Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12781. Wien, Samstag, den 24. März 1900 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12781. Wien, Samstag, den 24. März 1900 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 24.03.1900
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Hofoperntheater. Jolanthe“, lyrische Oper in einem Aufzuge von P. Tschaikowsky.

Ed. H. Berückt von dem poetischen Zauber der Königstochter Jolanthe, geblendet von einer Blinden, hat Tschaikowsky Henrik Hertz’s Drama zur Oper um geschaffen. Er ist der Erste nicht. Vor 50 Jahren ist im alten Kärntnerthor-Theater eine Oper „Jolanthe“ von Johannes Hager aufgeführt und trotz mancher glücklicher Scenen rasch wieder beseitigt worden. Das war, als ganz Deutschland von dem rührenden Idyll des dänischen Dichters schwärmte. Nur zu leicht mochte ein junger gefühlvoller Com ponist in der blinden Jolanthe eine Opernideal erblicken. Es hatten sogar namhafte Kritiker in ihrer Beurtheilung oder Verur theilung des Hertz’schen Dramas auf das Operngebiet hinge wiesen, indem Jolanthe kein dramatischer Charakter sei, sondern eine musikalische Seele. Sollte — so hieß es — die so rührende Geschichte nicht durch Musik unendlich gewinnen? Ja, drängt sie nicht geradezu nach musikalischer Verstärkung und Verklärung? Man übersah nur Eines: daß die süße himmelblaue Monotonie, die auf dem Schauspiel lastet, gerade für die Oper verhängnißvoll werden müßte. Noch peinlicher empfinden wir hier den Mangel an kräftigen Gegensätzen, an vorwärtsdrängender Handlung. Die Musik braucht zur Entfaltung eines Dialogs oder Monologs doppelt so viel Zeit, als die gesprochene Rede; überdies wird der Com ponist gar nicht loskommen aus dem langsamen Zeitmaß

und der gleichmäßigen Rhythmik. Was an dem Drama des dänischen Poeten uns zumeist fesselt, sind die sinnigen Reden und Erörterungen über das Licht, das Sehen — geistreiche, poetische Gedanken, welche dieses Thema sowol nach der Gefühlsseite, wie nach der psychologischen und pathologischen beleuchten. Davon kann das Wenigste in Musik rein auf gehen und wird das Meiste im Gesangsvortrag undeutlich verschwimmen.

Da hätten wir vorläufig und voreilig schon Entschul digungsgründe vorgebracht, warum die Oper „Jolanthekeinen großen Erfolg erzielen kann. Keinen Erfolg wie Tschaikowsky’s „Eugen Onegin“. Für diesen hege ich eine besondere Vorliebe; trotz der sehr ungleichen Erfindung und dem unglücklichen letzten Act, der das Werk nicht abschließt, sondern abbricht. In „Onegin“ erscheint uns der Componist als eine geprägte Individualität, eine geistvolle, liebens würdige Natur, deren westeuropäische Bildung die russische Nationalität trotzdem nicht verleugnet. Diese reizvollen natio nalen Anklänge, welche der Musik zu „Onegin“ ihre charak teristische Farbe geben, müssen wir in der provencalischen Jolanthe“ entbehren, und wir entbehren sie schwer. Gerne hätten wir der neuen Oper einen ähnlichen tiefen Eindruck verdankt und nachgerühmt, wie jener älteren. Aber das will uns trotz mancher schönen Einzelheit in „Jolanthe“ nicht gelingen. Es ist dem Componisten diesmal nicht viel Neues eingefallen; wohl uns, daß er diesem Mangel nicht durch Rohheit und Bizarrerie abzuhelfen sucht, wie so viele seiner Landsleute. In Tschaikowsky’s „Jolanthe“ herrschen über wiegend Natürlichkeit und zarte Empfindung, die manchmal zum Gewöhnlichen herabsinkt, manchmal aber sich zu schöner Anmuth erhebt.

