Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12994. Wien, Mittwoch, den 5. September 1900 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12994. Wien, Mittwoch, den 5. September 1900 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 05.09.1900
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Ein neues Buch von Saint-Saëns.

Ed. H. Unter dem Titel „Portraits et Sou venirs“ veröffentlicht soeben Camille Saint-Saëns eine neue Sammlung seiner musikalischen Feuilletons. Willkommen jedes Buch, worin ein erfahrener geistreicher Componist seine Ansichten über Musik und Musiker entwickelt. Wer könnte uns besser einführen in Werth und Eigenart der Compo sitionen, insbesondere seines Vaterlandes und seiner Zeit? Wenn nur im Kritiker-Componisten die beiden Hälften nicht so schwer zu trennen wären! Der selbstschaffende Künstler geräth beim Kritisiren nur zu oft in eine Verlegenheit, die uns Andere nicht behelligt. Wird der Componist einer erfolgreichen Oper oder Symphonie einen ganz aufrichtigen Lobredner in einem Collegen finden, von dem Tags zuvor eine Oper oder Symphonie durchgefallen ist? Oder hat ein mittelmäßiger Componist unbarmherzigen Tadel zu fürchten von seinem kritisirenden Collegen? Die Pariser Kritiker haben, so weit meine Kenntniß reicht, fast immer die echt französische Tugend der Höflichkeit als oberste Pflicht empfunden. Damit machen sie sich das Kritisiren leicht und angenehm — auch leicht und angenehm dem Kritisirten. Es ist dies weniger persönlich Milde als nationales Gewohnheitsrecht. Hector Berlioz, der Mann mit der Tendenz und dem Charakter kopf eines Revolutionärs, hat als ständiger Kritiker des Journal des Débats“ Compositionen, die ihm doch per sönlich langweilig oder widerwärtig waren, erstaunlich milde besprochen. „Glauben Sie kein Wort von dem, was ich Lobendes über die neue Oper des N. N. geschrieben!“ beschwört er seinen Freund H. Ferrand. Die Schönfärberei galt — wenigstens bis vor Kurzem — als eine nationale Institution der Pariser Musikkritik. „Wie konnten Sie,“ fragte ich einst einen berühmten Pariser Kritiker, „so liebens würdig über die gestrige elende Leistung des Tenoristen N. N. schreiben?“ — „Mais, il n’était pas tout-à-fait sans mé rite,“ lautete die Antwort. — „Aber was werden Sie thun,

wenn er nächstens noch abscheulicher singt und spielt?“ — „Alors, on se fait,“ lautete die Antwort. Dieses „Dann schweigt man“ war die letzte Ausflucht — liebenswürdig, aber nicht un bedenklich. In neuester Zeit scheint sich Paris doch allmälig von dieser nationalen Schmeichel- und Heuchelkritik zu emancipiren, und ich konnte in meinem Bericht über die Wiener Orchesterconcerte der Herren d’Olonne und Anderer mit großer Genugthuung die sehr ungeschminkten Urtheile zweier Pariser Kritiker ersten Ranges, A. Pouget und O. Fouque, über ihre jungen Landsleute citiren. Das sind freilich Kritiker, die nicht selbst componiren. Wie aber sollen sich z. B. die Herren E. Reyer, Bruneau, Joncières heraus helfen in ihren Besprechungen der distonirenden Sängerin A. oder des stimmlosen Tenors B., welche eben die Haupt partien in einer neuen Oper von Reyer, Bruneau oder Joncières studiren? Sie darf man doch um Himmelswillen nicht reizen!

Saint-Saëns, in seiner Doppelstellung als Componist und Kritiker, befindet sich nicht in dieser Zwangslage. Er kritisirt nicht regelmäßig, sondern nur, wann und was ihm beliebt. Also über keinen Componisten und keine Composi tion, die er mit gutem Gewissen tadeln müßte. Keineswegs verhehlt er deßhalb seine Antipathie gegen die neueste Wagner’sche Schule im Allgemeinen. Im Vorwort erinnert er an sein früheres „Harmonie et Melodie“ betiteltes Buch. „Sollte man nicht glauben,“ ruft er aus, „daß seitdem ein Jahrhundert verflossen sei? Harmonie bedeutete da mals Wissenschaft, Melodie Inspiration. Die Situation hat sich umgekehrt: Dilettanten, welche die geringste An strengung scheuen, um eine Musik zu verstehen, äußern jetzt eine Leidenschaft für das Dunkle und Unverständliche. Wenn ich ein Stück verstehe, sagen sie, so ist es schlecht; wenn ich es nicht verstehe, ist es gut. Sie sind empört, sobald die Instrumente im Orchester nicht wie vergiftete Ratten von allen Seiten gegen einander laufen; ein einfaches, natür liches Accompagnement begleiten sie mit verächtlichem Achsel zucken. Die Melodie, ehedem vergöttert, wird heute verachtet, und von Compositionen, welchen sie fehlt, behauptet man, sie sei darin „überall“. Welche Narrheit! Glücklicherweise ist das große Publicum naiv geblieben und kümmert sich wenig um Systeme, wenn man es nur zu interessiren weiß.“

