Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12767. Wien, Samstag, den 10. März 1900 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12767. Wien, Samstag, den 10. März 1900 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 10.03.1900
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Die Vollendung der großen S. Bach-Ausgabe.

Ed. H. Das würdigste Denkmal Sebastian Bach’s prangt vollendet vor unseren Augen: Die monumentale Ausgabe seiner Werke in 45 Bänden. Ein halbes Jahrhundert ununter brochener Arbeit, Opferfreudigkeit und Kunstbegeisterung war erforderlich, um diese prachtvolle Gesammtausgabe von Bach’s Compositionen zu schaffen. Es lohnt sich, nicht blos für den engen Kreis der Fachmusiker, sondern für jeden Geschichts- und Culturfreund, die Anfänge, die Fortbewegung und den endlich erreichten Beschluß des großen Unternehmens wenigstens in den Hauptzügen zu verfolgen. Den leitenden Faden dazu bietet uns der ausführliche, musterhaft gearbeitete Rechenschaftsbericht, den der rühmlichst bewährte Musikgelehrte Professor Hermann Kretzschmar im Auftrage des Directoriums der Bach-Gesellschaft in Leipzig soeben ver öffentlicht hat.

Mit Recht hebt Kretzschmar am Anfang seines Berichtes die „wundersame Fügung hervor, die über den Werken S. Bach’s“ gewaltet. Von einer früheren Zeit vernachlässigt und mißkannt, sind sie erst nach hundert Jahren an den ihnen gebührenden Platz gestellt, ist erst das heutige Ge schlecht von der Größe Bach’s durchdrungen. Dem achtzehnten Jahrhundert blieb Bach im besten Theil seines Wesens ver schlossen. Er galt seinen Zeitgenossen als der Fürst aller Clavier- und Orgelspieler; jedoch als Componist kam er

nicht zu seinem Rechte. Diese Unterschätzung lag nicht blos daran, daß zu wenig Werke Bach’s gedruckt oder überhaupt verbreitet waren, besaß man doch in den Kirchencan taten eine genügende Grundlage für eine richtige Werth schätzung. In der Hauptsache muß die lange Verkennung Bach’s darauf zurückgeführt werden, daß er außerhalb der italienischen Schule stand, welche seit Leo Haßler’s und H. Schütz’ Zug nach Italien auch über das Schicksal der deutschen Musiker entschied. Der Styl Bach’s erschien damals schwülstig; es wurde an seinen Werken nur „die Tiefe der Wissenschaft und des Geschmacks“ hervorgehoben. Der Stern der Bachschen Kunst stieg nur, als die Herrschaft der Italiener sank. Eine bedeutende Wendung zu Bach’s Gunsten zeigt sich mit dem Besuch Mozart’s in Leipzig1789, wo Doles ihm Bach’sche Motetten vorsingen ließ. Allerdings war die Stim mung für Bach schon vorMozart’s Leipziger Aufenthalt günstiger geworden. Die Deutschen hatten sich an Friedrich dem Großen wieder fühlen gelernt, und das äußerte sich auch in den Künsten. Bald hielten, von dieser Strömung getragen, Händel’s Oratorien ihren Einzug in Deutsch land. Berlin wurde der Sammelpunkt Bach’scher Hand schriften, später durch die Singakademie die Hauptstadt Bachscher Musik.

Die erste Bewegung zu Gunsten Bach’s stand unter dem nationalen Zeichen. Das bezeugt Forkel’s 1802 veröffentlichtes Buch, die erste Bach-Biographie, die überhaupt geschrieben worden ist. „Die Erhaltung des An denkens an diesen großen Mann,“ schreibt Forkel in der Vorrede, „ist nicht blos Kunstangelegenheit, sie ist National-Angelegenheit!“ Der nationale Geist veranlaßte 1800 Breitkopf & Härtel zu dem Plan um fassender Ausgaben der Werke Mozart’s und Haydn’s. An eine Bach-Ausgabe traten nun drei Verleger zugleich heran: Simrock in Bonn, Nägeli in Zürich, Hoff meister in Leipzig. Das waren fünfzig Jahre vor der Gründung der Bach-Gesellschaft ihre Vorläufer. Wäre eine wirkliche Gesammtausgabe von Bach’s Werken zu Anfang des Jahrhunderts zu Stande gekommen, so hätte sie manche jetzt unwiderbringlich verlorene Handschrift gerettet. Hatte

