Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12533. Wien, Samstag, den 15. Juli 1899 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12533. Wien, Samstag, den 15. Juli 1899 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 15.07.1899
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Neue Bücher über Musik. II. (Marsop’sEssays. — Bülow’sBriefe und Schriften. — M. Wirth’sAuslegung der „Eroica“.)

Ed. H. Siehe „Neue Freie Presse“ vom 28. Juni d. J. Ich weiß nicht, inwieweit Paul Marsop Recht hat, wenn er im Vorwort zu seinen „Musikalischen Essays“ bittet, wir möchten alle seine früheren Schriften als Jugendsünden „endgiltig aus dem Gedächtniß vertilgen“. Sein neues Buch Musikalische Essays“ von Paul Marsop bei E. Hofmann & Comp., Berlin, 1899. wird gewiß kein ernster Leser ohne reiche Anregung und Belehrung aus der Hand legen. Wol auch nicht ganz ohne Widerspruch, wie ja der Verfasser selbst ausdrücklich wünscht. Die Reihe der Aufsätze eröffnet Franz Schubert ein Zukunftscomponist“. Der charakterisirende Beisatz ist etwas mißverständlich. Meint der Verfasser damit, daß die vollkommensten Werke Schubert’s noch in eine ferne Zukunft hinüberblühen werden, so scheint uns das selbstverständlich. Die fortzeugende Kraft Schubert’s hat sich nach seinem Tode bereits im Schumann, Robert Franz, ja in allen wahrhaft berufenen Lieder komponisten bewährt. Sollte aber mit „Zukunftscomponist“ an das seit Wagner landläufige Schlagwort erinnert sein, so dürften alle aufrichtigen Schubert-Verehrer protestiren. Wohlthuend berührt die echte, zur Begeisterung sich steigernde Wärme, mit welcher der zu den Wagnerianern zählende Verfasser von Schubert spricht, dann von den Verdiensten, welche Schumann, Liszt, Stockhausen und Amalie Joachim sich um Schubert erworben haben. Wer Schubert’s Erbe sein werde? Darauf gibt Marsop die vortreffliche negative Antwort: „Schwerlich das musikalische Jungdeutschland, welches in kleinlichem Ausdeuteln des Wortsinnes, in spiele rischer Sylbenstecherei den einheitlichen Linienfluß zerreißt oder die Grenzen der Künste verwischt, indem es malt anstatt zu musiciren und die Fläche mit einer Unzahl in einander verschwimmender, accordischer Farbenflecke bedeckt.“

Drei Aufsätze behandeln „Die Naturgeschichte der Operette“, Marsop ist überaus schlecht auf sie zu sprechen.

Er zählt die moderne Operette zu den tückischen Gift pflanzen, die schwer auszurotten sind, und beklagt es, daß die Kritik ebensowenig schlechte Kunst zu vernichten vermag, wie gute hervorzubringen. Der modernen Operette stellt er, gleichsam als gutes Princip, die komische Oper gegenüber. „Aber,“ behauptet Marsop, „der Deutsche hat keine komische Oper; die französische Opéra comique hat gelebt und auch mit der italienischen Opera buffa ist es vorbei.“ Er sieht allzu pessimistisch. Allerdings stockt auf diesem Ge biete die Production bei allen drei Nationen — zum Theile in Folge des überall eindringenden Wagnerismus — aber deßhalb dürfen wir noch nicht vorschnell begraben, was hoffentlich nur scheintodt ist. Auf allen Kunstgebieten gibt es solche Perioden der Stagnation. Freilich, wenn man nach Marsop in Auber nur einen „Zerstörer“ der Opéra comique erblickt, dann bleibt nicht viel übrig. Zum Angriffe gegen die eigentliche Operette übergehend, übt der Verfasser doch Gerechtigkeit gegen das glänzende Talent Offen bach’s, „eines der genialsten Caricaturisten, die jemals lebten.“ Ihm ist viel eingefallen, deshalb darf ihm viel ver ziehen werden. Trotzdem legt Marsop übermäßiges Gewicht auf die angeblich politische Bedeutung dieser Operetten, wenn er die „Travestie des Napoleonismus“ als eine Hauptursache ihres Erfolges bezeichnet. Er spottet darüber, daß man in DeutschlandOrpheus in der Unterwelt“ für eine Travestie des griechischen Olymps hält und nicht für eine actuelle politische Satire. Auch ahne man bei uns gar nicht, daß in „Blaubart“ und der „Großherzogin“ die französischen Favoritgenerale und Diplomaten der Tuilerien verhöhnt werden. Nun, da man dies in Deutschland gar nicht geahnt und sich trotzdem an der melodiösen Musik und der witzigen Handlung ergötzt hat, so müssen der Werth und die Wirkung dieser Operetten doch nicht gerade in ihren An spielungen auf die französische Politik liegen. Ebensowenig ist es „die Freude am Tricot“, was den Erfolg von Offen bach’s Operetten begründete; kennen wir doch viele der allerhübschesten, die ganz ohne dieses Reizmittel wirken, und umgekehrt zahlreiche deutsche Operetten, die trotz liberalsten Costüms — „das ewig Weibliche zieht sich nicht an“ — klanglos durchgefallen sind. Noch übler als den französischen ergeht es bei Marsop der Wiener Operette. „Alles in ihr,“ sagt er, „ist Fabrikswaare — bis auf Eines, und dies einzig Gute und Neue in ihr, der Strauß’sche Walzer, hat mit ihr nichts zu

