Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12655. Wien, Dienstag, den 14. November 1899 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12655. Wien, Dienstag, den 14. November 1899 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 14.11.1899
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Musik. (Erstes Gesellschaftsconcert.)

Ed. H. Recht und wohlgethan war’s von unserem Musikverein, die Erinnerung an Dittersdorf wachzu rufen am hundertsten Jahrestag seines Todes. Ehedem gesucht und gefeiert, von der Volksgunst sogar ein Weilchen über Mozart gehoben, ist Dittersdorf heute gründlich ver gessen. Eigentlich war er’s schon vor hundert Jahren, als er krank, arm und vereinsamt auf dem Gute eines großmüthigen Gönners die Augen schloß. Die Popularität seiner Musik hat nicht viel länger vorgehalten als sein Leben. Allein diese Musik und dieses Leben, sie bieten so viel Merkwürdiges, psychologisch und ästhetisch Interessantes, daß es sich reichlich lohnt, in beiden zu blättern. Ganz be sonders für uns Wiener. Ein Wiener Kind, hat der (später zum „Dittersdorf“ geadelte) Karl Ditters hier als Virtuose und Componist einen bedeutenden Einfluß ge übt, bis seine Virtuosität durch jüngere Geiger, seine Compositionen durch das glänzend aufgehende Gestirn Mozart’s verdunkelt wurden. Als Violinspieler glänzte er schon mit elf Jahren in der Capelle des Prinzen von Hild burghausen, dann in den Burgtheater-Akademien, wo er jeden Freitag ein Concert vortragen mußte. Er hat unglaublich viel componirt in allen Fächern weltlicher und geistlicher Musik. Jedes Capitel seiner Biographie bildet eine farbige Illustration zur Musik- und Culturgeschichte des vorigen Jahrhunderts. Dittersdorf hat seine zahlreichen Symphonien und Quartette für die Privatcapellen des Prinzen von Hild burghausen, des Bischofs von Großwardein, des Fürst bischofs von Breslau componirt. In dieser Sitte lag ein musikalisches Culturmoment von großer Tragweite. Wer ein solches Hausorchester besaß, wünschte natürlich für dasselbe möglichst viel neue Compositionen. Diese mußte der Com ponist liefern, der als solcher bei dem hochgeborenen Herrn „in Diensten“ stand. Dem sich immer erneuernden Verbrauch

und Begehr entsprach eine sich stetig erneuernde Production. Haydn, Gyrowetz, Dittersdorf entbehrten nie der künstleri schen Anregung und brauchten für ein Orchester, für ein Publi cum, für einen Verleger trotzdem nicht zu sorgen. Hingegen mußten sie, zu Viel- und Schnellschreiben genöthigt, einem enormen Hör- und Spielbedürfnisse begegnen und folgten in der Regel weniger ihrer Inspiration als den Aufträgen ihres „Herrn“. Man bestellte und schrieb immer gleich sechs Symphonien, zwölf Trios, zwölf Quartette u. s. w. Dem entsprach das lange und bunte Musiciren bei den großen Herren. Dittersdorf spielte einmal an einem Abende zwölf Violinconcerte. In Großwardein componirte er zum Namens tage des Bischofs eine große Cantate mit Chören, eine Solo- Cantate, zwei große Symphonien, eine mittlere Symphonie mit obligaten Blasinstrumenten und ein Violinconcert — Alles für Einen Abend! So massenhafte Production hinderte die Ver tiefung und hat verschuldet, daß zahlreiche Instrumentalwerke Haydn’s und Mozart’s — von Dittersdorf nicht zu reden — vom Strome der Zeit rettungslos weggespült sind. Die persönliche Stellung dieser Componisten zu ihren hoch geborenen Herren kommt uns heute recht unwürdig vor. Das „Patriarchalische“ hat eben zwei Seiten: die gemüth liche einer väterlichen Fürsorge und die verletzende eigen mächtiger Bevormundung. Dittersdorf mußte es erfahren, wie selbst nichtsouveräne Herren eine selbstständige Gerichts barkeit über ihre Kammer-Virtuosen übten. Der Feldmar schall-Lieutenant Prinz von Hildburghausen gab in seinem Palais (dem jetzt Fürst Auersperg’schen) am Josephstädter Glacis dem hohen Adel allwöchentlich Akademien. Da fehlte einmal sein Kammermusikus Dittersdorf. Er ließ den flüchtig Gewordenen in Prag „aufheben“ und nach Wien zurückbringen, wo er ihm aus eigener Macht vierzehn Tage Arrest dictirte, jeden vierten Tag bei Wasser und Brot. Die Abhängigkeit von einem stolzen Magnaten erzeugt nur zu leicht bedientenhafte Demuth. Als neu angestellter Kammercompo nist des Bischofs von Großwardein erbat sich Dittersdorf sogleich, der Bischof möge ihn „Du“ nennen. Er war es von seinen früheren Herren nicht anders gewohnt. Das

