Wagner, Liszt und Brahms zu drängen, aus dem Innern des nationalen Geistes heraus neue musikalische Anregungen zu schöpfen und unter Verzicht auf die veralteten Banalitäten der Dreißiger-Jahre neue Formen zu finden, die in Ueberein stimmung mit der sie umgebenden südlichen Natur sich durch glänzenden Melodienreichthum und gefällige Einkleidung aus zeichnen.“

Von Leipzig führt uns Tschaikowsky nach Hamburg. Er sonnt sich förmlich im Nachgenusse der ihm hier be reiteten Ovationen und des so freundschaftlichen Entgegen kommens vieler musikalischer Familien. Den Brahms- Cultus will er nirgends so verbreitet gefunden haben, wie

in Hamburg; eine Thatsache, die er einfach auf die Oppo sition der Hamburger gegen Wagner zurückführt. „Du hast nun einmal die Antipathie!“ heißt es im „Faust“. Tschaikowsky folgt hierauf einer Einladung nach Berlin, wo er im Concerte der „Philharmonie“ blos seine eigenen Compo sitionen dirigirt. Auch hier erfreut er sich großer Erfolge und geselligen freundschaftlichen Verkehrs mit Moszkowski, Sauret, Hermann Wolff und der von ihm hoch verehrten Desirée Artôt. — Von weit geringerem Inter esse als das autobiographische Fragment sind die an gefügten „Musikalischen Kritiken und Feuilletons“. Tschaikowsky hatte sich im Jahre 1871 entschlossen, für die Moskauer „Russischen Nachrichtendas Musikreferat zu übernehmen. Weniger aus Liebe zur Sache, als um sich ein festes Einkommen zu sichern. Lebte er doch damals in sehr knappen Verhältnissen. Seine Urtheile über die Moskauer Aufführungen lauten oft sehr scharf, besonders über die Chöre und die Mitglieder zweiten Ranges der italienischen Opernsaison unter Merelli. Auch das Publicum wird wegen tactlosen oder störenden Benehmens häufig von ihm abgekanzelt. So lästiger und meist frucht loser Thätigkeit schnell überdrüssig, legte Tschaikowsky nach vier Jahren die kritische Feder nieder. Neue Gesichtspunkte oder originelle, geistreiche Ausführungen wird man schwerlich finden in diesen Aufsätzen über „Don Juan“, die „Eroica“, Fra Diavolo“, „Die Afrikanerin“, „Traviata“, Christine Nilsson und Bülow. Betroffen innehalten mußten wir nur bei dem merkwürdig knappen Urtheil über „Fidelio“: „Die Musik ist hübsch, kann aber mit Beethoven’s Symphonien nicht verglichen werden und steht weit hinter den Opern Mozart’s zurück!“ Dann bei dem enthusiastischen Ausspruch, der Es-moll-Satz in Schumann’sVierter Symphonie werde „für die zukünftigen Geschlechter ein ebenso leuchtendes Denkmal des menschlichen Geistes bilden, wie der Kölner Dom selbst.“ So unberechenbar sind oft die Neigungen Tschaikowsky’s: dort viel zu wenig für den „Fidelio“, hier viel zu viel für den Schumann’schen Symphoniesatz. Erwartungsvoll trat ich an Tschaikowsky’s Berichte über das Bayreuther Festspiel 1876. In zwei langen vorbereitenden Feuilletons erzählt er die Entstehung von Wagner’s „Nibelungenring“, beschreibt die Stadt, das Festspielhaus, die namhaften Fremden, die elende Verpflegung, um endlich in einem einzigen dritten Artikel die Hauptsache,

Wagner’s Tetralogie, zu besprechen oder vielmehr sich scheu herumzuwinden. Er bittet seine Leser um Entschuldigung, wenn er „nur für eine ferne Zukunft“ eine kritische Erörterung der Wagner’schen Schöpfung versprechen könne. „Ob R. Wagner recht gethan hat, indem er im Dienst seiner Idee bis zum Aeußersten gegangen ist, ob er das Princip des ästhetischen Gleichgewichts vernachlässigt hat und ob die Kunst noch weiter auf demselben Wege, den er als Aus gangspunkt bezeichnet, fortschreiten wird, oder ob der Nibelungenring“ zugleich den Punkt bedeutet, von dem aus die Reaction beginnen wird — wer wollte das heute ent scheiden?“ Tschaikowsky kommt wiederholt auf den „Zu stand vollständiger geistiger und physischer Erschöpfung“ zurück, die er nach den einzelnen Theilen der Tetralogie empfunden, und resumirt zum Schluß, was er aus dem Bayreuther Festspielhaus mit heimgenommen habe: „1. Eine verwirrte Erinnerung an zahllose überraschende Schönheiten, besonders symphonischer Natur. 2. Bewunderung für das ungeheure Talent des Dichtercomponisten und seine Technik. 3. Den Zweifel an der Richtigkeit von Wagner’s Ansicht über das Wesen der Oper. 4. Das Gefühl großer Ermattung, aber auch den Wunsch, das Studium dieser complicirtesten aller jemals geschriebenen Musikschöpfungen fortzusetzen.“ Wagner’s berühmte Bayreuther Schlußrede „Sie haben nun gesehen, was wir können etc.“, stellt Tschai kowsky treffend in eine Reihe mit Ludwig’s des Vierzehnten „L’état c’est moi !“ —

