Die Vollendung der großen
S. Bach-Ausgabe.
Ed. H. Das würdigste Denkmal Sebastian Bach’s
prangt vollendet vor unseren Augen: Die monumentale Ausgabe
seiner Werke in 45 Bänden. Ein halbes Jahrhundert ununter
brochener Arbeit, Opferfreudigkeit und Kunstbegeisterung war
erforderlich, um diese prachtvolle Gesammtausgabe von Bach’s
Compositionen zu schaffen. Es lohnt sich, nicht blos für den
engen Kreis der Fachmusiker, sondern für jeden Geschichts-
und Culturfreund, die Anfänge, die Fortbewegung und den
endlich erreichten Beschluß des großen Unternehmens
wenigstens in den Hauptzügen zu verfolgen. Den leitenden
Faden dazu bietet uns der ausführliche, musterhaft gearbeitete
Rechenschaftsbericht, den der rühmlichst bewährte Musikgelehrte
Professor Hermann Kretzschmar im Auftrage des
Directoriums der Bach-Gesellschaft in Leipzig soeben ver
öffentlicht hat.
Mit Recht hebt Kretzschmar am Anfang seines Berichtes
die „wundersame Fügung hervor, die über den Werken
S. Bach’s“ gewaltet. Von einer früheren Zeit vernachlässigt
und mißkannt, sind sie erst nach hundert Jahren an den
ihnen gebührenden Platz gestellt, ist erst das heutige Ge
schlecht von der Größe Bach’s durchdrungen. Dem achtzehnten
Jahrhundert blieb Bach im besten Theil seines Wesens ver
schlossen. Er galt seinen Zeitgenossen als der Fürst aller
Clavier- und Orgelspieler; jedoch als Componist kam er
nicht zu seinem Rechte. Diese Unterschätzung lag nicht blos
daran, daß zu wenig Werke Bach’s gedruckt oder überhaupt
verbreitet waren, besaß man doch in den Kirchencan
taten eine genügende Grundlage für eine richtige Werth
schätzung. In der Hauptsache muß die lange Verkennung
Bach’s darauf zurückgeführt werden, daß er außerhalb der
italienischen Schule stand, welche seit Leo Haßler’s und
H. Schütz’ Zug nach Italien auch über das Schicksal der deutschen
Musiker entschied. Der Styl Bach’s erschien damals schwülstig;
es wurde an seinen Werken nur „die Tiefe der Wissenschaft
und des Geschmacks“ hervorgehoben. Der Stern der Bach’
schen Kunst stieg nur, als die Herrschaft der Italiener sank.
Eine bedeutende Wendung zu Bach’s Gunsten zeigt sich mit
dem Besuch Mozart’s in Leipzig1789, wo Doles ihm
Bach’sche Motetten vorsingen ließ. Allerdings war die Stim
mung für Bach schon vorMozart’s Leipziger Aufenthalt
günstiger geworden. Die Deutschen hatten sich an Friedrich
dem Großen wieder fühlen gelernt, und das äußerte sich
auch in den Künsten. Bald hielten, von dieser Strömung
getragen, Händel’s Oratorien ihren Einzug in Deutsch
land. Berlin wurde der Sammelpunkt Bach’scher Hand
schriften, später durch die Singakademie die Hauptstadt Bach’
scher Musik.
Die erste Bewegung zu Gunsten Bach’s stand unter
dem nationalen Zeichen. Das bezeugt Forkel’s
1802 veröffentlichtes Buch, die erste Bach-Biographie, die
überhaupt geschrieben worden ist. „Die Erhaltung des An
denkens an diesen großen Mann,“ schreibt Forkel in der
Vorrede, „ist nicht blos Kunstangelegenheit, sie ist
National-Angelegenheit!“ Der nationale Geist
veranlaßte 1800 Breitkopf & Härtel zu dem Plan um
fassender Ausgaben der Werke Mozart’s und Haydn’s.