doch der Gärtner des Grafen Spork Baumschäden mit den Originalstimmen der H-moll-Messe verklebt und wurde noch im Jahre 1814 das Autograph der Violin-Sonaten in einem Butterladen gefunden. Die Durchführung der erwähnten Bach-Ausgaben scheiterte größtentheils an der Concurrenz der drei Verleger. Zwei von ihnen begnügten sich schließlich mit einigen gangbaren Compositionen. Das Größte der Bach’schen Kunst: seine Passionen, Messen, Cantaten waren nicht veröffentlicht. Im Jahre 1803 hatten Breitkopf & Härtel zum erstenmale Bach’sche Motetten gedruckt und damit das Zeichen zur Er schließung der Bach’schen Vocal-Compositionen gegeben; fast hundert Jahre, nachdem Bach selbst — das erste- und einzigemal — eine größere Kirchenmusik in Druck gelegt hatte! Chorcantaten sind im achtzehnten Jahrhundert so gut wie gar nicht in Druck und Handel gekommen. Nach dem zuerst das Magnificat, dann die Cantate „Eine feste Burg“ erschienen war, ereignete sich das Erstaunliche, daß zwei Verleger, Simrock und Nägeli, 1818 die H-moll- Messe herausgeben wollten. Hiemit hatte die erste große Bach-Bewegung ihren Höhepunkt, zugleich aber auch ihr Ende erreicht.

Unter dem um 1818 entstandenen Stillstand litt namentlich die Bach’sche Vocalmusik. Die Kirchenchöre hielten sich an Haydn und Mozart, an Neukomm, Nau mann und Geringere. Die Musikfeste verschlossen sich Bach noch auf zwei Jahrzehnte vollständig. Da kam durch eine kühne That neuer Fluß in die stockende Bewegung. Es war die bekannte Berliner Aufführung der Matthäus- Passion am 11. März 1829 durch Felix Mendelssohn. Was nach Kretzschmar’s Ansicht den jungen Mendelssohn zu diesem Wagstück ermuthigte, „das war der Geist der Romantik, der die deutschen Lande durchzog, derselbe Geist, der die Augen von Wissenschaft und Kunst in die deutsche Vergangenheit richtete“. Nirgends war das musikalische Leben stärker von ihm berührt, als in Berlin. Durch die Matthäus- Passion wurde von Berlin aus ein neuer Bach bekannt, ein viel größerer Meister, als man bis dahin annahm. Mendelssohn selbst freute sich über die Erfahrungen

und Hoffnungen, ohne Anspruch auf die volle Tragweite seiner Leistung. Er schreibt über die Aufführung seinem Freunde Franz Hauser: „Im Anfang wollte Keiner dran; sie meinten, es sei zu verwirrt und ganz unsinnig schwer. Doch nach einigen Proben war das ganz anders geworden, und sie sangen mit einer Andacht, als ob sie in der Kirche wären.“

Dem Beispiel Berlins folgten zunächst nur wenige Städte: Frankfurt, Breslau, Königsberg, Dresden. Die Hamburger Singakademie brachte die Matthäus-Passion erst im Jahre 1832, unter Stockhausen’s Direction; die Wiener sogar erst im Jahre 1862 unter F. Steg mayer. Im Jahre 1833 fand in Berlin unter Rungen hagen’s Direction die erste Aufführung der „Johannes- Passion“ statt; sie ist nicht wiederholt, auswärts kaum be achtet worden. Im Jahre 1834 brachte die Berliner Sing akademie die ersten drei Theile des „Weihnachts-Oratoriumsmit starken Kürzungen. Viele Sänger wurden abtrünnig, weil ihnen das Unternehmen aussichtslos erschien. Durch die „Matthäus-Passion“ war der Glaube an Bach bei ver wandten Seelen bedeutend gefestigt und vertieft, die Menge war aber nicht gewonnen. Aus jener engeren Gemeinde regt sich am Anfang der Dreißiger Jahre zum erstenmale der Gedanke einer Bach-Gesellschaft. „Die Musiker selbst,“ schreibt Schelble, der Director des Frankfurter Cäcilien-Vereins, „müssen die Sache in die Hand nehmen und eine Ausgabe der Bach’schen Werke veranstalten.“ Bis zur Verwirklichung dieser Idee vergingen aber noch achtzehn Jahre. In dieser Zwischenzeit ist wieder Mendelssohn der erste Fahnenträger des Meisters. In Rom, Paris, London warb und wirkte er für Bach und allerwärts, so lange er lebte. Er war es, der den Hauptvertreter der protestantischen Kirchenmusik ins katholischeDeutschland einpflanzte. In Leipzig trat er als Dirigent der Gewandhausconcerte besonders nachhaltig für die großen Instrumental-Compositionen ein. Literarisch fand Mendelssohn Unterstützung, besonders durch R. Schumann, der in seiner „Neuen Zeitschrift für Musik1837 wieder einmal öffentlich an den Druck von Bach’s sämmtlichen Werken erinnert. In ähnlicher