sind Verhältnisse, in die wir heute nur mit einiger An strengung uns zurückdenken können. Dazu die moralische Unbefangenheit, mit der hochgeborene Herren Aemter und Würden verliehen, blos um die musikalischen Talente des Angestellten sich nutzbar zu machen. Der Fürstbischof von Breslau, bei dem Dittersdorf zuletzt bedienstet war, mochte ihn als Virtuosen und guten Gesellschafter nicht entbehren, ihn in dieser Eigenschaft aber auch nicht theuer bezahlen. Er gab ihm also erst die Stelle eines Forstmeisters, dann die eines Amtshauptmannes und Regierungsrathes in Freiwaldau, wo er „Politica, Publica et Judicialia“ zu amtiren hatte. Dittersdorf weilte indessen beständig bei seinem Herrn in Johannisberg; ein „Verweser“ besorgte seine Amtsgeschäfte in Freiwaldau. Nachdem dieses Amt stets an Adelige verliehen worden war, verschaffte der Fürstbischof dem melodienreichen Amtshauptmann auch noch den Adel, und aus dem bürger lichen Ditters entpuppte sich der Herr v. Ditters dorf. Der Fürstbischof war übrigens einer der merk würdigsten, echtesten Musik-Enthusiasten. Er konnte es nicht erwarten, Dittersdorf’s Oratorium „Esther“ in der Wiener Aufführung der Tonkünstler-Societät zu hören. Da ihm aber seit dem Friedensschlusse verboten war, bei Hof oder am kaiserlichen Hoflager zu erscheinen, so reiste er als „Dechant von Weidenau“ in einem kurzen ordinären Priester kleide mit Dittersdorf heimlich nach Wien.

Dittersdorf’s lebhaftes sinnliches Naturell neigte leiden schaftlich zum Theater. Sowol beim Bischof von Großwardein als beim Fürstbischof in Johannisberg hatte er ein Theater eingerichtet und Opern und Oratorien (wie damals üblich, im Costüm) aufgeführt. Dieses Vergnügen mußten er und sein Herr einmal empfindlich büßen. Der Kaiserin Maria Theresia war hinterbracht worden, daß der Bischof von Großwardein in der Fastenzeit Theater spielen lasse. Die Folge dieser Denunciation war, daß der Bischof seine Capelle sammt seinem Capellmeister Dittersdorf entlassen mußte.

In der Erinnerung älterer Musikfreunde lebt Ditters dorf noch durch einige seiner zahlreichen komischen Opern,

insbesondere durch den „Doctor und Apotheker“ und „Hiero nymus Knicker“. Unserem Hofoperntheater entziehen sich beide Stücke durch ihre äußerst derbe Komik, ungeschlachte Prosa und ihre dürftige Instrumentierung. Sie wachsen mit großen Blättern geradezu aus der Posse heraus. Hin gegen hätte es freundlich geklungen, wäre eine unserer Operettenbühnen des Dittersdorf-Jubiläums eingedenk ge wesen. Das Carl-Theater hat in den Sechziger-Jahren mit der Wiederholung von „Doctor und Apotheker“ Erfolg fordert. So leicht er seine Opern componirt hat, so be forderte. So leicht er seine Opern componirt hat, so be scheiden dachte Dittersdorf davon. Nachdem er in seiner Selbstbiographie dem „Doctor und Apotheker“ einige Zeilen gewidmet, fertigt er seine zahlreichen späteren Stücke mit der kurzen Bemerkung ab: „Während dieser Epoche stop pelte ich noch mehrere Opern zusammen, wovon viele auf so mancher Bühne Deutschlands gegeben werden.“ Unter den von Dittersdorf nachgelassenen, nicht veröffentlichten Opern befindet sich auch eine, „Die lustigen Weiber von Windsor“ — fast hundert Jahre vor der Composition des selben Stoffes durch Otto Nicolai und Verdi.

Opernmusik, komische zumal, ist durch ihre Gebunden heit an den Text und an einen bestimmten Gesangsstyl schnellerem Verwelken ausgesetzt, als reine Instrumental musik. So dürfte sich denn leichter aus letzterer, ins besondere aus den StreichquartettenDitters dorf’s Einiges in unsere Gegenwart retten. Einen sehr glücklichen Anfang hatte im Jahre 1884 der treffliche Heckmann in Wien gemacht mit der Aufführung des lang verschollenen Es-dur Quartetts. Schlicht und gefällig in Haydn’s Geschmack fließt es dahin, das Werk eines guten Musikers von bescheidenen Ansprüchen und gesunder Fröhlichkeit. Das Finale bringt sogar eine allerliebste Ueberraschung der sich Haydn nicht zu schämen gebraucht: eine Art Zigeunermusik. Zu der vom Vorgeiger kühn herausgeschleuderten Melodie halten die drei übrigen In

strumente auf den tiefsten Saiten einen schnurrenden Baß fest, welcher aufs täuschendste den Dudelsack imitirt. Wir freuen uns, dieses Werk in der ersten Quartett-Production von Rosé wieder zu hören.