An eine Bach-Ausgabe traten nun drei Verleger zugleich
heran: Simrock in Bonn, Nägeli in Zürich, Hoff
meister in Leipzig. Das waren fünfzig Jahre vor der
Gründung der Bach-Gesellschaft ihre Vorläufer. Wäre eine
wirkliche Gesammtausgabe von Bach’s Werken zu Anfang
des Jahrhunderts zu Stande gekommen, so hätte sie manche
jetzt unwiderbringlich verlorene Handschrift gerettet. Hatte
doch der Gärtner des Grafen Spork Baumschäden mit
den Originalstimmen der H-moll-Messe verklebt und
wurde noch im Jahre 1814 das Autograph der
Violin-Sonaten in einem Butterladen gefunden.
Die Durchführung der erwähnten Bach-Ausgaben scheiterte
größtentheils an der Concurrenz der drei Verleger. Zwei
von ihnen begnügten sich schließlich mit einigen gangbaren
Compositionen. Das Größte der Bach’schen Kunst: seine
Passionen, Messen, Cantaten waren nicht veröffentlicht. Im
Jahre 1803 hatten Breitkopf & Härtel zum erstenmale
Bach’sche Motetten gedruckt und damit das Zeichen zur Er
schließung der Bach’schen Vocal-Compositionen gegeben;
fast hundert Jahre, nachdem Bach selbst — das erste- und
einzigemal — eine größere Kirchenmusik in Druck gelegt
hatte! Chorcantaten sind im achtzehnten Jahrhundert so
gut wie gar nicht in Druck und Handel gekommen. Nach
dem zuerst das Magnificat, dann die Cantate „Eine feste
Burg“ erschienen war, ereignete sich das Erstaunliche, daß
zwei Verleger, Simrock und Nägeli, 1818 die H-moll-
Messe herausgeben wollten. Hiemit hatte die erste große
Bach-Bewegung ihren Höhepunkt, zugleich aber auch ihr Ende
erreicht.
Unter dem um 1818 entstandenen Stillstand litt
namentlich die Bach’sche Vocalmusik. Die Kirchenchöre
hielten sich an Haydn und Mozart, an Neukomm, Nau
mann und Geringere. Die Musikfeste verschlossen sich Bach
noch auf zwei Jahrzehnte vollständig. Da kam durch eine
kühne That neuer Fluß in die stockende Bewegung. Es war
die bekannte Berliner Aufführung der Matthäus-
Passion am 11. März 1829 durch Felix Mendelssohn.
Was nach Kretzschmar’s Ansicht den jungen Mendelssohn zu
diesem Wagstück ermuthigte, „das war der Geist der
Romantik, der die deutschen Lande durchzog, derselbe Geist,
der die Augen von Wissenschaft und Kunst in die deutsche
Vergangenheit richtete“. Nirgends war das musikalische Leben
stärker von ihm berührt, als in Berlin. Durch die Matthäus-
Passion wurde von Berlin aus ein neuer Bach bekannt,
ein viel größerer Meister, als man bis dahin annahm.
