Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12635. Wien, Mittwoch, den 25. October 1899 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12635. Wien, Mittwoch, den 25. October 1899 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 25.10.1899
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Der Dämon.“ (Oper in drei Acten, nach Lermontow’s gleichnamigem Gedicht, von Anton Rubinstein.)

Ed. H. Ein Dämon in Verbannung schwebte Betrübt zur sünd’gen Erde hin, Und bess’rer Zeit Erinn’rung lebte In Fülle auf vor seinem Sinn.

So lauten die ersten Verse von Lermontow’s poetischer Erzählung, dem Urbild der Rubinstein’schen Oper. Und ganz ähnlich die Anfangsworte, mit denen bei Robert Schumann „die Peri schmerzbefangen“ auftritt. Also hier wie dort eine märchenhafte Phantasiegestalt als treibender Mittelpunkt der Handlung; nicht göttlich und doch unsterb lich, nicht menschlich und doch erfüllt von menschlichen Be gierden und Qualen. Die Peri und der Dämon, Beide sind sie „um eines Fehltrittes willen“ aus dem Paradies verstoßen; jene sanft, duldend, dem Guten zugewendet; dieser trotzig, empört, ein Geist der Verwüstung und Ver nichtung. Solchem Fabelwesen öffnet sich leichter die epische als die dramatische Form, entspricht besser die Cantate als die Oper. Darum hat auch Schumann weiser gehandelt als Rubinstein.

Für eine dreiactige Oper bietet Lermontow’s Gedicht nur sehr dürftigen Stoff. Rubinstein hat ihn durch Einfüh rung volksthümlicher Tänze und Lieder aufgeschmückt, auch (mit weniger Glück) dramatisch zu erweitern gesucht. Die Einleitungsscene bringt symbolisch den Kampf des bösen mit dem guten Princip zur Anschauung: der Dämon wehrt sich höhnend gegen den mahnenden Engel des Lichtes. Aus der stürmischen Gespensternacht gelangen wir plötzlich in sonnige Landschaft und heiteres Menschentreiben. Tamara, die Tochter des kaukasischen Fürsten Gudal, schreitet von der Burg zum Fluß herab, wo ihre Mägde Wasser schöpfen. Der Dämon, entzückt von ihrem Anblick, nähert sich ihr, allen Uebrigen

unsichtbar, und behaucht ihr argloses Herz mit berückenden Schmeichelworten. Wieder wechselt die Scene. Wald, Abend dämmerung. Fürst Sinodal, Tamara’s Verlobter, kommt mit seinem Gefolge angeritten; er rastet, um bei Tagesanbruch die Reise zu seiner Braut fortzusetzen. Der Dämon, der ihm auf gelauert, läßt die Karawane durch Tataren überfallen, und Sino dal fällt im Kampfe. Der zweite Act beginnt mit den Hochzeits vorbereitungen in Gudal’s Schloß. Aber Gesang und Tanz finden da ein jähes Ende: unter den dumpfen Klängen eines Trauermarsches bringt man die Leiche des ermordeten Bräutigams. Auch durch diesen Jammer dringt die schmeichelnde Stimme des Dämons immer verführerischer an Tamara’s Ohr. Verwirrt, aufs heftigste erschüttert, fleht sie zu ihrem Vater, sie ins Kloster ziehen zu lassen. Dort in ihrer Zelle finden wir sie als Nonne zu Anfang des dritten Actes. Wieder naht ihr der Versucher und gewinnt endlich Macht über sie. Als Tamara, seinen Verlockungen kaum mehr widerstehend, von seinem Kuß berührt wird, er scheint der Engel des Lichtes. Tamara sinkt entseelt zu Boden und wird von Engeln zum Himmel emporgetragen. Der Dämon versinkt mit einem Fluche auf den Lippen.