Dittersdorf hat vier Oratorien componirt: Hiob, Esther, David und Isaak, welche im Repertoire der Wiener Tonkünstler-Societät eine hervorragende Stelle behaupteten. Auch seine Symphonien wurden in den Concerten häufig ge spielt. Die merkwürdigsten darunter sind wol „Ovid’s Metamor phosen, eine Reihe von zwölf charakteristischen Symphonien“. Die ersten sechs gab Dittersdorf im Jahre 1786 im Augarten unter Kaiser Joseph, dem Rendezvous der Wiener eleganten Welt; die anderen sechs (an einem Abend) acht Tage später im Theater. Im ersten Satz der Symphonie „Actäon“ wird die Jagd Actäon’s geschildert, im Adagio das Bad der Diana, im Menuett überrascht sie Actäon, im Finale zerreißen ihn die Hunde. Auch als Violinspieler huldigte Dittersdorf gern der realistischen Tonmalerei; er suchte zum Beispiel in einer Akademie im Augarten das Quaken der Frösche auf der Geige nachzuahmen. „Programm-Symphonien“, die man seit Berlioz und Liszt für eine modernste Errungenschaft an zusehen pflegt, sind eigentlich ein alter Einfall, Rococomusik. Dittersdorf schildert in seinen „Ovid’schen Metamorphosenden Sturz Phaëton’s, die Verwandlung Actäon’s, die vier Zeitalter: in einer anderen Symphonie den Kampf der menschlichen Leidenschaften.

Dieses Stück ist es, womit Sonntag das Gesellschafts concert eröffnet wurde. Eine Orchester-Suite von acht Sätzen folgenden Inhalts: der Stolze, der Demüthige, der Narr, der Sanfte, der Zufriedene, der Standhafte, der Schwer müthige, der Lebhafte. Von einem „Combattimento dell’ umane Passioni“, wie es der Titel verheißt, ist übrigens in der Composition selbst keine Rede. Die verschie denen menschlichen Leidenschaften gerathen mit einander nicht in den mindesten Streit; sie marschiren ganz selbstständig und unbeirrt eine nach der andern auf. Von jeher haben derlei poetische Programme und Ueberschriften mit einem

gewissen Reiz der Neugierde auf die Hörer gewirkt; bei Dittersdorf gesellt sich noch das historische und antiquarische Interesse dazu. Beides mochte in dem „Streit der Leiden schaften“ seine Rechnung zu finden; eine tiefere musikalische Befriedigung blieb jedoch aus. Solche Programm-Musik be darf einer schärferen Charakteristik und originelleren Ton malerei, um den beabsichtigten Eindruck zu machen. Viel mehr als eben unsere Neugierde hat die ehrwürdige Rarität nicht befriedigt; am lebendigsten wirkte noch die breiter aus geführte Schlußnummer „il Vivace“. In anderen Com positionen von größerer Form und selbstständigerem Inhalt tritt übrigens Dittersdorf viel bedeutender auf als in diesem mäßig divertirenden „Divertimento“.

Das sonntägige Programm bot außer der Ditters dorf’schen Reliquie noch viel Anziehendes. Zunächst das Clavierconcert in G-dur von Beethoven. Wir haben es jahrelang nicht gehört und hätten es schöner nicht hören können als von Fräulein Clotilde Kleeberg. Diese vor treffliche Künstlerin, welche Kraft und Zartheit, französischen Esprit und deutsche Vertiefung so glücklich vereint, erwies sich in der von Saint-Saëns componirten ersten Cadenz auch als moderne Virtuosin ersten Ranges. Die Kleeberg wird in Wien, so oft sie kommt, willkommen sein. Es folgten drei vom Singverein schön vorgetragene Vocalchöre: Brahms vierstimmige Motette „Ach, arme Welt, du trügest mich“, dann der Uhland’sche „Abschied“, componirt von Grädener, endlich Schumann’sRomanze vom Gänsebuben“. Letzteres oft und immer gern gehörte Stück wurde stürmisch zur Wiederholung verlangt — ein Erfolg, der zur Hälfte dem Dirigenten R. v. Perger zukommt. Schwächeren Eindruck erzielte diesmal Mendelssohn’s42. Psalm“. Eine junge, stimmbegabte Conservatoristin, Fräulein Fabini, hatte die (einst von der Wilt gesungene) Sopranpartie übernommen. Sie sang mit jenem gefähr lichen Ueberschuß von Angst und gesuchtem Gefühlsaus druck, welcher in der Regel ein erstes Auftreten zu begleiten pflegt.