Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12683. Wien, Dienstag, den 12. December 1899 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12683. Wien, Dienstag, den 12. December 1899 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 12.12.1899
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Lucifer“, Oratorium von Peter Benoit.

Ed. H. Als im Juli 1880Brüssel das fünfzigjährige Jubiläum der belgischen Unabhängigkeit feierte, stand obenan unter den musikalischen Festlichkeiten ein Oratorium von Peter BenoitDe Oorlog“ (der Krieg). Ich schämte mich ein wenig, den Namen dieses Componisten nie zuvor gehört zu haben, der rings um mich her mit Stolz und Begeisterung genannt wurde. Aehnlich mag es den meisten Wienern ergangen sein, als sie am letzten Concertsonntag ein Oratorium „Lucifer“ von Benoit angezeigt lasen. Vielleicht kann meine ältere Bekanntschaft Einiges beitragen zur Orientirung über das neue Werk und seinen Autor.

Die Aufführung von Benoit’s „Oorlog“ fand in Brüssel in dem schattigen „Parc Leopold“ statt, wo für diesen Zweck ein weitläufiger, an 6000 Personen fassender Holzbau errichtet war. Auf dem Podium stand eine impo sante Sänger- und Musikerschaar von 800 bis 1000 Köpfen. Peter Benoit dirigirte. Eine herkulische Gestalt mit etwas breitgezogenem, aber ausdrucksvollem Gesicht, das unter dem langen, glatt herabfallenden Haar gar kühn dreinschaute. So mochten wir uns einen streitbaren vlämischen Volkstribun, etwa Jacob van Artevelde, vorstellen. Halb Antwerpen (der Hauptsitz der vlämischen Bewegung und Wohnort des Componisten) war im Concertsaale mitwirkend oder zu hörend versammelt, der Beifall enthusiastisch, vom Patrio tismus förmlich erhitzt. Benoit’s „Oorlog“ schildert den Krieg; nicht einen vlämischen, sondern einen ganz abstracten Krieg, den Krieg an und für sich. Der Poet (van Beers) hatte es leider verschmäht, seinem Gedicht irgend einen be stimmten localen oder historischen Hintergrund zu geben. Anstatt ein so realistisches Ding wie der Krieg durch reale Kräfte vor uns entstehen und bezwingen zu lassen, umgibt uns der Poet mit Armeen von Erdgeistern, Lichtgeistern, Spottgeistern und

dergleichen altmodischem Pack. Dieser geschmacklosen Chimären bedarf es wahrlich nicht, um die Schrecken des Krieges noch zu erhöhen. Der erste Theil des „Oorlog“ feiert den Früh ling; mit geschickter Tonmalerei, ohne rechte Frühlings stimmung. Im zweiten Theil bereitet sich der Krieg vor. Der Spottgeist verhöhnt die Ueberhebung des sich mächtig dünkenden Menschen; er entsendet gegen sie seine Dämone Eifersucht und Mißtrauen. Der Friede entflieht. Nun entfesselt der dritte Theil alle Gräuel des Krieges; Schlachtenmalerei in großem Styl und grellsten Farben. Vergebliche Hoffnung, es werde wenigstens der vierte und letzte Theil uns von diesem Alp des Entsetzlichen befreien. Neues Hohngelächter des Spottgeistes. Leichenraub auf dem Schlachtfeld, Röcheln der Verwundeten und so fort, bis endlich, ganz zuletzt, ein Engelchor mit der Verheißung „ewigen Friedens“, dem Gräuel ein Ende macht. Der Oorlog“, dauerte von 2 bis 6 Uhr und hat mich trotz einzelner Schönheiten mit einem peinlichen Eindruck entlassen. Es herrscht darin eine Maßlosigkeit und Uebertreibung, die Einem jede Freude an dem unleugbaren Talente des Com ponisten verdirbt.