In der incommensurablen Figur des Dämons stellte sich dem Componisten die größte Schwierigkeit entgegen. Welche Aufgabe, ihn dramatisch und musikalisch überzeugend zu machen! Ein Teufel, haßerfüllt, verderbenbringend und dabei unwiderstehlich bezaubernd; ein Unsterblicher und doch zum Sterben verliebt! Nachdem er „jahrtausendelang“ die Menschen verflucht und vernichtet hat, sinkt er plötzlich einem jungen Mädchen schmachtend zu Füßen. Er bewegt uns nicht zu sympathischem Mitgefühl wie die sagenhaften Ge stalten Hans Heiling oder der Holländer; nein, er ist das absolut Böse. Das wird uns noch recht absichtsvoll durch die wiederholte Erscheinung des ihn bekämpfenden Engels, des absolut Guten, eingeprägt. Die Widersprüche, welche der Held unserer Oper in sich vereinigt, sind nicht zu lösen. Für ein so unberechenbares, zwiespältiges Fabelwesen gibt es keine Psychologie, keinen moralischen Werthmesser, keine logische Motivirung. Vollends auf der Bühne, wo wir sehen wollen, was wir glauben, und nur glauben, was wir sehen. Der Charakter des „Dämon“

widerstrebt der festen Form; sie zerbröckelt, ob er nun seinen diabolischen Trotz uns zukehrt oder seine irdische Liebessehnsucht. So läßt uns denn Beides im Grunde gleich giltig. Mit Recht suchte Rubinstein’s Textdichter in der Ge stalt des Dämon das Große, Titanische zu betonen, nach dem Vorgang Lermontow’s. Dieser hat seinerseits wieder den Lucifer in Byron’s „Kain“ zum Vorbild genommen. Byron faßt den Lucifer (wortgetreu) als Lichtbringer, als den stolzen, unbeugsamen Geist der Kritik, ja den Geist der Freiheit auf. In diesen genialen Dichtungen eine imposante, unbegreifliche Macht, kann der „Dämon“ in der Oper kaum mehr werden als eine — dankbare Baritonpartie. Und das ist er bei Rubinstein immerhin geworden; wenngleich er als Liebhaber nicht die ergreifenden Töne Hans Heiling’s findet, noch als Dämon die geheimnißvollen des Fliegenden Hol länders.

Der Train, mit welchem Rubinstein’s „Dämon“ in Wien angelangt ist, hat eine arge Verspätung. 24 Jahre sind verflossen, seit Rubinstein bald nach der ersten Peters burger Aufführung seines „Dämon“ (1875) nach Wien kam und seinen Freund Mosenthal ersuchte, das Stück für unsere Hofoper zu bearbeiten. Mosenthal konnte sich mit dem „Dämon“ nimmermehr befreunden. Nachdem er das Ding von allen Seiten betrachtet und gewendet hatte, lehnte er die Arbeit ab, überzeugt, das Sujet des „Dämon“ sei vor dem Wiener Publicum unmöglich. Und doch stand Rubin stein damals in der Blüthe seines Ruhmes und seiner Kraft. Er genoß gerade in Wien eine enthusiastische Verehrung als Mensch und als — Clavierspieler. Nur seine Opern ver mochten in Wien niemals durchzudringen. Allerdings wirkte die persönliche Sympathie für Rubinstein so stark, daß jede Opern- Première, die er selbst dirigirte, eine glänzende Aufnahme fand. Sobald er aber Wien den Rücken gekehrt hatte, that das Publicum sofort dasselbe gegen seine Opern. Sowol die Kinder der Haide“, wie „Feramors“ — meines Erachtens seine relativ erfindungsreichsten — wanderten nach wenigen Aufführungen ins Archiv. „Mir ist die Oper eine unter geordnete Gattung in unserer Kunst,“ schreibt Rubinstein in seinem belangten Büchlein. Trotzdem drängt es ihn immer wieder dazu. Das Theater war so recht sein ver

lockender Dämon. Es folgten auf „Feramors“ „Die Makka bäer“, endlich „Nero“, zwei niederdrückend monotone, dramatisch wie musikalisch flügellahme Werke. Den „Nerohielt Rubinstein selbst für seine beste Oper. Sie ist es nicht und konnte es nicht sein, weil ihr jene einzige Kraft fehlt, die seine früheren Opern theilweise gerettet hatte: das russisch-orientalische Element. Den Römern konnte Rubin stein doch unmöglich moskowitische Volksmelodien zumuthen.