In dem neuen Bande von Saint-Saëns finden wir weniger Polemik als in dem früheren. Hauptsächlich Er innerungen an einige ihm befreundete große Musiker und ein wenig allgemeine Kunstbetrachtung. Den Reigen der „Porträts“ eröffnet Berlioz, „dieses menschgewordene Paradoxon“. Ein Vorzug, den selbst seine heftigsten Gegner nicht anzutasten wagten, ist der Glanz und die Farbenpracht von Berlioz’ Instrumentation. Wenn hie und da sein Styl dunkel erscheint, sein Orchester ist es niemals. Es über fluthet von Licht. Da leitete ihn ein geheimnisvoller Instinct; seine Methode können wir und konnte er selbst nicht er klären. In seinem berühmten „Traité de l’instrumentationmischen sich in die leuchtendsten Wahrheiten und kostbarsten Lehren mitunter bedenkliche Paradoxa (zum Beispiel „die Clarinette ist ungeeignet für idyllischen Ausdruck“). BerliozBuch ist bei aller Bizarrerie wundervoll wie seine ganze Orchestrirung. Es hat eine ganze Generation herangebildet. Genial und paradox zugleich ist unter BerliozCompositionen vor Allem seine Romeo-Symphonie. Der Plan ist unerhört; nicht lyrisch, nicht dramatisch, nicht symphonisch — ein wenig von Allem. Dafür gab es nur Eine Entschuldigung: ein Meisterwerk zu schaffen, und das hat Berlioz gethan. Sein widerspruchsvoller Geist spukt auch in seiner Kritik. Trotz einzelner unbegreiflicher Urtheile bleibt Berlioz der erste musikalische Kritiker seiner Epoche. Und dennoch fehlte ihm die Grundlage der Kritik: die Kenntniß der Musikgeschichte. Für Berlioz, den Kritiker, war nichts entscheidend als die Befriedigung oder die Langweile, so er beim Anhören eines Musikstückes empfand. Die Vergangenheit existirte für ihn nicht. Zwei Dinge machten ihn trostlos: die Feindseligkeit der Großen Oper, welche seinen „Trojanern“ den „Romeo“ von Bellini vorzog, und die Gleichgiltigkeit der Conservatoriums-Concerte gegen seine Werke. Die Gunst des Publicums errang Berlioz erst am Ausgang seines Lebens, und zwar durch die naiv-ein fache Cantate „L’enfance du Christ“. Ganz mit Unrecht hat man Berlioz häufig für boshaft gehalten; er war im Gegentheil gut bis zur Schwachheit, dankbar für das kleinste Zeichen von Theilnahme. Woher stammte die Fabel von Berlioz’ Bosheit? Saint-Saëns antwortet mit einer bisher unbekannten merkwürdigen Enthüllung. Man hatte Berlioz

mit unversöhnlichem Haß verfolgt wegen eines im „Journal des Débats“ anonym erschienenen Artikels über Halévy. Nach Berlioz’ Tod nannte sich J. Janin selbst als den Verfasser jenes Aufsatzes. Er hätte es füglich früher thun können.

Franz Liszt und Anton Rubinstein bilden den Inhalt der folgenden Studien. Saint-Saëns liebt und be wundert diese beiden Künstler, die bei aller inneren Ver schiedenheit doch dasselbe Schicksal theilten, mit ihren Ton dichtungen weniger Ruhm zu ernten als mit ihrem Clavier spiel. Beide mußten die Strafe ihrer außerordentlichen per sönlichen Triumphe tragen. Wenn Saint-Saëns in Liszt und Rubinstein die unwiderstehlichsten aller Clavier-Virtuosen erblickt, so wird wol Niemand ihm widersprechen. In der Verherrlichung von Liszt’s Compositionen greift er hingegen zu hoch. Mit Saint-Saëns rühmen wir Liszt’s außer ordentliche Instrumentirungskunst, können ihm aber nicht folgen in der Bewunderung des „Melodienreichthum, der Liszt’s Compositionen mit verschwenderischer Ueppigkeit durchströmt“. Zum Schluß erwähnt Saint-Saëns selbst, wie oft man ihm seine Schwäche für Liszt’sche Musik vor geworfen habe, und bekennt, daß er wirklich nie ohne einige Besorgniß über Liszt schreibe. Allein die ersten „Symphoni schen Dichtungen“ hatten ihn nicht blos entzückt, sondern ihm zugleich den Weg gewiesen zu seinen eigenen so erfolgreichen Versuchen in derselben Richtung: „La danse macabre“ und Le rouet d’Omphale.“