Man höre gleich die einleitenden idyllischen Scenen im Garten. Ein Gespräch Jolanthe’s mit ihrer Amme, zwischen Recitativ und Cantilene schwankend, wird von einer un gemein einfachen lieblichen G-dur-Melodie der Violinen und Harfen getragen. Daran schließt sich ein zartes Arioso der Jolanthe: „Warum kannte in früheren Tagen weder Thränen

noch Kummer mein Sinn?“ und ein heiterer Mädchenchor „Bringen die Blumen“. Die naive, herzliche Melodie mit den jubelnden Vogelstimmen im Orchester wirkt in ihrer Reinheit ebenso köstlich wie das darauf folgende Schlummer lied in Es-dur. Es wird abwechselnd erst von zwei Solo stimmen gesungen, denen sich dann die tiefere dritte und ein leise verhallender Mädchenchor anfügt. In diesen einleitenden idyllischen Scenen zeigt sich Tschaikowsky’s lyrisches Talent in voller sanfter Leuchtkraft. Alles etwas breit ausgesponnen, aber stimmungsvoll, in musikalisch schön gerundeter Form. Nun sind wir aber beinahe fertig mit den Scenen, die wir uneingeschränkt, so recht von Herzen loben können.

Jagdhörner verkünden das Nahen des Königs, der in Begleitung des maurischen Arztes Ebn-Jahia auftritt. Die Arie, in welcher der König das Unglück seiner Tochter be klagt, ist dankbar für den Sänger, aber stark an italienische Muster ausklingend, von geringer Originalität. Charakteristi scher erscheint unmittelbar darauf die Arie des Arztes in ihrer wunderlichen Monotonie. Das etwas steife Pathos der beiden Bassisten wird erfreulich abgelöst durch die kühn eindringenden jungen Freunde Tristan und Robert, deren Entzücken beim Anblick des herrlichen Gartens in reizenden Orchester-Effecten ausklingt. Ritter Robert preist in einer recht banalen Arie die Schönheit einer gewissen Mathilde, die wir leider nicht zu sehen bekommen: „Wer kann mit Mathilden sich messen an Macht, mit ihres schwarzblickenden Augenpaars Pracht?“ Von der schrecklichen „Umdichtung“ des Originals durch Herrn Hans Schmidt geben wir aufs Gerathewohl noch zwei weitere Proben. Jolanthe singt: „O, um zu retten ihn, will gerne ich ertragen Alles, denn mir werth ist er.“ Worauf der König die großartige Entscheidung fällt: „So sei sie dein, mein Sohn, denn!“

Der Ritter Tristan (das ist nämlich „mein Sohn denn“) hat die schlafende Jolanthe erweckt. Nach einer stür mischen Liebeserklärung entdeckt er allmälig, daß Jolanthe blind ist. Durch seine Fragen wird die bisher Ahnungslose

zum erstenmale ihres Gebrechens inne. In dem ermüdend langen Duett der Beiden leuchten einige feine Wendungen auf; wo aber die Melodie endlich in festem, breitem Bett sich zu sammeln beginnt („Ist des Schöpfers erstes Werk“), verfällt sie der gewöhnlichen Opernphrase. Und doch steht die Scene hier auf ihrem Höhepunkt, wie der Componist durch eine spätere Wiederholung des Themas bekräftigt. Wo aber die Kraft der originellen Melodie fehlt, da helfen alle Harfen der Welt nichts. Der König mit dem Arzte und den Dienerinnen Jolanthe’s eilen herbei, erschreckt über die Anwesenheit eines Fremden. Ein breiter, allmälig sich steigender Ensemblesatz („Er sprach zu mir vom Strahl der Sonne“) legt sich beruhigend auf die Erschütterung der Anwesenden. Dann fleht Jolanthe in einem leidenschaft lichen Allegro um Gnade für Tristan. Der Arzt entfernt sich mit Jolanthe, um ihre Heilung zu versuchen. Nach sehr kurzer Zeit kehren sie zurück; ein jubelnder Ausruf des Chors „Jolanthe sieht das Licht!“ begrüßt die glücklich Errettete. Eine große dramatische Scene Jolanthe’s, welche allmälig ihre Umgebung erkennt, gipfelt in ihrem Gebet „O Herr zu dir!“, worauf ein kurzer Dank- und Preis chor die Oper beschließt.