Den „Dämon“ schätze ich unbedingt höher, als die Makkabäer“ und den „Nero“. Es steckt darin mehr musi kalische Erfindung, mehr Farbe und Natürlichkeit, als in jenen beiden weit größer und anspruchsvoller angelegten Opern. Was dem „Dämon“ diesen Vorzug schafft, ist eben der nationale russische Musikgeist. Die am Kaukasus spie lende Handlung bietet in den zwei ersten Acten solchen Me lodien ungezwungenen Eingang. Vorher müssen wir uns freilich durch das lange Vorspiel durcharbeiten, in welchem unsichtbare gute und böse Geister, Chöre der Gewässer, der Bäume und Winde ihr redselig Wesen treiben, um endlich dem Dämon und dem Engel das Wort zur Disputation abzutreten. Für dergleichen Scenen hat Rubinstein bereits in seinem „Verlorenen Paradies“ sich einen bequemen geistlich-welt lichen Ton zurechtgemacht, der in seiner stylisirten Farblosigkeit jedenfalls dem Oratorium besser entspricht als der Oper. Hier erwarten wir stärkere, individuellere Charakteristik. Auf der Bühne lohnt es sich schlecht, einen Engel singen zu lassen oder einen Teufel; beide bleiben conventionell oder werden lächerlich. Nach diesem nächtlichen Geistervorspiel beginnt mit der aufgehenden Sonne auch die Musik zu leuchten und zu wärmen. Wie hübsch ist gleich der einleitende Chor der Mädchen beim Wasserschöpfen, dann das Lied Tamara’s, endlich die Ballade der Amme mit dem tactweise wieder kehrenden Refrain im Orchester! Gegen diese liebenswürdige Seite des Volksthümlichen contrastirt effectvoll die schwerfällig melancholische der folgenden Scene: Chor der im Wald lagern den Karawane. Innig, sehnsuchtsvoll, dabei durch eine pikante Rhythmik gewürzt, klingt die As-dur-Cantilene des Fürsten. Es folgt der Männerchor in Es-moll „Finstere Nacht“, den wieder die süße Melodie des Fürsten „Winde gehorchet mir!“ schmeichelnd ablöst. Diese ganze nächtliche Waldscene

