Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12676. Wien, Dienstag, den 5. Dezember 1899 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12676. Wien, Dienstag, den 5. Dezember 1899 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 05.12.1899
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Concerte.

Ed. H. Die letzten philharmonischen Concerte bescheerten uns zwei interessante symphonische Novitäten: „Aus Italienvon Richard Strauß und „Die Waldtaube“ von Dvořak. Bei großer Verschiedenheit des musikalischen Kernes haben die beiden doch manches Aeußerliche gemein: Aus Italien“ ist halbverhüllte, „Die Waldtaube“ ganz un verhüllte Programm-Musik. In vier großangelegten Sym phoniesätzen malt Richard Straußitalienische Landschaft, italienisches Volksleben; Dvořak erzählt in Einem Satz eine ganze wechselvolle Geschichte. In den Worten „malt“ und „erzählt“ spiegelt sich ungefähr der grundsätzliche Unterschied zwischen diesen beiden Orchesterwerken.

StraußSymphonische Phantasie“ — so nennt er es etwas preziös — ist ein früheres Werk (op. 16) des frucht baren Münchener Componisten. Bekannter und berühmter sind seine späteren Orchesterdichtungen Don Juan, Tod und Verklärung, Eulenspiegel, Zarathustra. Diese übersetzen ein poetisches Programm, eine Erzählung, ins Musikalische mit einer Virtuosität, welche eines komischen Beigeschmacks nicht gänzlich entbehrt. Vor solchen Wagstücken schien der Führer unserer musikalischen Secessionisten noch einige Scheu em pfunden zu haben, als er sich damit begnügte, die vier Sätze seiner italienischen Symphonie einfach zu betiteln: Die Campagna, Roms Ruinen, Sorrento, Neapel. So klar und einfach wie diese Aufschriften bleibt keineswegs die Musik selbst. Strauß’ unruhiges, nervöses Talent, sein Ueber schuß an glänzendem Raffinement bei Dürftigkeit des schöpferischen Gedankens lassen ihn bei gesammelter, natürlicher Empfindung nicht lange verweilen. Wo man es am wenigsten erwartet, unterbricht irgend ein auserlesener Orchester-Effect, eine wunderliche Figuration plötzlich den musikalischen Zusammenhang. Blendende Instru mentalwitze ziehen unsere Aufmerksamkeit vom Ganzen ab:

wie zum Beispiel die in raschem Flug auf- und nieder schießenden chromatischen Sext-Accorde der Holzbläser im Andantino (Sorrent). Die übrigen Sätze wimmeln von ähnlichen, wenngleich nicht immer so hübsch klingenden Ueber raschungen. Sie wirken ungefähr wie die pikanten oder drastischen „Zwischenrufe“, welche im Abgeordnetenhause langwierige Reden unterbrechen — für die Hörer oft das Ergötzlichste an der ganzen Geschichte. Der Unterschied ist nur, daß hier der Redner, R. Strauß, die amüsanten störenden Zwischenrufe selbst macht. Er mag mitunter ein wenig besorgen, daß der ungestörte glatte Ver lauf seiner Rede doch ermüden würde. Thatsächlich weiß uns Strauß, abgesehen von jenen Ueberraschungen, wenig Neues, wenig Bedeutendes zu sagen. Die ersten drei Sätze Italien“ rauschen mit verschiedenen glänzenden Orchester- Effecten und vereinzelten melodischen Ansätzen ohne tieferen Eindruck an uns vorüber. Ja, wir vermissen darin sogar Eines, was wir von allem Anfang zu erwarten ein Recht hatten und das auch leicht zu beschaffen war: italienische Farbe, italienische Stimmung! Wie klingt das Alles so deutsch umständlich! In diesen verschwommenen, dickflüssigen Melodien rinnt kein italienischer Blutstropfen. Sogar in Aeußerlichkeiten ist Strauß, bei allem Raffinement, auffallend un italienisch: im ersten und dritten Satz hören wir zwei Harfen unermüdlich arpeggiren, als handelte es sich um eine Illustration Ossian’s. Wer hat je bei römischen oder neapoli tanischen Volksfesten eine Harfe gehört? Beim Finale an gelangt, scheint der Componist doch die Nothwendigkeit empfunden zu haben, sein „Volksleben in Neapel“ etwas neapolitanisch zu färben. Er intonirt das bekannte „Funi culi Funicula“, und wir glauben, das Stück werde, rasch dahinströmend, fortan die südliche heitere Laune beibehalten. Nichts weniger als das. Mag Strauß es nicht gewollt oder nicht gekannt haben — mit der volksthümlichen Herrlichkeit ist es schnell zu Ende. Er läßt die eingefangene lustige Lerche Funiculi nur ein Weilchen flattern, dann steckt er sie gnadenlos in seine düsteren Casematten, wo sie von aller

hand polyphonen wilden Thieren erbärmlich gezaust und zer rissen wird. Ein paar Federchen fliegen ganz zuletzt noch auf und melden das schnöde Ende des armen Thierchens. Die ganze symphonische Phantasie interessirt stellenweise als das Product eines geistreichen, effectkundigen, mehr poetisch angeregten als musikalisch-schöpferischen Künstlers. Sichtlich von Berlioz inspirirt, mit Wagner’schen Combinationen arbeitend, verschmäht es Strauß trotzdem nicht, einigemale von Mendelssohn zu borgen.