Neben Liszt, dem Adler, glich Rubinstein dem Löwen. Man brauchte nur sein grimmig mächtiges Haupt zu be trachten und seine breiten, sammtweichen Tatzen. Merk würdig war sein erstes Auftreten in Paris. Kein Mensch wußte damals von ihm, und Rubinstein hatte die wag halsige Koketterie, ein Concert anzuzeigen, ohne die Unter stützung der Presse anzusuchen, und ohne mit einer Zeile sein Auftreten anzukündigen. Natürlich erschien kein einziger zahlender Zuhörer im Saale. Aber am nächsten Tag war Rubinstein berühmt und sein zweites Concert überfüllt. Mit Saint-Saëns schloß er bald innige Freundschaft. Die Beiden musicirten leidenschaftlich zusammen, einfach um zu musiciren, und sie bekamen nie genug. In einigen Concerten Rubin stein’s dirigirte Saint-Saëns das Orchester, ein andermal spielte dieser sein neuestes Clavierconcert, während Rubin

stein seinerseits den Tactstock führte. Rubinstein’s stärkster Ehrgeiz, als Operncomponist zu wirken, blieb in Paris un erfüllt. Sein Oratorium „Der Thurm von Babel“ fiel, elend aufgeführt, vollständig durch. Wenn Saint Saëns unter Rubinstein’s Opern den „Feramors“ entschieden be vorzugt, unter den Oratorien den „Thurm von Babel“, so erinnert er mich an meine ganz übereinstimmenden Be urtheilungen aus viel früherer Zeit.

So warm Saint-Saëns von Liszt und Rubinstein auch spricht, seinem Herzen am nächsten steht doch Gounod. Ihm widmet er den ausführlichsten seiner Essays. Die Stunde sei eigentlich noch nicht gekommen, meint er, für die volle Würdigung dieses großen Tondichters, auf den Frankreich später stolz sein werde. Die Zeit habe diesen an scheinend so einfachen, durchaus eigenartigen Componisten noch nicht an seinen rechten Platz gestellt. Anfangs ward er für einen Widerschein der alten Meister angesehen, bald der italienischen, bald der deutschen Schule zugeschrieben, während er thatsächlich kein anderes Vorbild gehabt, als sich selbst. In Gounod, dem Künstler, walten zwei Naturen: die christ liche und die heidnische, der Zögling des katholischen Priester seminars und der Pensionär der Akademie in Rom, der Apostel und der Troubadour. Manchmal, wie im „Faust“, streben diese beiden Naturen energisch gegen einander, manchmal gehen sie neben einander, wie in „Polyeuct“, zum Schaden beider Theile. Die Ulysses-Chöre, Sappho, Phile mon und Baucis zeigen uns den unverfälschten Heiden, die Oratorien und Messen den christlichen Mystiker.

Als Gounod nach einem (für die Kunst segensreichen) Schiffbruch als Priester sich für die musikalische Laufbahn entschied, war diese bereis ziemlich aussichtslos geworden. Die einzigen großen Concerte, die des Conservatoriums, blieben unzugänglich für neue Componisten; am ehesten hoffte Gounod bei der Komischen Oper anzukommen. Zu dieser Zeit hatte der zwölfjährige Saint-Saëns das Glück, bei seinem Verwandten, dem in Paris gefeierten Homöo pathen Hoffmann, die Bekanntschaft Gounod’s zu machen. Er fand in einer dieser Soiréen den 25jährigen Gounod umringt von einer Schaar anmuthiger Frauen, Clientinnen des Doctors und leidenschaftlichen Verehrerinnen des Musikers. Gounod sang in diesem Kreise Fragmente aus seiner kürzlich begonnenen komischen Oper. In diesem schüchternen Ver