Tschaikowsky’s persönliches Verhalten zu der Musik der berühmten Meister erhellt aus seinen Feuilletons nur sehr unvollständig. Mehr darüber erfahren wir von seinem intimen Freunde, dem ausgezeichneten Musikgelehrten und Kritiker Herrn Laroche in Moskau, demselben, dem ich für seine Uebersetzung des „Musikalisch-Schönen“ ins Rus sische verpflichtet bin. Tschaikowsky’s Hauptgottheit, erzählt Laroche, war und blieb Mozart, mit dem er Zeit seines Lebens sich gründlich nach allen Seiten hin beschäftigte. Bach und Händel stand er ganz fremd gegenüber. Bach’s Fugen spielte er wol zuweilen für sich auf dem Clavier, die Cantaten aber und die großen Vocal-Compositionen nannte er eine classische Quälerei. Händel konnte er absolut nicht leiden. (Wer denkt da nicht an Spohr’s Antwort zu den Herren vom Bach-Denkmal-Comité: „Ich weiß nur Einen Componisten, der mir noch unangenehmer ist als

Bach: das ist Händel!“) Merkwürdigerweise gehörte zu Tschaikowsky’s Antipathien auch Chopin. Vielleicht weil er unbewußt selbst mit Chopin manche Aehnlichkeit hatte. In seiner Jugend schwärmte er sehr für die italienische Oper, für Rossini und Verdi, liebte auch das italienische Volk und die italienische Sprache. Von einem dreijährigen Aufenthalte in Italien datirt sein Italienisches Capriccio und die Orchester-Phantasie über italienische Volks melodien. Bei den Concerten, welche R. Wagner 1863 in Petersburg gab, blieb Tschaikowsky kühl und skeptisch; besonders das allgemein bejubelte Vorspiel zu „Lohengrin“ machte auf ihn gar keinen Eindruck. Gegen Laroche machte er auch kein Hehl daraus, wie wenig ihm die Nibelungen“ gefielen. In Bayreuth befand er sich aber in einer Gesellschaft, wo er nichts gegen Wagner äußern durfte; besonders Professor Klindworth vom Moskauer Conser vatorium, einer der heftigsten Wagnerianer, wich nicht von seiner Seite. Erst im Jahre 1886 lernte er „Parzifal“ aus dem Clavierauszug kennen und war von der Schlußscene des ersten Actes entzückt. Von dieser Zeit an zeigen sich sogar gewisse Wagner’sche Einflüsse auf seine eigenen Com positionen, obwol er Wagner’s Operntheorie nicht anerkannte und bis zu seinem Lebensende Opern mit Arien, Duetten, Chören und Balletten schrieb. Gegen Gounod war er anfangs sehr kühl gestimmt, wurde aber später, unter dem Einfluß der Artôt, ein warmer Verehrer des „Faustund des „Romeo“. Umgekehrt erging es ihm mit Schu mann, der einen tiefen Eindruck auf Tschaikowsky hervor gebracht hatte, später jedoch an ihm einen viel kühleren Beurtheiler fand. Ueber Tschaikowsky’s Verhalten zu Beethoven gibt uns Laroche folgenden merkwürdigen Aufschluß: „Im Allgemeinen hegte er für Beethoven große Ehrfurcht, die freilich sehr verschieden war von der schwär merischen Liebe, die er für Mozart empfand. In seinen schriftlichen Aeußerungen über Beethoven war er sehr vor sichtig und farblos, da er es nicht liebte, durch öffentliche Aussprache seiner geheimen Gedanken eine Polemik heraus zufordern.“

Tschaikowsky starb am 25. October 1893 nach zwei tägigem Krankenlager, erst 53 Jahre alt. Seit Turgenjew’s und Dostojewski’s Hinscheiden hatte Petersburg kein so prunkvolles Begräbniß gesehen und keine so allgemeine Trauer. (Ein Schlußartikel folgt.)