Die Aufführung unter G. Mahler gehörte zu den glänzendsten Virtuosenstücken. Es dürfte selbst unter den neuesten nicht vieles Schwierigere und Complicirtere geben. Der Beifall, nach den ersten drei Sätzen recht mäßig, am Schlusse um so lebhafter, war hauptsächlich wol den Phil harmonikern zugedacht. Nach einer schleunigen Wieder holung des Werkes wird man sich schwerlich sehnen. „Will Italien nit mehr sehen,“ singt die Engländerin in Fra Diavolo“.

Neben R. Strauß ist Dvořak unstreitig die musi kalisch stärkere, ursprünglichere Natur; in naivem Em pfinden und melodischem Reichthum diesem unendlich über legen. Allein gerade in der „Waldtaube“ thut er einen Schritt weiter in der Programm-Musik, als Strauß in seiner italienischen Symphonie. Diese bringt schöne Aufschriften zu unschöner Musik, Dvořak schöne Musik zu unschönem Texte.

Die „Waldtaube“ schließt sich in Form und Tendenz völlig an die beiden symphonischen Dichtungen („Der Wassermann“ und „Die Mittagshexe“), welche wir bereits früher gehört haben. Welch seltsam neueste Passion Dvořak’s für das Grauenhafte, Widernatürliche und Gespenstige, das seinem echt musikalischen Sinn seiner liebenswürdig menschlichen Natur doch so wenig entspricht! Im „Wassermann“ der Kobold, welcher dem eigenen Kinde den Kopf abhaut und ihn der unglück lichen Mutter zuschleudert; in der „Mittagshexe“ ein weib liches Ungeheuer, in dessen mörderischen Fäusten das un

schuldige Kind einer Bäuerin verathmet. Und nun die Waldtaube“! Das Stück beginnt mit einem Trauermarsch. Wehklagend folgt die junge Frau dem Sarge ihres ver storbenen Gatten. Da intoniren hinter der Scene Trom peten, von Oboen, Harfen und Englischhorn begleitet, ein lustiges Lied im Zweivierteltact: ein schmucker Bursche macht der Witwe einen Heiratsantrag. Schnell folgt das Hochzeitsfest. Ein derbes Tanzmotiv in C-dur, worin die übermäßige Quarte (Fis) humoristisch aufjauchzt, führt uns in die böhmische Dorfschänke. Zartere Empfindungen klingen vorübergehend in einem Allegretto grazioso an. Bis hieher wäre Alles ziemlich einfach und verständ lich. Aber was erzählt uns gleich darauf das unmittelbar aus dem Hochzeitsjubel sich losringende schaurige Andante? „Aus den Zweigen der Eiche, über dem Grabe ihres durch sie vergifteten ersten Gatten ertönt das Gurren der Waldtaube,“ so belehrt uns das der Partitur vorgedruckte Programm. Also die schöne Witwe hat ihren Mann vergiftet? Davon hatte ja kein Mensch eine Ahnung! Und das Girren einer Taube treibt die eben noch so Fröhliche zu Verzweiflung und Selbstmord? Wenn nur irgend ein bedeutsamer fata listischer Zug, ein psychologischer Zusammenhang zwischen diesem Taubengirren und dem Verbrechen des Weibes vor her angedeutet wäre! So aber überrascht uns der grausige Ausgang dieser Dorfgeschichte noch gewaltsamer als im Wassermann“ und der „Mittagshexe“. Dabei ist die Musik von einer liebenswürdigen Anmuth und Naivetät, wie sie heute unter den Instrumental-Componisten nur Dvořak besitzt. Wir lauschen entzückt diesen kindlichen Melodien, denen originelle Harmonienfolgen und Klangfarben einen wechselnden scharfen Reiz verleihen.