Weise haben sich die Schriftsteller Mosewius und Winterfeld bemüht, größere Kreise für Bach’s Kunst zu gewinnen. In der praktischen Musik hatten alle diese Bemühungen nur mäßigen Erfolg. Als Mendelssohn1833 das D-moll-Concert in Berlin gespielt hatte, schreibt er: „Der Applaus nach dem letzten Stücke wollte gar nicht auf hören, und die Leute waren so entzückt, daß ich überzeugt bin, es hat keinem Einzigen gefallen.“ In weiterem Umfang ist die Bach’sche Concert- und Kammermusik erst später durch Ferdinand David und Joseph Joachim erschlossen worden. Die Orchester-Suite in D-dur (Nr. 3) hat unter allen von Mendelssohn wieder eingeführten größeren Instrumentalwerken geschichtlich am bedeutendsten gewirkt, mehr noch als die Matthäus-Passion. Denn sie brachte die alte, ganz abgestorbene Suiten-Composition zu frischem Leben und führte die neueren Componisten zurück zur Form und zum Geist des achtzehnten Jahrhunderts. Der Verlag hatte sich im Allgemeinen von der Bach- Bewegung zurückgezogen. Die überzeugten Freunde des Meisters mußten in dieser kritischen Lage sich fragen: Warum gewinnen trotz Allem seine Werke so wenig Boden? Sie antworteten mit der Losung: der ganzeBach soll’s sein! Eine begeisterte Minderheit entschloß sich, ernstlich an die getreue Herausgabe von Bach’s sämmtlichen Werken heran zutreten. Der hundertste Geburtstag Bach’s (28. Juli 1750) rief die Leipziger Bach-Gesellschaft ins Leben.

Die Idee darf man noch auf Rechnung Mendelssohn’s setzen; im Wesentlichen ist die Bach-Gesellschaft das Werk Otto Jahn’s. Er war in den ersten Jahren überall die treibende Kraft; bestimmte den Inhalt und die Herausgeber der ersten Bände, verfaßte die Statuten und das vertrau liche Rundschreiben, durch welches am 3. Juli 1850 Breit kopf & Härtel, C. F. Becker, Otto Jahn, R. Schumann und M. Hauptmann die Absicht und den Plan der Gesammt- Herausgabe mehreren namhaften Bach-Freunden bekannt gaben. Viele gewichtige Förderer traten dem Unternehmen bei und setzten ihre Unterschrift zu den obgenannten unter die „Aufforderung zur Stiftung einer Bach- Gesellschaft“. Darunter war als einziger Oester reicher der Wiener Conservatoriums-Professor Joseph

Fischhof. Er hat in Wien zuerst Bach’sche Compositionen zu verbreiten gesucht, sogar einen kleinen privaten „Bach- Verein“ gegründet, welcher als die Wurzel der später statt lich emporgewachsenen „Wiener Singakademie“ gelten kann. Zur Gründung der Wiener Singakademie glaube ich den ersten Anstoß gegeben zu haben mit einem Aufsatz in der Literarischen Beilage der „Wiener Zeitung“ vom 9. Mai 1853. Es heißt da von Fischhof’s häuslichem Bach-Verein: „Die kunstgeschichtliche Tendenz sich mit älteren berühmten Tonwerken bekannt zu machen und die diletti rende sich im Chorgesang zu üben, gehen da Hand in Hand einem würdigen Ziel entgegen. Für das Musikleben der Residenz ist der Bach-Verein freilich nichts weiter als ein bedeutungsvoller Fingerzeig nach etwas, das herzustellen wäre. Sollte es bei den reichen musi kalischen Mitteln Wiens nicht möglich sein, einen großen Gesang verein zu bilden nach dem Muster der von Fasch begründeten, von Zelter und Rungenhagen so blühend fortgeführten Singakademie in Berlin?“ Dieser Gedanke wird nun in dem Aufsatz weiter aus geführt und begründet. Am 15. December 1850 fand in Leipzig die constituirende Sitzung statt: der Gründungstag der Bach- Gesellschaft.