schaffen. Strauß und sein Bestes blieben Fremdlinge auf der Scene. Er, der feinsinnigste und liebenswürdigste aller Tanzcomponisten, hat nicht drei Tropfen Bühnenblut in sich. Er setzte die reizenden Walzer- und Polkamotive, welche ihm Jahre hindurch in überreicher Fülle, späterhin etwas spärlicher zuströmten, unbekümmert um Declamation und Ausdruck mit einem beliebigen Text in Verbindung, wie ihn gerade Buch und Situation mit sich brachten; das heißt: „er schrieb unter einer Anzahl von Notenköpfen eine ungefähr gleiche Anzahl von Sylben“. Hingegen rühmt Marsop unsern Strauß als absoluten Musiker und versichert, es können von seiner Orchestrirung die Besten noch lernen. „Himmels stürmer, welche mit verblüffender Geschwindigkeit Musik dramen und symphonische Dichtungen aus den Aermeln schütteln, thäten nicht übel daran, gelegentlich eine Partitur von Strauß mit gespannter Aufmerksamkeit durchzulesen, anstatt vom ersten Hahnenschrei bis zur nächsten Mitternacht Berlioz’sche und Liszt’sche Folianten zu wälzen.“ Mit voller Ueberzeugung unterschreiben wir Marsop’s Prophezeiung: „Wenn Niemand mehr an die unsinnigen Possenspiele eines „Prinz Methusalem“, eines „Indigo“, einer „Nacht in Venedig“ denken wird, dann werden die jenen und anderen Werken Johann’s des Wienerischen entnommenen Walzer als Offenbarungen einer zugleich volksthümlichen und hin reißend feurigen Melodik, als Musterbeispiele graziöser musi kalischer Kleinkunst noch in voller Jugendfrische leben.“

Einer der längsten Essays, „Die Aufgabe der deutschen Gesangsbühnen“, wendet sich scharf polemisch gegen die großen deutschen Operntheater und ihre „krause Musterkarte von Werken deutscher, französischer und italienischer Herkunft“. Mit Richard Wagner beansprucht der Verfasser, „daß auf unseren Gesangsbühnen der Geist des deutschen Musikdramas der herrschende werde“. Nur rein deutsche Opern sollen bei uns gegeben werden (womöglich nur Wagner’sche, liest man zwischen den Zeilen). Also fort mit Boieldieu, Auber, Meyerbeer, Bizet, Rossini, Donizetti, Verdi — natürlich auch mit Smetana, Tschaikowsky u. s. w., damit nur der weiße Hermelin des deutschen Musikdramas unberührt bleibe. Vermögen doch, betont Marsop, deutsche Sänger nie den Gesangsstyl der italienischen oder französischen Oper sich anzueignen. Sei dies, wenn auch mit namhaften Einschränkungen, zugegeben, so mögen wir doch die schönsten Opern Frankreichs und Italiens lieber etwas national abgeschwächt hören, als gar nicht. Das deutsche