Das jetzt in Wien gehörte Oratorium „Lucifer“, bereits vor 33 Jahren in Brüssel aufgeführt, ist trotzdem außerhalb Belgiens so wenig wie der „Oorlog“ populär geworden. In keiner Wiener Musikhandlung war meines Wissens ein Exemplar des „Lucifer“ aufzutreiben. „Peter“ (nicht mehr Pierre) Benoit, der angesehenste Componist in Belgien, Gründer und Director des Conservatoriums in Antwerpen und musikalisches Haupt der vlämischen Bewegung, ist in Deutschland kaum dem Namen nach bekannt. Hingegen feiern ihn seine vlämischen Landsleute mit jenem Enthusias mus, welcher „interessanten Nationalitäten“, d. h. solchen, die in der Culturwelt sich erst durchsetzen müssen, allüberall eignet. In hochgesteigertem nationalen Selbstgefühl ver schmäht es Benoit, seinen Oratorien und Opern eine deutsche, französische oder italienische Uebersetzung, sei es auch nur auf dem Titelblatt, beizufügen, und so blieben denn seine Werke bislang auf den engen Kreis der Lands mannschaft beschränkt. Wenn es dem Componisten recht ist, der musikalischen Welt unbekannt zu bleiben, so hat er ja

recht. Die Wogen des nationalen Enthusiasmus machen aber merkwürdigerweise immer vor den Thüren der Ver leger Halt; diese fürchten, die großen Kosten nicht herein zubekommen von dem relativ kleinen „nationalen“ Publicum. Benoit’s Oratorien „Lucifer“ und „Der Krieg“ mußten eine gute Weile warten, ehe sie im Stiche erschienen.

Wahrscheinlich hätten wir auch jetzt, nach dreiunddreißig Jahren, den „Lucifer“ in Wien nicht zu hören bekommen, wäre nicht vor Kurzem der verdienstvolle Düsseldorfer Musikdirector Julius Buths mit einer deutschen Ueber setzung dieses Oratoriums hervorgetreten. Nun erst kann, allerdings etwas spät, der Componist Benoit zu unserer Kenntniß gelangen. Nationale Engherzigkeit hat das bisher verhindert. Wir haben ja ähnliche Beispiele in nächster Nähe. Wer kennt außerhalb der Mauern Prags die zahl reichen czechischen Opern und Gesänge, die dort mit Beifall gegeben und mit Verachtung jeder Uebersetzung gedruckt worden sind? Wer kennt selbst von Dvořak — heute, Dank seinem Berliner Verleger, eine europäische Berühmt heit — seine früheren, nur mit czechischem Text und Titel in Prag erschienenen Werke, wie die reizenden „Duette aus Mähren“? Noch schlimmer steht es um die russischen Opern, deren Text wir nicht verstehen, ja der cyrillischen Lettern wegen nicht einmal buchstabiren können. Von Glinka und Tschaikowsky sind nur jene Opern über Rußland hinausgedrungen, die, wie „Das Leben für den Czar“ und „Eugen Onegin“, eine deutsche oder fran zösische Uebersetzung aufweisen. Das Gleiche gilt von den Opern Smetana’s und Dvořak’s.

Benoit’s „Lucifer“ ist ein bescheideneres Seitenstück zum „Oorlog“; nicht so farbenreich und wechselvoll, weniger lang und etwas weniger langweilig. Es schildert den „Kampf des Lichtes mit der Finsterniß“. Vortreffliches Thema für eine Predigt oder ein Erbauungsbuch, aber als bloße Allegorie doch etwas dürftig für ein großes Concert. Ein dreitheiliges Oratorium, in welchem gar keine Menschen auf treten, sondern nur Engel und Teufel, berührt uns moderne Sterbliche gar fremdartig. In Haydn’s „Schöpfung“ und Rubinstein’s „Paradies“ präsentiren sich wenigstens im dritten Theil Adam und Eva als Verlobte. Was Rubin