Wir müssen es uns hier versagen, das allmälige Fort schreiten der Bach-Ausgabe in ihren einzelnen Phasen zu verfolgen und die großen Verdienste zu würdigen, welche den Redacteuren Otto Jahn, Moriz Hauptmann, Julius Rietz, C. F. Becker, später (vom 9. bis zum 28. Jahr gang) Wilhelm Rust, zuletzt noch in der dritten und letzten Periode A. Dörffel, Graf Waldersee, E. Neu mann und F. Wüllner zukommen. Darüber wird jeder Musiker und Bach-Verehrer die genauen Angaben Professor Kretzschmar’s mit Nutzen nachlesen. Im De cember 1897 war der 45. Jahrgang fertiggestellt und damit die Aufgabe der Bach-Gesellschaft beendet. 47 Jahre hatte die Durchführung des Unternehmens gedauert. Von den Gründern lebte keiner mehr; als der letzte noch Uebrige war Geheimrath Schede im Jahre 1885 wegen hohen Alters aus dem Ausschuß ausgetreten. Der Hauptzweck der Gesellschaft, alle Werke J. S. Bach’s, welche durch sichere Ueberlieferung und kritische Untersuchung als von ihm herrührend nachgewiesen sind, in einer gemeinsamen Ausgabe zu veröffentlichen, war erreicht. Die Gesammt-Ausgabe hat einen großen und wichtigen Theil der Werke Bach’s zum

erstenmal in den Druck gebracht und damit für immer vor dem drohenden Untergang gerettet.

Die wichtigste wissenschaftliche Erbschaft, welche die Bach- Gesellschaft hinterläßt, besteht in zwei Aufgaben: die eine dient der Kritik, die andere der praktischen Ver wendung der Bach’schen Werke. Um zu verstehen, welche Fortschritte die allgemeine Schätzung Bach’scher Kunst seit dem Eintreten der Bach-Gesellschaft gemacht hat, muß man sich erinnern, daß Anfangs der Fünfziger-Jahre C. A. Lobe (in seinen „Briefen eines Wohlbekannten“) Bach noch einen nur für die Zopfzeit genießbaren Componisten genannt hat und Hans v. Bülow das D-moll-Concert als „Nichtmusik“ bezeichnete und nicht spielen wollte. „Heute“ — so hebt Kretzschmar mit rühmenswerther Unbefangenheit hervor — „heute neigen wir zu dem Extrem Forkel’s: daß nämlich Bach’s Musik schlechtweg die Normalmusik sei. Es bedarf darum dringend einer Arbeit, welche die großen unvergleich lichen Züge seiner Kunst klar und nüchtern von den Punkten unterscheidet, in denen Bachhinter den viel geschmähten Neapolitanern zurückbleibt und in denen er für keine Zeit ein Muster sein kann.“

Die große Bach-Ausgabe war auch geschäftlich ein ideales Unternehmen. Heute kommt die Culturbedeutung der Musik in den Ausgabeposten der Länder allmälig wieder zu größerer Geltung; vor 50 Jahren war für eine Bach- Ausgabe an durchgreifende Staatshilfe nicht zu denken. Um so dankbarer sahen die Gründer die Mehrzahl der deutschen Fürsten (der Kaiser von Oesterreich mit 10, der König von Preußen mit 20 Exemplaren) an die Spitze der Subscri benten treten. Die allgemeine Betheiligung blieb jedoch unter den Erwartungen der Bach-Gesellschaft; es wurde doch zu drückend empfunden, daß man gleich anfangs auf die ganze Ausgabe pränumeriren mußte. Erst im Jahre 1869 entschloß sich die Gesellschaft nothgedrungen, auch einzelne Bände abzulassen. Die ganz fremde Form der Pränumeration hat sich niemals eingebürgert, und die wirklich vorausbe zahlenden Mitglieder haben stets eine Minderheit oder eine Ausnahme gebildet. Auch der stets gewissenhafte Brahms, der einmal die Gründung des deutschen Reiches und die Vollendung der Bach-Ausgabe seine beiden größten Erleb nisse nannte, mußte sich einmal zur Einzahlung mahnen

lassen. Brahms, der begeisterte Verehrer Bach’s, schwärmte nicht in gleichem Maß und Umfang für Händel. Die ins Unabsehbare sich fortschleppende Händel-Ausgabe machte ihn ungeduldig, und er verzweifelte oft, wo er die vielen Bände unterbringen sollte. Die zahlreichen italienischen Opern, Serenaden und Gelegenheits-Cantaten flößten ihm kein Interesse ein. Wenn das große, wiederholt ins Stocken gerathene Unternehmen überhaupt durchgeführt werden konnte, so ist das vor Allem den kunstsinnigen Vertretern des Hauses Breitkopf & Härtel zu danken.