Was ihre Wirkung schmälert, ist nur die fortwährende Nöthigung des Zuhörers, die Musik schrittweise mit der ihr aufgezwungenen Erzählung zu vergleichen. Man wende nicht ein, das Programm könne ja nicht schaden, wenn die Musik nur gut ist. Die Musik leidet immer darunter,

wenn ein detaillirtes Programm die Freiheit des Compo nisten wie des Hörers vernichtet. Dvořak’s Tondichtung gleicht einer schönen Gefangenen, welche gefesselt zwischen zwei Gendarmen ihren vorgeschriebenen Weg zurücklegen muß. Ein erzählendes Programm, wie das zur „Wald taube“, ist ein Unglück für die Composition, weil es miß verständlich und weil es leider — unentbehrlich ist. Denn aus dem musikalischen Gedankengang der „Wald taube“ lassen sich diese jähen Stimmungswechsel, Absprünge, Rückwanderungen und verblüffenden Orchesterklänge nimmer erklären. Anders ein Titel, der uns wie eine angeschlagene Stimmgabel nur den durchklingenden poetischen Grundton des Stückes angibt. Aufschriften, wie „Ländliche Hochzeit(Goldmark), „Italien“ (R. Strauß), „Aus der neuen Welt(Dvořak) und andere lassen dem Hörer Freiheit genug. Nicht so die jüngsten symphonischen Dichtungen von Dvo řak. Gegen ihre Programme sprechen neben ästhetischen auch sehr praktische Bedenken. Wer kann sich für diese halb kindischen, halb widerwärtigen Schauergeschichten begeistern? Wie lange wird man trotz der geistvollen Musik sich dafür interessiren? Der erste Eindruck dieser neuen Orchesterstücke ist bestrickend; aber wir fürchten für die Dauer und Sicherheit ihrer Herrschaft. Ein prächtig blü hendes Zweiglein, die Musik Dvořak’s, erscheint hier auf einen kranken Baum gepfropft, der es vorzeitig verdorren macht.

Wir bemerkten Sonntags recht verlegen fragende Mienen — Concertbesucher, die es unterlassen hatten, ein Programm zu verlangen oder darin mitzulesen! Sie konnten sich den Fall nicht zurechtlegen. Die Ausdrucks fähigkeit der Instrumental-Musik hat sich seit Berlioz in früher nicht geahnter Weise gesteigert. Wenn man aber heutzutage vorgibt, die reine Instrumental-Musik sei bereits fähig, alles Mögliche auszudrücken, wozu dann die so emsig erläuternden Programme? Dvořak ist zu sehr echter Musiker, als daß ästhetische Experimente, Entdeckungs

fahrten nach den Grenzen der Kunst ihn zu reizen ver möchten. Was ihn weggelockt haben mag aus dem Reich der absoluten Musik, das er seit Brahms’ Heimgang als Erster beherrscht, ist offenbar die Nachbildung der ver schiedenen Naturstimmen. Darin schafft Dvořak ganz un vergleichliches, Wunderbares. Das Wellen- und Wogen rauschen in seinem „Wassermann“, das schreiende Kind in der „Mittagshexe“, das Schnurren des „Spinnrädchens“! Auch die „Waldtaube“ reizt und fesselt uns ununterbrochen durch ihren Klangzauber und realistische Züge, die bei aller Kühnheit nie ans Häßliche streifen. Dankbar, ja nur allzu sehr empfänglich für die Reize Dvořak’scher Musik konnte ich mir doch die Gefahren seiner neuesten Richtung nicht verhehlen. Dvořak hat es nicht nöthig, für seine Musik bei der Dichtkunst (und welcher „Dichtkunst“!) betteln zu gehen. Seine reiche musikalische Erfindung bedarf keiner Anleihe, keiner Krücke, keiner Gebrauchsanweisung; drängt es ihn aber, zur Ab wechslung, heraus aus der wortlosen Instrumental-Musik zu realen Gestalten, dann steht ein weit offenes Thor ein ladend vor ihm: die Oper.

Die „Waldtaube“ ist mit großem Beifalle, aber doch nicht so enthusiastisch aufgenommen worden, wie die viel ernstere und schwerer faßliche F-dur-Symphonie von Brahms, nach welcher der Applaus nicht enden wollte. Die Aufführung beider Werke war unübertrefflich. Das Con cert schloß mit Beethoven’s großer Ouvertüre „Weihe des Hauses“. Das „Haus“, welches mit diesem gewichti gen, fugengepanzerten Spätwerk Beethoven’s vor 77 Jahren eingeweiht wurde, ist bekanntlich unser — Josephstädter Theater. Es hat einen überwältigenden Reiz, sich auszumalen, wie etwa heute der Geist der Beethovenschen Ouvertüre in seinem „Hause“ auftaucht und mit einem ehrerbietigen „Ich bin so frei!“ Fräulein Dirkens begrüßt. Vielleicht macht Dvořak einmal eine musikalische Legende daraus.