stein in der einleitenden ersten Scene seines „Dämonschildert, ist bei Benoit zu einem ganzen Oratorium ausgestreckt. Da bleibt von Anfang bis zu Ende der Satan die einzige handelnde Person; Alles um ihn her ist Chor, nur von wenigen Solostellen unterbrochen. Das wirkt auf die Länge ermüdend; der Text bietet keine Abwechslung, sogar die Disposition der drei Theile bleibt die gleiche. Im ersten Theile commandirt Lucifer die Elemente: „Auf, Geist der Erde! Auf, Geist des Wassers! Auf, Geist des Feuers!“ Sie sollen die Menschen zur Empörung gegen Gott an treiben. Im zweiten ruft er abermals: „Erde, Feuer, Wasser!“ Die Gerufenen erscheinen und melden, daß sie nichts ausgerichtet haben. Den dritten Theil eröffnet Lucifer, ohne die geringste Besorgniß, langweilig zu werden, abermals mit dem Aufrufe: „Erde, thürm’ Berge! Wasser, spei’ Ströme! Feuer, dem Schlund entsteig’!“ Statt des anbefohlenen Vernichtungsspectakels ertönt aber ein frommer Chor: „Hosianna! Gott dem Herrn die Ehre!“ Der Satan ist besiegt, wie jeder gläubige Christ von allem Anfang gewußt hat, also jetzt ohne besondere Ueberraschung von den jubilirenden Engeln erfährt. Das ist der vollstän dige Inhalt des Gedichtes, das sich durch eine bewunde rungswürdige Dunkelheit der Diction bei allereinfachstem Inhalt hervorthut. Keine Frage, daß diese traurige Eintönig keit des Poëms auf die Phantasie des Componisten drücken mußte. Ueberraschende Contraste, leuchtende Farben, sinn licher Reiz waren hier fast ausgeschlossen. Zu der gewissen haftesten Treue gegen diese undankbare Dichtung gesellt sich bei Benoit auch noch die Neigung häufiger Wiederholungen bei übermäßiger Ausdehnung der einzelnen Musikstücke. Trotzdem erfüllt uns Benoit’s strenge künstlerische Ueber zeugung und bedeutendes Können mit aufrichtiger Hoch achtung. Als Meister beherrscht er die musikalische Form, das Orchester und den Gesang. Als besten Vorzug seines Werkes empfinden wir den Wohlklang und Vollklang seiner Chöre. Da ist Alles stimmgemäß und chorgemäß gedacht. Ebenso schön klingen die Solo-Quartette. Mit melodischen Blüthen wirthschaftet Lucifer sehr sparsam, und die wenigen hervorstechenden wird man schwerlich originell finden. Am an sprechendsten wirkte das zarte Tenor-Solo in A-dur und das

Frauenduett in H-moll. Beides in der zweiten Abtheilung, die überhaupt am meisten Frische athmet. Was wir an Be noit vermissen, ist das scharfe Gepräge der Persönlichkeit, die Ursprünglichkeit der Erfindung. Er mahnt oft nach drücklich an Schumann und Mendelssohn, mitunter auch an Weber und Marschner, deren stärkster Einfluß ja in die empfänglichsten Jugendjahre des jetzt 66jährigen Componisten fällt. Was die Zuhörer wol am begierigsten erwarten mochten, der national-vlämische Charakter zeigt sich am allerwenigsten. Ich konnte davon im „Lucifer“ ebenso wenig entdecken, als früher im „Oorlog“. Einzelne Chöre von anderen belgischen Componisten schienen mir die eigenthümliche Topographie Brüssels widerzuspiegeln: die aristokratische Obere Stadt französisch, die bürgerliche Untere vlämisch. In Benoit’s Musik hört man weder Französisch noch Vlämisch; sie ist oben und unten Deutsch.

In unserem Gesellschaftsconcert wurde „Lucifer“ mit großer Aufmerksamkeit gehört und achtungsvoll, ohne beson deren Enthusiasmus, aufgenommen. Aufrichtigen, warmen Beifall fand das von Herrn Naval reizend vorgetragene Tenor-Solo und das Duett der harmonisch zusammenstim menden Sängerinnen Fräulein Katzmayer und Frau Körner. Um die Baß- und Bariton-Soli haben die Herren Hermann Gura und Karl Musch sich ver dient gemacht. Die Chöre waren exact studirt und klangen prachtvoll. Obgleich das Oratorium einen glän zenden Erfolg nicht erzielte, sind wir doch für dessen Bekanntschaft dankbar. Die Auswahl von neuer Oratorien-Musik, die ein großer Chorverein neben den classischen Werken doch nicht entbehren kann, wird seit Decennien immer geringer. Director Perger hat uns all mälig mit dem Besten oder wenigstens Renommirtesten bekannt gemacht, was moderne Componisten in diesem Fach geleistet: „Die Seligkeiten“ von Cesar Franck, „Franciscusvon E. Tinel, „Eva“ von Massenet, „Die heilige Ludmillavon Dvořak und jetzt „Lucifer“. Der alte Peter Benoit ist ein interessanter Charakterkopf, die erste Notabilität in seinem Vaterland, ja bereits eine musikhistorische Persönlichkeit, von der es sich geziemte, endlich auch in Oesterreich einmal Notiz zu nehmen.