Publicum will nicht in allen Journalen von dem außerordentlichen Erfolg einer neuen französischen oder italienischen Oper lesen und für immer auf deren Bekanntschaft verzichten. Die Universalität des deutschen Volkes, sein Bestreben, von dem Besten ausländischer Kunst und Literatur Kenntniß zu nehmen, soll man ihm nicht zum Vorwurf machen. Prüfet Alles und das Beste behaltet. Die deutschen Theater, Oper wie Schauspiel, dürfen sich nicht mit einer National-Ring mauer umgeben und werden es nie. Wenn Marsop uns den nationalen Charakter der französischen und italienischen Bühnen als Vorbild aufstellt, so übersieht er, daß sie diesen engen Ringwall längst durchbrochen haben und täglich weiter durchbrechen. Schon vor zwanzig Jahren hat man in Mai land den „Freischütz“, „Wilhelm Tell“, „Robert der Teufelitalienisch, in Paris den „Fidelio“, „Freischütz“, Don Juan“, „Aïdafranzösisch gesungen. Heute vollends sind in Frankreich und ItalienWagner’s Musikdramen Mode geworden, die doch in Text und Musik den romani schen Völkern gewiß das Fremdartigste bleiben. Und just die deutschen Opernbühnen sollten sich den besten ausländischen Werken verschließen? Mit solch unduldsamer Strenge macht man unser Theater nicht groß, sondern arm. Das Schlimmste aber kommt noch. Zu den von der deutschen Bühne zu ent fernenden Opern gehören nach Marsop auch Mozart’s „Figaround „Don Juan“; sind sie doch ursprünglich auf italieni schen Text componirt. In Mozart’s Opernmusik, behauptet er, herrscht ein dem deutschen Geiste „wesensfremder Styl“. Marsop sieht in Mozart nur den „Meister des Rococo“. „Was aber,“ fährt er fort, „hat mit irgend einem Rococo unsere deutsche dramatisch-musikalische Kunst zu schaffen? Was hat das deutsche Volk mit einer ornamentalen, in Arabesken sich ausschweigenden Kunst zu thun, auch wenn sie durch Mozart ihrerseits zur entzückenden Vollendung er hoben wurde? Was hilft es, schöne und weniger schöne Vergangenheiten zu einem Scheindasein inmitten einer nach unabänderlichen Naturgesetzen nun doch gründlich veränderten Culturwelt heraufzubeschwören?“ Wir können Herrn Marsop die bündigste Versicherung geben, daß für die immense Mehrzahl der deutschen Musikfreunde Mozart kein bloßes „Scheindasein“ führt und wir uns höflichst für eine „deutsche dramatisch-musikalische Kunst“ bedanken, die von Mozart nichts wissen will. Marsop hat aber einen Trost für uns in Bereitschaft: „die Seelen der ernsthaften Mozartianer seien zweifelsohne in die Seelen der ernhaften Wagnerianer übergesiedelt“! So steht denn nach diesem Umzug seiner

sämmtlichen „ernsthaften“ Anhänger der arme Mozart als ein verlassenes, Wind und Wetter preisgegebenes Gemäuer da. Schrecklich, höchst schrecklich! heißt es in Shakespeare’s Tragödien.

Mit ungleich größerer Befriedigung haben wir die fol genden Essays gelesen: über die Faustmusik (von Radziwill und Lindpaintner bis Schumann, Berlioz, Gounod und Boito); über Schumann, Brahms und Bülow. Von Brahms spricht Marsop wärmer, als man vom Wagnerianer erwarten mochte; ohne Begeisterung zwar, doch mit gefühlter Hochachtung und redlichstem Streben nach Gerechtigkeit. Es fehlt hier leider an Raum, dem an geist vollen Bemerkungen reichen Aufsatz ins Einzelne zu folgen. Nur die schönen Schlußworte möchte ich hervorheben: „Das deutsche Requiem konnte nur ein Mann schreiben, dem man Adel der Seele zuzusprechen hat. Brahms blieb ein wähle rischer Geist, der nie um die Gunst der Menge buhlte — das Beste, was man im Zeitalter der Demokratie einem Künstler nachrühmen kann. Er liebte sein Volk als glühender Patriot, doch er verstand unter dem Volke die Summe der führenden genialen Kräfte im deutschen Wesen. Er fühlte sich frei vor dem Throne und frei vor dem Areopag des wetterwendischen Haufens. Ehre dem An gedenken dieses Aristokraten!“ — Die Reihe der musi kalischen Charakterbilder beschließt Hans v. Bülow. Ihm widmet Marsop den meisten Raum, die meiste Liebe. Mit hingebender Ausführlichkeit erzählt er Bülow’s Lebenslauf von den ersten Anfängen bis ans Ende. Er schildert und feiert ihn als den Meister des Clavierspiels, der Orchesterführung, der Kritik, der Agitation für die neu deutsche Musik. Es thut wohl, einen hochbegabten, uner müdlich thätigen, durchaus ehrlichen und uneigennützigen Mann wie Bülow so erkannt und anerkannt zu sehen. Daß Marsop, der sein Lob sonst nie ohne Einschränkung spendet, an Bülow nur schattenloses Licht vorfindet, verzeiht man der Liebe gern. Es empört ihn sogar, wenn man dem Kritiker Bülow Mangel an Objectivität vorwirft. „Was ist denn Objectivität?“ fragt er. Das ist allerdings in rein künstlerischen Dingen schwer zu definiren. Aber an dem Gegensatz läßt es sich vielleicht deutlich machen. Wenn Jemand von Parteigenossen componirte Stücke preist, die er, wären sie unter anderen Namen erschienen, schwerlich gelobt hätte — wenn er umgekehrt bedeutende Männer von anerkanntem Verdienste, aber nicht wagnerischem Ge schmack (wie Hiller, Engel u. A.) mit ungezügeltem Hohn angreift, so halten wir das nicht für „objectiv“.

