Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12747. Wien, Sonntag, den 18. Februar 1900 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12747. Wien, Sonntag, den 18. Februar 1900 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 18.02.1900
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Musik. (Gelegentliches über Zemlinsky und Richard Strauß.)

Ed. H. „Muß denn immer gewagnert sein?“ So klagt ein Berliner Correspondent der „Zeit“ — bei der Besprechung einer neuen Oper „Ratbold“ von Reinhold Becker. Der Fall ist charakteristisch, denn Becker, ein be liebter und tüchtiger Componist, hatte bisher nur klare melodiöse Musik geschrieben. Nun hat den 58jährigen Mann auch die Wagner-Influenza gepackt. Er quält sich „mit Meistersinger-Stollen und reckt die bescheidenen Themen zu einer aufdringlichen Breite, einer Massenhaftigkeit aus, daß in dem Stoffe der Geist erstickt“. Unwillkürlich mußte ich an diese Kritik denken, als ich der letzten Aufführung von Zemlinsky’s Oper „Es war einmal“ beiwohnte. Meine Befriedigung über den Erfolg eines talentvollen jungen Oester reichers war ebenso aufrichtig wie die Anerkennung Director Mahler’s, der nicht erst ein Urtheil des Auslandes abgewartet hat, um eine Erstlingsoper hier festlich aus der Taufe zu heben. Publicum und Kritik haben die Vorzüge dieser Novität so beifällig begrüßt, daß es ihr nicht schaden kann, wenn nach träglich auch ihrer Schattenseiten erwähnt wird. Gegenüber der vielstimmig erklingenden Ermunterung, unser Componist möge so fortfahren, möchte ich ihn doch ersuchen, nicht ganz so fortzufahren. Unleugbar ist sein Talent, sind die

Vorzüge seiner überaus geschickten ja brillanten Technik. Auch die glückliche Wahl des Stoffes rechnen wir ihm als ein Verdienst an. Wie sehr dieses poetische Märchenspiel schon als Drama zu interessiren und zu erfreuen vermag, davon konnte ich, zwölf Jahre vor der Composition von Zemlinsky’s Oper, mich leibhaftig überzeugen. Damals sah ich im königlichen Theater zu Kopenhagen das Volksstück Dar var engang“, dem mit wenigen Abweichungen Zemlinsky’s Oper getreu nachfolgt. Die Handlung des Originalstückes (nach einem Märchen Andersen’s) ist von dem geistvollen dänischen Poeten Holger Drachmann so klar exponirt und anschaulich geführt, daß selbst der Fremde ihr in den Hauptzügen zu folgen vermag. „Es war einmal“, ein Lieblingsstück des dänischen Publicums, macht den erfreulichsten Eindruck, ohne der Musik zu bedürfen. Freilich nicht, ohne musikalischen Schmuck ganz zu ver schmähen. Diese an rechter Stelle maßvoll und anmuthig ein setzende Musik des Originals hat den dänischen Componisten Lange-Müller populär gemacht. Außer einigen melodramatischen Orchesterbegleitungen hören wir da Lieder des Prinzen und seines Dieners, ein Schlummer lied der Hofdamen, Jäger-, Soldaten- und Spielmanns lieder. In der Oper muß natürlich die Musik sich ungleich breiter ausdehnen, auch mächtiger in die Höhe und Tiefe streben. Aber etwas von dem naiven Reiz, von der Natur schönheit des Volksthümlichen wäre gewiß auch der Opern behandlung unseres Märchens zum Vortheil gediehen. Zem linsky’s Musik scheint mir für diesen Lustspielstoff zu künstlich, um nicht zu sagen gekünstelt; zu häufig zerhackt declamatorisch, melodienarm in den Singstimmen, überfüllt und ruhelos im Orchester. „Muß denn immer gewagnert sein?“