Mendelssohn selbst freute sich über die Erfahrungen
und Hoffnungen, ohne Anspruch auf die volle Tragweite
seiner Leistung. Er schreibt über die Aufführung seinem
Freunde Franz Hauser: „Im Anfang wollte Keiner
dran; sie meinten, es sei zu verwirrt und ganz unsinnig
schwer. Doch nach einigen Proben war das ganz anders
geworden, und sie sangen mit einer Andacht, als ob sie in
der Kirche wären.“
Dem Beispiel Berlins folgten zunächst nur wenige
Städte: Frankfurt, Breslau, Königsberg, Dresden. Die
Hamburger Singakademie brachte die Matthäus-Passion erst
im Jahre 1832, unter Stockhausen’s Direction; die
Wiener sogar erst im Jahre 1862 unter F. Steg
mayer. Im Jahre 1833 fand in Berlin unter Rungen
hagen’s Direction die erste Aufführung der „Johannes-
Passion“ statt; sie ist nicht wiederholt, auswärts kaum be
achtet worden. Im Jahre 1834 brachte die Berliner Sing
akademie die ersten drei Theile des „Weihnachts-Oratoriums“
mit starken Kürzungen. Viele Sänger wurden abtrünnig,
weil ihnen das Unternehmen aussichtslos erschien. Durch
die „Matthäus-Passion“ war der Glaube an Bach bei ver
wandten Seelen bedeutend gefestigt und vertieft, die Menge
war aber nicht gewonnen. Aus jener engeren Gemeinde
regt sich am Anfang der Dreißiger Jahre zum erstenmale
der Gedanke einer Bach-Gesellschaft. „Die
Musiker selbst,“ schreibt Schelble, der Director des
Frankfurter Cäcilien-Vereins, „müssen die Sache in die
Hand nehmen und eine Ausgabe der Bach’schen Werke
veranstalten.“ Bis zur Verwirklichung dieser Idee vergingen
aber noch achtzehn Jahre. In dieser Zwischenzeit
ist wieder Mendelssohn der erste Fahnenträger des
Meisters. In Rom, Paris, London warb und wirkte er
für Bach und allerwärts, so lange er lebte. Er war es, der
den Hauptvertreter der protestantischen Kirchenmusik ins
katholischeDeutschland einpflanzte. In Leipzig trat er
als Dirigent der Gewandhausconcerte besonders nachhaltig
für die großen Instrumental-Compositionen
ein. Literarisch fand Mendelssohn Unterstützung, besonders
durch R. Schumann, der in seiner „Neuen Zeitschrift
für Musik“ 1837 wieder einmal öffentlich an den Druck
von Bach’s sämmtlichen Werken erinnert. In ähnlicher
Weise haben sich die Schriftsteller Mosewius und
Winterfeld bemüht, größere Kreise für Bach’s Kunst
zu gewinnen. In der praktischen Musik hatten alle diese
Bemühungen nur mäßigen Erfolg. Als Mendelssohn1833
das D-moll-Concert in Berlin gespielt hatte, schreibt er:
„Der Applaus nach dem letzten Stücke wollte gar nicht auf
hören, und die Leute waren so entzückt, daß ich überzeugt
bin, es hat keinem Einzigen gefallen.“ In weiterem Umfang
ist die Bach’sche Concert- und Kammermusik erst später durch
Ferdinand David und Joseph Joachim erschlossen
worden. Die Orchester-Suite in D-dur (Nr. 3) hat
unter allen von Mendelssohn wieder eingeführten größeren
Instrumentalwerken geschichtlich am bedeutendsten gewirkt,
mehr noch als die Matthäus-Passion. Denn sie brachte die
alte, ganz abgestorbene Suiten-Composition zu
frischem Leben und führte die neueren Componisten zurück
zur Form und zum Geist des achtzehnten Jahrhunderts.
Der Verlag hatte sich im Allgemeinen von der Bach-
Bewegung zurückgezogen. Die überzeugten Freunde des
Meisters mußten in dieser kritischen Lage sich fragen: Warum
gewinnen trotz Allem seine Werke so wenig Boden? Sie
antworteten mit der Losung: der ganzeBach soll’s sein!
Eine begeisterte Minderheit entschloß sich, ernstlich an die
getreue Herausgabe von Bach’s sämmtlichen Werken heran
zutreten. Der hundertste Geburtstag Bach’s (28. Juli 1750)
rief die Leipziger Bach-Gesellschaft ins Leben.