Wenn Bülow einmal in Wien ein ganzes überlanges Concert mit lauter Liszt’schen Clavier-Compositionen von mitunter schwächster Sorte ausfüllt und schließlich das Publicum auf fordert, ein begeistertes Hoch auf Liszt auszubringen, so nennen wir das meinetwegen — liebenswürdig. In den ersten Jahren seiner kritischen Thätigkeit höchst subjectiv, oft geradezu ungerecht und verletzend, hat sich Bülow später geklärt, beruhigt, von einseitigem Parteistandpunkt befreit, sogar zu anerkennenden Worten für Mendelssohn und Meyerbeer herbeigelassen. Sein Eintreten mit Wort und That für Brahms bleibt ihm unvergessen.

Zu Marsop’s Essay bilden die „Briefe Hans v. Bülow’s“ gleichsam die pièces justicatives. Frau Marie v. Bülow hat soeben den dritten Band derselben veröffentlicht. H. v. Bülow’s Briefe." 3. Band. 1898. Leipzig, Breit kopf & Härtel. Als ich seinerzeit den Anfang dieser Bülowschen Autobiographie in Correspondenzform besprach Vergl. „Neue Freie Presse“ vom 4. August 1896. zwei starke Großoctavbände von 500 und 400 Seiten, die Zeit von Bülow’s elftem bis fünfundzwanzigstem Jahr um fassend — da konnte ich bei aller Anerkennung einer so interessanten Publication doch mein Bedenken nicht verhehlen gegen deren enorme Ausdehnung und Ueberfülle. Diese Bedenken steigern sich noch mit dem neuen, dritten Band. Derselbe enthält 240 Briefe Bülow’s, blos aus den Jahren 1855 bis 1864. Und man darf annehmen, daß deren noch drei- bis viermal so viel nachfolgen werden. Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe füllt nur zwei mäßige Bände. Dagegen drei dicke Bände, die nur Briefe von Bülow und erst die eine Hälfte seines Lebens enthalten! Gewiß wäre dem Andenken Bülow’s und seinem ansehnlichen Leserkreis besser gedient gewesen mit einer geschickten Auswahl. Vielleicht weniger amüsant, aber inhaltreicher und für Bülow’s Künstlerlaufbahn wichtiger als die beiden früheren Bände erscheint uns der dritte. Er unterrichtet uns über Bülow’s Stellung als Professor am Berliner Conservatorium, eine Zeit der Entbehrungen und Kämpfe, dabei des unermüd lichsten Fleißes. „Eine unproductive Lectionsmaschine“ nennt er sich selbst und verwünscht in hundert Variationen seinen Aufenthalt in Philistropolis, wie er Berlin betitelt. In diesem Dunkel trösten ihn zwei Sterne, zu denen er an betend aufblickt: Richard Wagner, „den man wie einen Gott verehren muß“, und Liszt, „der ganz vollkommene