suche gewahrte man bereits die Keime seiner Individualität: die Sorge für die Reinheit des Styls und die Wahrheit des Ausdrucks; Eigenschaften, die er später so schön ent wickelt hat. Der junge Componist erregte die Aufmerksamkeit der Viardot, welche ihm von Augier das Gedicht „Sapphoverschaffte und damit die Pforten der Großen Oper er öffnete. Seinen Lehrern am Conservatorium, dem nüchternen Reicher und dem wunderlichen Mystiker Lesneur, hatte Gounod nicht viel zu verdanken. Entscheidend für die Richtung seines Talents waren das Priester seminar, wo er die Kunst der Rede, der klaren schönen Diction gelernt, und der Salon der Viardot; nicht zu vergessen die Mitgift einer zwar begrenzten, aber klang vollen Tenorstimme, mit welcher ihn die Natur ausgestattet. Wäre der Ausspruch C. Bellaigue’s richtig, der Ausdruck sei die erste und wesentlichste Eigenschaft der Musik, so könnte nach Saint-Saëns’ Meinung keine Musik sich mit der Gounod’s messen. Das Streben nach Ausdruck be herrschte ihn überall; darum so wenig Noten in seiner Musik, so wenig überflüssiger Zierrath. Jede Note singt. Daher auch Gounod’s geringe Eignung für rein instrumen tale Musik. Trotz großer, echter Schönheiten haben „Sapphound „Ulysses“ keinen Erfolg errungen: für das große Publicum schien die Zukunft Gounod’s zweifelhaft, nicht so für die Kenner. „Ich glaube, Sie werden niemals etwas Schöneres schreiben!“ rief der entzückte Saint- Saëns aus. „Vielleicht doch,“ meinte Gounod mit einem Lächeln, in welchem schon etwas von dem künftigen Faust“ leuchtete. Vorher hatte er noch das Unglück oder die Unvorsichtigkeit, Germain Delavigne’s Operntext „La nonne sanglante“ für die Große Oper zu componiren. Bereits hatten Meyerbeer und Halévy, einen Augenblick verführt von dieser Dichtung, sie wieder zurück gelegt, desgleichen Berlioz, welcher schon zwei Acte davon componirt hatte. „Die blutende NonneGounod’s erlebte nur zwölf Aufführungen. Mit gespannter Neugierde hatte man da Werk erwartet. Wenn es keinen Erfolg erringt, hieß es, so ist Gounod verloren. Das war allerdings nicht der Fall, aber sein Horizont verfinsterte sich. Er erstrahlte bald in doppeltem Glanze: „Faust“!

Noch ist eine kleine Arbeit Gounod’s zu erwähnen, so wenig Werth er selbst darauf legte: seine berühmte Trans

scription des C-dur-Präludiums aus dem „Wohltemperirten Clavier“ von S. Bach. Anfangs, als Saint-Saëns das Stück zum erstenmale hörte, war kaum zu vermuthen, was es unter dem verderblichen Einfluß des Erfolges bald werden sollte. Man setzte zu der vom Clavier begleiteten Violin stimme ein Harmonium, der Geiger steigerte die fromme Begleitung zur Hysterie; dann wuchs die Instrumentalpartie noch convulsivischer empor, wurde zum Gesangstück. Für die Damen wurde es Mode, nach dem zweiten Crescendo in Ohnmacht zu fallen. Man ging noch immer weiter, ver mehrte die Zahl der Ausführenden, fügte ein Orchester dazu mit großer Trommel und Becken! Der himmlische Frosch blähte sich auf, schwoll immer mehr und mehr, platzte aber nicht, sondern wurde dicker als ein Ochse. Das Publicum raste entzückt vor diesem Ungethüm, das jedoch die unschätz bare Wirkung übte, für immer das Eis zu brechen zwischen dem Componisten und dem bislang mißtrauisch zögernden Publicum.

Die über ganz Europa sich schnell verbreitenden Er folge von „Faust“ und „Romeo“ sind bekannt. Außer einigen Zwischenfällen bei den Proben erzählt uns Saint-Saëns nichts Neues darüber. Mit Gounod’s letzter Oper „Polyeuctschloß seine Laufbahn in nicht glücklicher Weise. Als Saint- Saëns zuerst den Chor der Heiden und die darauffolgende Barcarole hörte, sagte er zu Gounod: „Aber, wenn Sie das Heidenthum so verführerisch darstellen, welche Figur wird dann das Christenthum spielen?“ Ja, entgegnete Gounod, ich kann jenem doch nicht seine Waffen rauben! Saint-Saëns’ Besorgniß erfüllte sich; die Heiden siegten bei der Aufführung über die Christen, welche langweilig er schienen. Die furchtbarsten Verbrechen interessiren auf der Bühne, nicht so die göttliche Liebe.

Den geistlichen Compositionen Gounod’s widmet Saint- Saëns eine eingehende, begeisterte Schilderung. Sie schließt mit dem befremdenden Ausspruch: „Wenn die Opern Gounod’s für immer im Staub der Bibliotheken vermodert sind, werden seine Messen und Oratorien noch aufrecht stehen und künftigen Generationen die Größe Gounod’s offenbaren.“ Ich möchte eher das Gegentheil glauben. Neben den zweifellos sterblichen Opern Gounod’s erscheinen mir seine geistlichen Musiken heute schon rettungslos verstorben.