Die Idee darf man noch auf Rechnung Mendelssohn’s
setzen; im Wesentlichen ist die Bach-Gesellschaft das Werk
Otto Jahn’s. Er war in den ersten Jahren überall die
treibende Kraft; bestimmte den Inhalt und die Herausgeber
der ersten Bände, verfaßte die Statuten und das vertrau
liche Rundschreiben, durch welches am 3. Juli 1850 Breit
kopf & Härtel, C. F. Becker, Otto Jahn, R. Schumann und
M. Hauptmann die Absicht und den Plan der Gesammt-
Herausgabe mehreren namhaften Bach-Freunden bekannt
gaben. Viele gewichtige Förderer traten dem Unternehmen
bei und setzten ihre Unterschrift zu den obgenannten unter
die „Aufforderung zur Stiftung einer Bach-
Gesellschaft“. Darunter war als einziger Oester
reicher der Wiener Conservatoriums-Professor Joseph
Fischhof. Er hat in Wien zuerst Bach’sche Compositionen
zu verbreiten gesucht, sogar einen kleinen privaten „Bach-
Verein“ gegründet, welcher als die Wurzel der später statt
lich emporgewachsenen „Wiener Singakademie“ gelten kann.
Zur Gründung der Wiener Singakademie glaube ich den
ersten Anstoß gegeben zu haben mit einem Aufsatz in der Literarischen
Beilage der „Wiener Zeitung“ vom 9. Mai 1853. Es heißt da von
Fischhof’s häuslichem Bach-Verein: „Die kunstgeschichtliche Tendenz sich
mit älteren berühmten Tonwerken bekannt zu machen und die diletti
rende sich im Chorgesang zu üben, gehen da Hand in Hand einem
würdigen Ziel entgegen. Für das Musikleben der Residenz ist der
Bach-Verein freilich nichts weiter als ein bedeutungsvoller Fingerzeig
nach etwas, das herzustellen wäre. Sollte es bei den reichen musi
kalischen Mitteln Wiens nicht möglich sein, einen großen Gesang
verein zu bilden nach dem Muster der von Fasch begründeten, von
Zelter und Rungenhagen so blühend fortgeführten Singakademie
in Berlin?“ Dieser Gedanke wird nun in dem Aufsatz weiter aus
geführt und begründet.
Am 15. December 1850 fand in Leipzig die constituirende
Sitzung statt: der Gründungstag der Bach-
Gesellschaft.
Wir müssen es uns hier versagen, das allmälige Fort
schreiten der Bach-Ausgabe in ihren einzelnen Phasen zu
verfolgen und die großen Verdienste zu würdigen, welche den
Redacteuren Otto Jahn, Moriz Hauptmann, Julius
Rietz, C. F. Becker, später (vom 9. bis zum 28. Jahr
gang) Wilhelm Rust, zuletzt noch in der dritten und letzten
Periode A. Dörffel, Graf Waldersee, E. Neu
mann und F. Wüllner zukommen. Darüber wird
jeder Musiker und Bach-Verehrer die genauen Angaben
Professor Kretzschmar’s mit Nutzen nachlesen. Im De
cember 1897 war der 45. Jahrgang fertiggestellt und
damit die Aufgabe der Bach-Gesellschaft beendet. 47 Jahre
hatte die Durchführung des Unternehmens gedauert. Von
den Gründern lebte keiner mehr; als der letzte noch Uebrige
war Geheimrath Schede im Jahre 1885 wegen hohen
Alters aus dem Ausschuß ausgetreten. Der Hauptzweck der
Gesellschaft, alle Werke J. S. Bach’s, welche durch sichere
Ueberlieferung und kritische Untersuchung als von ihm
herrührend nachgewiesen sind, in einer gemeinsamen Ausgabe
zu veröffentlichen, war erreicht. Die Gesammt-Ausgabe hat
einen großen und wichtigen Theil der Werke Bach’s zum
erstenmal in den Druck gebracht und damit für immer vor
dem drohenden Untergang gerettet.