Mensch“. Seine beste Erholung findet Bülow in einigen Kunstreisen. Stolz machen ihn 1860 seine Erfolge in Wien wo er sieben Jahre zuvor nur geringe Theilnahme gefunden. „Sieg! Sieg! Vollständige Revanche für 1853!“ berichtet er freudig seiner Mutter. Immer thätig als Agitator für Liszt und Wagner, ist Bülow die Seele der ganzen musikalischen Oppositionspartei, ihr schärfstes Schwert in Angriff und Abwehr. „Apage Enthusiasmus; Fanatismus heißt jetzt die Parole!“ ermahnt er Bronsart. Und später: „Was wir brauchen, ist ein musikalischer Despotismus, eine furchtbare Autorität, welche die Gemeinheit der Individuen nicht aufkommen läßt.“ Als der Musikkritiker Gustav Engel einer der gründlichsten und vornehmsten seines Faches, ein abfälliges, aber durchaus sachliches Urtheil über Liszt’s H-moll-Sonate drucken ließ, schrieb ihm Bülow einen impertinenten Brief, der mit einer ziemlich unverblümten Herausforderung schloß. Statt jeder Antwort veröffentlichte Engel den Brief in seiner Zeitung und durfte über das Urtheil der Leser beruhigt sein. Bülow’s Briefe im dritten Band strotzen von heftigen Ausfällen gegen alle musikalisch Andersdenkenden; leidenschaftliche Gereiztheit wechselt mit lustigen Wortwitzen, in denen Bülow ein unerschöpflicher Virtuose war. Moscheles’ bekanntes Duo „Hommage à Händelnennt er „Fromage à Händel“; aus Mendelssohn’s Variations sérieuses werden „ennyeuses“, aus Ferdinand „Pferdinand“ Hiller, aus Chef „Schöps“ d’orchestre u. s. w. Uner müdlich arbeiten seine Kalauer auch gegen Mendels sohn, den er bald „Mendelsbruders Neffe“, bald „Men delsvaters Enkel“ titulirt. Mit Interesse durchblättern wir die Briefe, in welchen Bülow mit wunderlicher Selbst ironisirung seine Vermälung mit Cosima Liszt den Freunden anzeigt. Im Sommer 1862 trifft das junge Ehepaar in Biebrich mit Richard Wagner zusammen, der auch den er holungsbedürftigen Bülow sofort unter seine Botmäßigkeit zwingt. „Du hast keine Ahnung davon,“ schreibt dieser an Pohl, „wie viel ich hier in Sachen Wagner’s zu thun habe. ... Eben habe ich eine Copie der „Meistersinger“ zu Stande gebracht, 145 Quartseiten; habe fünf Tage zu acht Schreibstunden daran in gräßlichster Hitze die Finger ge steift. ... Meine Stimmung muß dir unerklärlich sein, vielleicht gar erkünstelt erscheinen. Du weißt eben nicht, was Alles um mich und in mir vorgegangen ist. Ich habe mich selbst, meine Individualität durch stete Hingabe an so und so viele Personen verloren — der redliche Finder wird gebeten u. s. w.“ Der Leser gewahrt schon hier die

Schatten kommender Ereignisse. Als im nächsten Frühjahr Raff anfragt, ob Bülow nicht wieder am Rhein Erholung suchen werde, empfindet dieser die Frage als Ironie, ja als bitteren Hohn. „So sklavisch ich mich unterthan fühle allen den Werken, die mir hoch und heilig stehen; einen gewissen Freiheitsdrang in Bezug auf meine Person habe ich noch nicht unterdrücken können. Wo ich dem werde zu seinem Rechte verhelfen können, dahin wandre ich, wenn ich wandre — also nicht in die Nähe eines Mock-Olymp. Deutlicher kann ich mich nicht ausdrücken.“ Aber der Sommer 1864 führt ihn wieder an die Seite des Olympiers. Wagner, von dem jungen König Ludwig nach Bayern berufen, hatte von diesem Bülow’s Anstellung als „Vorspieler“ mit dem Gehalt von 2000 fl. erwirkt. Im Juli verweilten Bülow und seine Frau bei Wagner in dessen Villa am Starn berger See; im November übersiedelten sie von Berlin nach München. Mit diesem folgenreichen Wendepunkt in Bülow’s Leben schließt der dritte Band unserer Briefsammlung. Wir haben allen Grund, uns auf die folgenden Bände zu freuen, besonders wenn sie nicht so viele geheimnißvolle Gedanken striche und schweigsame Punktreihen aufweisen wie der dritte.