Aehnlichen Erscheinungen begegnen wir heute überall. Alle jungen Operncomponisten bemühen sich, zu wagnern, nicht bedenkend, daß, wenn Zwei dasselbe thun, es nicht mehr dasselbe ist. Sie verschmähen bereits Wagner’s frühere gesangreiche Opern, klammern sich an „Tristan“, die Nibelungen“, vollends an die „Meistersinger“. In den Meistersingern“ erheben sich jedoch über dem Wogen der polyphon verschlungenen Orchesters die weiten blühenden

Inseln; Walther’s Preislied, Pogner’s Anrede, das Quintett, endlich die heiteren Volksscenen im dritten Act! Vergebens späht man nach solchen melodiengesegneten Oasen in Zemlinsky’s Partitur. Ich möchte nicht entscheiden, ob Zemlinsky der selbstständigen, originellen Gesangsmelodie absichtlich ausweicht oder sie ihm. Für Ersteres sprechen in den beiden ersten Acten die vielen zarten, empfindsamen Stellen des Gedichtes, welche, nach Melodie schmachtend, von Zemlinsky nur declamatorisch abgefertigt werden. Die letztere Vermuthung erregt der dritte Act, wo Zemlinsky in die zweite und dritte Scene norwegische Volks lieder einschiebt, anstatt selber welche und bessere zu erfinden. Ueber den Begriff von „Melodie“ in den Ge sangspartien einer Oper kann kein ehrlicher Streit sein. Würde diesen Namen jede Aufeinanderfolge von Tönen, im Gegensatze zur „Harmonie“, verdienen, so wären auch Czerny’s Fingerübungen mit stillstehender Hand Melodie. Und nicht viel besser das uferlos melodisirende Schweifen ohne Anfang und Ende, oder die recitativisch abgerissenen Dialoge, die, um ein Heine’sches Bild zu gebrauchen, wie erhitzte Flöhe durcheinander springen. Die schön geformte, dabei von dramatischem Leben erfüllte Melodie vermissen wir nur zu sehr in der Oper Zemlinsky’s. Wohlgemerkt des jungen Zemlinsky! Da sollte doch die schöne Sinnlichkeit noch in vollem Safte stehen, die Sangesfreudigkeit noch nicht erdrückt sein von der selbstherrlichen Polyphonie eines atemlos arbeitenden Orchesters: „Muß denn immer ge wagnert sein?“

Daß selbstständige, dabei dramatisch belebte Gesangs melodie ein Wahn sei, das ist der allergrößte Wahn. Er dürfte sich vielleicht früher demaskiren, als die jungen Herren glauben. Blättern wir in den Bänden einer beliebigen Musikzeitung und notiren, wie viele von den seit 25 Jahren erschienenen Opern deutscher Wagnerianer heute noch existiren — ja, wie viele davon ihre Heimatstadt über schritten und ihr Leben über ein halbdutzend Aufführungen gefristet haben? Der lärmende, vorausversicherte Beifall der „Partei“ vermochte sie nicht zu retten. Wagner hat in seinen letzten Werken sich einen eigenen Weg gebahnt, kühn, mit Lebensgefahr; die ihm blinglings Nachkletternden brechen

den Hals. Mögen sie ja nicht nach seinen Erfolgen ähnliche für sich erwarten! Auf allen deutschen Opernbühnen ist Wagner heute so vor- und überragend vertreten, daß seine Verehrer sich vollauf davon ersättigen können. Keines wegs bedarf es ohne Ende schwächlicher Wiederholung des besser schon Vorhandenen. Ja, die Atmosphäre ist so stark geladen mit Wagner, daß daneben jede gute Aufführung einer — Lortzing’schen Oper bereits ihr dankbares Publicum findet!

Die Entwicklung einer Kunst läßt sich nimmer beliebig zurückschrauben. Nur ein Narr könnte verlangen, unsere Musik solle sich auf die knappen Formen und dürftigen Kunstmittel beschränken, mit welchen die Meister des vorigen Jahrhunderts gewirkt haben. Kein Operncomponist kann heute im Styl der „Zauberflöte“ schreiben wollen; jeder muß die Fortschritte seiner Zeit mit Wahl und Besonnenheit in sich aufnehmen. So dehne er denn immerhin im Orchester die Melodie ins „Unendliche“ aus, verwickle sie in die Maschen der dichtesten Polyphonie, instrumentire so „dra matisch“, daß unausgesetzt jedes einzelne Instrument bedeu tungsvoll seine eigene Meinung sagt — nur oben auf der Bühne vergönne er uns etliche fühlende Menschen, die aus voller Seele singen und nicht aus einer beliebigen zweiten Violinstimme.