erfüllt ein einheitliches, durchaus stimmungsvolles Bild, welchem wir einige Längen gerne nachsehen. Den zweiten Act eröffnet eine reizende Balletmusik von national-russischem Charakter. Nach diesem Höhenpunkt der Partitur geht es aber zusehends abwärts. Die Chormassen schwellen an, aber die Erfindung ist ausgetrocknet. Ermüdend schleppt sich das breite Ensemble in H-moll („O du Geliebter“) vorwärts, in banalen Phrasen das Geständniß des Dämon „Ohne Segel“. Wie längst bekannt, klingt Tamara’s Gesang „O Gott, wie leidet meine Seele“, und endlich der Chor „Ruh’ im Kloster!“ Da hat den Componisten, wie so oft in seinen größeren Tonwerken, plötzlich die Inspiration verlassen; er behilft sich mit Hergebrachten, „Altbewährtem“ und scheint es kaum zu merken. Wohlklang herrscht allerdings in diesen Chören und Finales — ein leerer Wohlklang, den kein individueller Geist erfüllt. Der Act schließt im Original mit einem Chorfinale: nachdem Tamara den Weg zum Kloster angetreten, erhebt sich der alte Fürst mit seinen kampflustigen Vasallen, um blutige Rache an dem Mörder Sinodal’s zu nehmen. Wer dieser Mörder gewesen und wo er zu finden sei, davon hat er freilich keine Ahnung. Offenbar empfand hier Rubinstein das Bedürfniß, die stockende Handlung zu beleben und den Act mit einem leidenschaftlichen Chor zu schließen. Von Director Mahler ist diese Schlußscene gänzlich gestrichen. Mit Recht; der nichtssagende Lärm dieses Finales zerstört die poetische Wirkung von Tamara’s Abschied, an statt sie zu steigern. Auch für zahlreiche kleinere Striche, mit welchen Mahler lästige Wiederholungen des red seligen Componisten beseitigt hat, sind wir ihm auf richtig dankbar. Wir wünschten ihrer noch viel mehr. Am meisten im dritten Act, dessen musikalischen Wolken schleier ein einziges holdes Sternlein erleuchtet: Tamara’s schlichtes Lied in E-moll „Ach, wie schwül ist die Nacht“. Voraus geht eine neuerliche Disputation zwischen dem mah nenden Engel und dem störrigen Dämon, die uns und den beiden Geistern nichts Neues bringt. Im Uebrigen ist der ganze dritte Act ein ermüdend langwieriges Duett zwischen dem bedrängenden Dämon und der immer zurückweichenden Tamara. Ein peinliches Hin- und Herzerren, dessen Wir kung nicht durch den musikalischen Gedanken, sondern lediglich

durch die materielle Wucht des Orchesters und die unbarm herzige Anstrengung der Singstimmen erreicht wird.

Der Erfolg der Oper ergab sich günstiger, als ich bei der Fremdartigkeit des Stoffes und der Ungleichheit der Composition erwartet hatte. Am schönsten wirkten (wie bei allen Rubinstein’schen Opern) die nationalen Musikstücke; sämmtliche Scenen, in welchen das musikalische Interesse mit dem ethnographischen verbunden oder, richtiger, daran gebunden erscheint. Keine Frage, daß wir die reizendsten Stücke seiner Opern weniger der individuellen Erfindung Rubinstein’s verdanken als der musikalischen Urkraft seines Volksstammes. Daß auch der dritte Act stellenweise nicht ohne starken Eindruck blieb, ist zur guten Hälfte das Ver dienst von Fräulein v. Mildenburg (Tamara) und Herrn Reichmann. In der Tamara-Rolle herrscht ein musikalischer Zwiespalt: anfangs eine zierliche Coloratur- Partie, wächst sie in den folgenden Acten zur entschieden hochdramatischen, tragischen Heldin. Fräulein v. Mildenburg erfüllte in überraschender Weise beide, so selten vereinte Anforderungen. Sie brachte Trillerketten, hochliegende Passagen und eine vom hohen B durch anderthalb Octaven rasch herabgleitende chromatische Scala im ersten Act mit einer sicheren Leichtigkeit, die unserer Brünnhilde und Isolde Niemand zugetraut hätte. Noch weit bedeutender, ja hin reißend entfaltete sich ihr Talent im zweiten und dritten Act. Da wirkten Stimme und Persönlichkeit der Sängerin, starkes Empfinden und durchgebildete dramatische Kunst zu ergreifender Wirkung zusammen. Herr Reichmann hat seinem berühmten Geistertrio: Holländer, Vampyr und Hans Heiling, eine vierte ebenbürtige Gestalt, seinen Dämon, angereiht. Die Rolle, kaum weniger schwierig und doch undankbarer als Tamara, bedeutet einen neuen großen Erfolg Reichmann’s. Neben Tamara und dem Dämon treten alle übrigen Rollen stark zurück. Um so höher anzuschlagen sind der künstlerische Ernst und Eifer, mit welchen die Damen Kaulich und Walker, die Herren Naval, Hesch, Grengg und Pacal ihre Aufgaben lösten. Die ganze (von Mahler dirigirte) Vorstellung des Dämon“ ist bewunderungswürdig von einem Ende bis zum andern.