Die wichtigste wissenschaftliche Erbschaft, welche die Bach-
Gesellschaft hinterläßt, besteht in zwei Aufgaben: die eine
dient der Kritik, die andere der praktischen Ver
wendung der Bach’schen Werke. Um zu verstehen, welche
Fortschritte die allgemeine Schätzung Bach’scher Kunst seit
dem Eintreten der Bach-Gesellschaft gemacht hat, muß man
sich erinnern, daß Anfangs der Fünfziger-Jahre C. A. Lobe
(in seinen „Briefen eines Wohlbekannten“) Bach noch einen
nur für die Zopfzeit genießbaren Componisten genannt hat
und Hans v. Bülow das D-moll-Concert als „Nichtmusik“
bezeichnete und nicht spielen wollte. „Heute“ — so hebt
Kretzschmar mit rühmenswerther Unbefangenheit hervor —
„heute neigen wir zu dem Extrem Forkel’s: daß nämlich
Bach’s Musik schlechtweg die Normalmusik sei. Es bedarf
darum dringend einer Arbeit, welche die großen unvergleich
lichen Züge seiner Kunst klar und nüchtern von den Punkten
unterscheidet, in denen Bachhinter den viel geschmähten
Neapolitanern zurückbleibt und in denen er für keine Zeit
ein Muster sein kann.“
Die große Bach-Ausgabe war auch geschäftlich ein
ideales Unternehmen. Heute kommt die Culturbedeutung der
Musik in den Ausgabeposten der Länder allmälig wieder
zu größerer Geltung; vor 50 Jahren war für eine Bach-
Ausgabe an durchgreifende Staatshilfe nicht zu denken.
Um so dankbarer sahen die Gründer die Mehrzahl der
deutschen Fürsten (der Kaiser von Oesterreich mit 10, der König
von Preußen mit 20 Exemplaren) an die Spitze der Subscri
benten treten. Die allgemeine Betheiligung blieb jedoch unter
den Erwartungen der Bach-Gesellschaft; es wurde doch zu
drückend empfunden, daß man gleich anfangs auf die ganze
Ausgabe pränumeriren mußte. Erst im Jahre 1869 entschloß
sich die Gesellschaft nothgedrungen, auch einzelne Bände
abzulassen. Die ganz fremde Form der Pränumeration hat
sich niemals eingebürgert, und die wirklich vorausbe
zahlenden Mitglieder haben stets eine Minderheit oder eine
Ausnahme gebildet. Auch der stets gewissenhafte Brahms,
der einmal die Gründung des deutschen Reiches und die
Vollendung der Bach-Ausgabe seine beiden größten Erleb
nisse nannte, mußte sich einmal zur Einzahlung mahnen
lassen.
Brahms, der begeisterte Verehrer Bach’s, schwärmte nicht
in gleichem Maß und Umfang für Händel. Die ins Unabsehbare
sich fortschleppende Händel-Ausgabe machte ihn ungeduldig, und
er verzweifelte oft, wo er die vielen Bände unterbringen sollte. Die
zahlreichen italienischen Opern, Serenaden und Gelegenheits-Cantaten
flößten ihm kein Interesse ein.
Wenn das große, wiederholt ins Stocken gerathene
Unternehmen überhaupt durchgeführt werden konnte, so ist
das vor Allem den kunstsinnigen Vertretern des Hauses
Breitkopf & Härtel zu danken.
Günstiger als die äußere Aufnahme und Unterstützung,
welche die Bach-Ausgabe gefunden, ist die Wirkung, die sie
auf die Musik geübt hat. Den nächsten Beweis dafür bildet
das Wiederaufleben der Suite im Clavier und im Orchester.