Diese Bemerkungen, lange nach der Première des so erfolgreichen Zemlinsky’schen Werkes geschrieben, geben sich durchaus nicht als eine Kritik desselben. Als solche wären sie ungerecht, da sie wissentlich nur die Schattenseiten, eigent lich eine Schattenseite dieser Composition hervorheben. Im aufrichtigen Interesse für die Zukunft des begabten jungen Componisten. Ich kenne Herrn Zemlinsky nicht persönlich und weiß nicht, wie er sich zur Kritik überhaupt verhält. Vielleicht acceptirt er nach modernem Muster Verherrlichung als schuldigen Tribut und empfindet jeden Tadel als Unrecht und Unverstand. Etwa nach dem Beispiel eines gefeierten Componisten, des Herrn Richard Strauß, welcher kürzlich ein Manifest in diesem Sinne an die „Grazer Tagespost“ erlassen hat. Das starke Lob des Blattes genehmigt er höflich, jedoch mit dem Beisatz, er wünsche, daß die Wiener Kunstrichter von ihren

Grazer Collegen lernen möchten“! „In der Hauptstadt,“ fährt er fort, „herrschen leider noch die ewigen Schönheitsgesetze, die unsereins auch gerne einmal zu Gesichte bekäme, die aber bis heute als räthselhafte Geheimnisse im Busen der Herren Hanslick und Genossen schlummern.“ Diese räthselhaften Geheimnisse liegen aber in Wahrheit offen vor allen musikalischen Menschen, welche lesen können: in den Partituren von Mozart und Beethoven, Schubert, Mendelssohn und Schumann, Brahms und Dvořak. Jeder von ihnen war ein Neuerer gegen seine Vorgänger — sie Alle aber haben in ihren Symphonien Musik gemacht und nicht Bilderräthsel. Niemals pedantisch, doch immer ernst. Hingegen kann man sich der Vermuthung kaum erwehren, ob Herr Strauß sich mit seinen Hörern und Verehrern nicht ein wenig Spaß macht? Wie mag der geistreiche Mann verstohlen lächeln, wenn die Concertbesucher in ihren Programmen nervös herumsuchen, bei welchem Tact Eulenspiegel an den Galgen heraufgezogen wird, oder wo im Zarathustra „die Hinterweltler“ aufhören und „das Capitel von der Wissenschaft“ beginnt, oder wann sie auf das „heilige Lachen“ und wann auf das „Motiv der Verachtung“ aufzupassen haben. Ich war fest überzeugt, der berühmte Autor so vieler symphonischer Bilderbücher stehe längst jenseits von Lob und Tadel und blicke auf vereinzelte, nicht zustimmende Kritiker mit dem Gleichmuth des richtigen Uebermenschen herab. Nach dem Erlaß an seine getreue Hauptstadt Graz scheint dies jedoch nicht ganz der Fall zu sein. Freundlich lobt er, die ihn loben, und bitter tadelt er die Tadler. Das ist ja „Menschlich, Allzumenschlich“. Niemand wird es ihm ver übeln. Hübsch wäre es aber doch, wenn der musikalische Hofcaplan Zarathustra’s auch der Weisheit eines freilich schon unmodernen deutschen Dichters sein Ohr leihen wollte.

Also sprach Friedrich Rückert: Unstatthaft ist’s, willst du das Lob Als bare Münz’ einnehmen Und dann zum Tadel kraus und grob Nicht gleichfalls dich bequemen. Entweder beides oder keins Mußt du in Rechnung schreiben, Und immer wird das Facit eins: Dein eig’ner Werth dir bleiben.