Günstiger als die äußere Aufnahme und Unterstützung, welche die Bach-Ausgabe gefunden, ist die Wirkung, die sie auf die Musik geübt hat. Den nächsten Beweis dafür bildet das Wiederaufleben der Suite im Clavier und im Orchester. Hingegen hat sich die neuere Composition dem Einfluß des Bach’schen Concerts bis jetzt noch verschlossen. In der neueren Vocal-Composition sind Bach’sche Vorbilder erst in jüngster Zeit bemerkbar geworden, so in Herzogen berg’s Kirchen-Oratorien. Ungleich wichtiger ist, daß Bach’s Werke zu einer Reform des mehrstimmigen Styls geführt haben. Dieser Erfolg Bach’s ist für die Composition des neunzehnten Jahrhunderts entscheidend gewesen. Schon vor der Gründung der Bach-Gesellschaft zeigt er sich in den Werken Mendelssohn’s und Schumann’s. In der Musikpflege seit Gründung der Bach-Gesellschaft zeigt sich eine entschiedene Wendung zu Gunsten der Bach’schen Vocal- Compositionen. Sie tritt Anfangs der Sechziger Jahre mit dem Vordringen der Passionsmusiken ein. In Wien führen Stegmayer und Herbeck die Matthäus- und Johannes-Passion auf. Heute gibt es keine musikalisch leistungs fähige Mittelstadt in Deutschland, in der die Matthäus- Passion unbekannt wäre; in den meisten großen hört man sie alljährlich in der Charwoche. Ihr am nächsten in der Ver breitung kommt die H-moll-Messe. Auch Aufführungen Bach’scher Cantaten sind heute häufiger als vor fünfzig Jahren; in Wien war Brahms als Dirigent der Singakademie eifrig dafür thätig. In der Instrumental-Musik war Bach schon vor Gründung der Gesellschaft viel besser vertreten als in der Vocalmusik; seitdem ist seine Stellung hierin noch ungleich bedeutender geworden. Das „wohl temperirte Clavier“, die Inventionen und Claviersuiten ge

hören zum Grundstock des musikalischen Unterrichts. Freilich ist an vielen Punkten das Erreichte hinter dem Erreichbaren zurückgeblieben. Der Ursachen sind mehrere. Die Fünfziger- Jahre brachten den Kampf um das Musikdrama Richard Wagner’s, um die Zukunftsmusik, und damit eine Spaltung zwischen alter und neuer Kunst, die der Bach- Gesellschaft starken Abbruch gethan hat. Nur wenige Vertreter der neuen Richtung hatten gleich dem unbefangenen und vielseitigen Franz Liszt im Herzen zugleich Platz für Bach undWagner. Eine zweite Schwierigkeit lag darin, daß ein Theil der Bach’schen Werke, insbesondere Cantaten, unserer Zeit entfremdet ist. Mit Concertaufführungen ist der gewünschte Erfolg nicht zu erreichen. Professor Kretzschmar wiederholt nachdrücklich, daß „der Haupttheil der Bach’schen Kunst für die Kirche bestimmt ist.“

Woran es allen heutigen Bestrebungen zur Wieder belebung alter Tonkunst noch mangelt, das ist ihre Verbin dung mit der Musikpflege. Als die beste Form, die praktische Wirkung der Bach-Ausgabe zu ergänzen, empfiehlt Kretzschmar die Einrichtung regelmäßiger Bach-Feste. Solche sind nur ausnahmsweise in London (1895) und bei der Einweihung des Bach-Denkmals in Eisenach (1884) versucht worden. Diese Feste hätten vor Allem die jenigen Compositionen Bach’s ans Licht zu ziehen, deren eigenthümliche Schönheit der großen musikalischen Welt un bekannt geblieben ist. Außerdem wären die „Bach-Feste“ die Stelle, wo eine Menge noch schwebender Fragen zum prak tischen Austrag gebracht werden soll. Eisenach, die Vaterstadt Bach’s, Leipzig, wo er gewirkt, Berlin, Frankfurt, Breslau, wo die Bach-Bewegung ihren Ausgang genommen hat, erscheinen als die bevorzugten Orte für solche Feste.

Zum Schlusse möge ein schönes Wort von L. Ehlert hier Platz finden: „Nichts erhält das Gegenwärtige kräftiger und in der Besinnung auf seine höchsten Güter wachsamer, als der Rückblick auf ein allen Widerstreit in sich besiegt und verklärt tragendes Vergangenes. Unter den Berufenen aller Zeiten wurde ja nur Wenigen das göttergleiche Schicksal zu Theil, ihr Erdenleid und ihre Erdenwonne zu so reinem Klange aufzulösen, wie unserem Johann Sebastian Bach.“