Bülow’s Briefen steht ergänzend und erklärend eine Auswahl seiner Schriften zur Seite, deren Sammlung und Herausgabe wir gleichfalls Frau Marie v. Bülow ver danken. H. v. Bülow. Ausgewählte Schriften (1850—1892). Leipzig, 1896, bei Breitkopf & Härtel. Viele dieser Kritiken über verschollene Compo sitionen und längst vergessene Concerte entbehren heute den Reiz der Actualität; aber Bülow’s Feuergeist belebt sie alle. Die Sammlung schließt mit der berühmten Rede über Beethoven’s Heroische Symphonie. „Wir widmen sie,“ ruft Bülow, „dem Bruder Beethoven’s, dem Beethoven der deutschen Politik, dem Fürsten Bismarck!“

Dieser einfache Widmungshandstreich Bülow’s hat aber einem jüngeren musikalischen Bismarck-Verehrer offenbar nicht genügt, ihn vielmehr angespornt, das Walten Bis marck’s in der 1803 componirten Heldensymphonie bis ins Einzelne nachzuweisen. Es ist dies Herr Moriz Wirth, den Alexander Moszkowski in einem witzigen Feuilleton schlechtweg „den Hellsichtigen“ nennt, offenbar weil er Dinge sieht, wo und wie kein anderer Sterblicher sie wahrnimmt. Ueberdies fand M. Wirth in Wagner’s Musikdramen absolut nichts mehr zu erläutern; er hatte in zahlreichen Vorlesungen jede Wagner’sche Dichtung bereits bis auf das letzte Wort durchleuchtet, Wagner’s Helden und Heldinnen

alle längst bis aufs Hemd ausgelegt. Als Beispiel citiren wir das Programm, welches Moritz Wirth seiner fünften Vorlesung über den Grundgedanken der „Ring“ dichtungWagner’s zu Grunde gelegt hat: Der einheitliche Urzustand der Kräfte. Die Urschuld. Individuationen: Wotan und Fricka, die übrigen Götter und die anderen nichtmenschlichen Personen. Erda und die Nornen. Verstand und Wille. Theilung des Willens in Gutes und Böses; Trennung des Verstandes vom Willen. Uebergang vom Hylozoismus zum Mechanismus. Fortsetzung der Urschuld als Zufall durch das Drama. Die Versuche des Verstandes, den Widerstreit des Willens zu bändigen. Der Vertragsspeer. Der Wanderer; Brünnhilde und Siegfried. Erklärung des Mangels in Siegfried’s Sterbescene. Die Erlösung. Die Unzulänglichkeit im Wesen des Bösen: Alberich, Mime, Gunther, Hagen; der lebendige Arm des todten Siegfried. Die wachsende Läuterung im Wesen des Guten: Wotan, Siegmund, Siegfried. Die Erlöserinnen Fricka, Sieglinde, Brünnhilde. Die jungen Götter und die neue Erde des Mythus in der Schlußscene des Siegfried: Widerlegung des Optimismus. Die wirkliche Erlösung durch das Weltindividuum Wotan: Nirwana. Da gab es für ihn kein Problem mehr, und so wendete sich der Hellsichtige zu Beethoven und überraschte die Welt mit seiner bei Wild in Leipzig veröffentlichten Abhandlung: „Bismarck, sym phonische Dichtung von Beethoven.“ Darin erklärt er: „Ich spreche es hiemit aus, der zweite Satz der Bonaparte-Symphonie ist Beethoven’s Bismarck-Musik.“ Um das zu beweisen, citirt er mehrere Stellen aus Busch’s bekanntem Buche „Graf Bismarck und seine Leute“ und schließt: „Busch’s Worte gehen genau auf das selbe, was uns Beethoven durch seine Musik ohne jede Hülle sehen läßt.“ Weßhalb hat aber Beethoven diesen Satz Marcia funebre betitelt? Unser Forscher findet die Lösung wieder in Busch: Als nämlich der Vertrag über Errichtung des deutschen Reiches mit Bayern abgeschlossen war, habe Bismarck eine leise Rührung gezeigt, sei nachdenklich und dann besorgt gewesen, was die Zeitungen zu den Bedingungen sagen würden. Diese von Busch erzählte Thatsache, erklärt der Hellsichtige, „könnte fast wörtlich als Textunter lage für den Schlußsatz des Tonstückes dienen“. Es mußte Herrn Wirth sehr befremdet haben, daß Richard Wagner, sonst sein Abgott und Orakel, in seiner bekannten Erläuterung der Eroica mit keiner Sylbe auf den Reichskanzler hinweist. Er durchschneidet aber alle Bedenken mit dem vernichtenden Ausspruche, „es erscheine nach alledem die Frage gerecht fertigt, wie weit WagnerBeethoven über haupt verstanden habe“. Nun, wenn selbst Wagner Beethoven nicht verstanden hat, dann Gnade Gott allen Anderen!