Hingegen hat sich die neuere Composition dem Einfluß des
Bach’schen Concerts bis jetzt noch verschlossen. In der
neueren Vocal-Composition sind Bach’sche Vorbilder erst
in jüngster Zeit bemerkbar geworden, so in Herzogen
berg’s Kirchen-Oratorien. Ungleich wichtiger ist, daß Bach’s
Werke zu einer Reform des mehrstimmigen Styls geführt
haben. Dieser Erfolg Bach’s ist für die Composition des
neunzehnten Jahrhunderts entscheidend gewesen. Schon vor
der Gründung der Bach-Gesellschaft zeigt er sich in den
Werken Mendelssohn’s und Schumann’s. In der
Musikpflege seit Gründung der Bach-Gesellschaft zeigt sich
eine entschiedene Wendung zu Gunsten der Bach’schen Vocal-
Compositionen. Sie tritt Anfangs der Sechziger Jahre mit
dem Vordringen der Passionsmusiken ein. In Wien
führen Stegmayer und Herbeck die Matthäus- und
Johannes-Passion auf. Heute gibt es keine musikalisch leistungs
fähige Mittelstadt in Deutschland, in der die Matthäus-
Passion unbekannt wäre; in den meisten großen hört man sie
alljährlich in der Charwoche. Ihr am nächsten in der Ver
breitung kommt die H-moll-Messe. Auch Aufführungen Bach’scher
Cantaten sind heute häufiger als vor fünfzig Jahren;
in Wien war Brahms als Dirigent der Singakademie
eifrig dafür thätig. In der Instrumental-Musik
war Bach schon vor Gründung der Gesellschaft viel besser
vertreten als in der Vocalmusik; seitdem ist seine Stellung
hierin noch ungleich bedeutender geworden. Das „wohl
temperirte Clavier“, die Inventionen und Claviersuiten ge
hören zum Grundstock des musikalischen Unterrichts. Freilich
ist an vielen Punkten das Erreichte hinter dem Erreichbaren
zurückgeblieben. Der Ursachen sind mehrere. Die Fünfziger-
Jahre brachten den Kampf um das Musikdrama Richard
Wagner’s, um die Zukunftsmusik, und damit eine
Spaltung zwischen alter und neuer Kunst, die der Bach-
Gesellschaft starken Abbruch gethan hat. Nur wenige Vertreter
der neuen Richtung hatten gleich dem unbefangenen und
vielseitigen Franz Liszt im Herzen zugleich Platz für Bach
undWagner. Eine zweite Schwierigkeit lag darin, daß ein
Theil der Bach’schen Werke, insbesondere Cantaten, unserer
Zeit entfremdet ist. Mit Concertaufführungen ist der
gewünschte Erfolg nicht zu erreichen. Professor Kretzschmar
wiederholt nachdrücklich, daß „der Haupttheil der Bach’schen
Kunst für die Kirche bestimmt ist.“
Woran es allen heutigen Bestrebungen zur Wieder
belebung alter Tonkunst noch mangelt, das ist ihre Verbin
dung mit der Musikpflege. Als die beste Form, die
praktische Wirkung der Bach-Ausgabe zu ergänzen, empfiehlt
Kretzschmar die Einrichtung regelmäßiger Bach-Feste.
Solche sind nur ausnahmsweise in London (1895) und
bei der Einweihung des Bach-Denkmals in Eisenach
(1884) versucht worden. Diese Feste hätten vor Allem die
jenigen Compositionen Bach’s ans Licht zu ziehen, deren
eigenthümliche Schönheit der großen musikalischen Welt un
bekannt geblieben ist. Außerdem wären die „Bach-Feste“ die
Stelle, wo eine Menge noch schwebender Fragen zum prak
tischen Austrag gebracht werden soll. Eisenach, die
Vaterstadt Bach’s, Leipzig, wo er gewirkt, Berlin,
Frankfurt, Breslau, wo die Bach-Bewegung ihren
Ausgang genommen hat, erscheinen als die bevorzugten
Orte für solche Feste.
Zum Schlusse möge ein schönes Wort von L. Ehlert
hier Platz finden: „Nichts erhält das Gegenwärtige kräftiger
und in der Besinnung auf seine höchsten Güter wachsamer,
als der Rückblick auf ein allen Widerstreit in sich besiegt
und verklärt tragendes Vergangenes. Unter den Berufenen
aller Zeiten wurde ja nur Wenigen das göttergleiche Schicksal
zu Theil, ihr Erdenleid und ihre Erdenwonne zu so reinem
Klange aufzulösen, wie unserem Johann Sebastian Bach.“