Das Publicum folgte der Oper sehr aufmerksam, mit mehr Andacht als Begeisterung. Das liegt in der Natur dieser Musik. Weder Meisterwerk noch Effectstück, wol aber sorgfältige Arbeit eines vornehmen Künstlers. Die ersten Scenen mit den Mädchenchören, zahlreiche Feinheiten im Dialog, vor Allem die Reize der charakteristischen Instru mentirung konnten von unserm Publicum nicht übersehen, nicht unterschätzt werden. Der Erfolg von „Eugen Oneginhat der Wiener Hofoper das Recht, wol auch die Pflicht gegeben, dem russischen Componisten nochmals ihre Pforten zu öffnen. Tschaikowsky hat kaum ein halbes Dutzend Opern geschrieben; sehr wenig, wenn man seine enorme Fruchtbar keit auf dem Gebiete der Symphonie, der Kammermusik, des Liedes und des Clavierstückes dagegen hält. Für die Auf führung der „Jolanthe“ sprach der Vorgang anderer deutscher Bühnen und die frühere Beliebtheit der Hertz’schen Dichtung. Zwei

große Opern: „Der Opritschnik“ (nach einer Tragödie von Lajetschnikow) und „Wakula, der Schmied“ (nach einem Märchen von Gogol) haben selbst in Petersburg nur ein kurzes Leben gefristet; für deutsche Bühnen macht schon ihr Stoff sie unmöglich. Auch eine Einbürgerung von Tschai kowsky’s „Pique-Dame“ auf deutschen Bühnen wird durch das Textbuch sehr erschwert. Der Stoff, einer sehr wunderlichen Novelle von Puschkin entnommen, ist durch die Opern-Bearbeitung noch unverständlicher und gewaltsamer geworden. Das ist sehr zu bedauern, denn die Musik zur Pique-Dame“ enthält große Schönheiten und ungleich mehr dramatisches Leben, als Jolanthe. Ein Vierteljahrhundert vor Tschaikowsky hat Halévy den selben, von Scribe bearbeiteten Stoff componirt für die Pariser Komische Oper. „La Dame de pique“ hatte jedoch keinen Erfolg und verschwand nach wenigen Aufführungen. Was von den hier noch unbekannten Bühnenwerken Tschaikowsky’s die meiste Aussicht auf Erfolg hätte, das sind seine Ballette: Nußknacker“, „Der Schwanensee“ und vor Allem das reizvolle, graziöse Tanzmärchen „Dornröschen“.

Die Wiener Aufführung und Ausstattung der neuen Oper verdient das wärmste Lob. Fräulein Selma Kurz besitzt für die Jolanthe die richtige Gestalt, Stimme und Vor tragsweise. Das nicht leichte schauspielerische Problem, die Blindheit des Mädchens unverkennbar anzudeuten, ohne sie störend vorzudrängen, löst sie mit feinem Verständniß. Fräulein Kurz wird vortrefflich unterstützt von den Herren Naval (Tristan), Demuth (Robert), Neidl (Ebn- Jahia) und Hesch (König René). Nur allzu gebrechlich und greisenhaft wollte uns Letzterer erscheinen in Maske und Bewegung. Wenn man so aussieht, hat man schwerlich ein sechzehnjähriges Töchterlein und geht auch nicht mehr auf die Jagd. Die kleineren Frauenrollen, welche in dem Ensemble der ersten Scenen tüchtige musikalische Sicherheit erfordern, werden von den Damen Rellé, Pohlner und Kusmitsch tadellos durchgeführt. Dem vom Director Mahler geleiteten Orchester bot die Tschaikowsky’sche Partitur eine lohnende, hier glänzend gelöste Aufgabe.