Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 12974. Wien, Samstag, den 6. October 1900 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 12974. Wien, Samstag, den 6. October 1900 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 06.10.1900
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Hofoperntheater. („Cosi fan tutte“ [So machen es Alle] von Mozart.)

Ed. H. Ausnahmsweise will heute das Unterste zu oberst gekehrt sein: zuerst die Ausstattung und die Coulissen- Mechanik, sodann die Sänger und zuletzt die Oper selbst. Denn was die Neugierde des Publicums am meisten gereizt hat bei der gestrigen Aufführung der Mozart’schen Oper, das ist die sogenannte „Drehbühne“, eine Erfindung des ingeniösen Herrn Lautenschläger in München. Durch eine Drehung des Bühnenhintergrundes im Halbkreis soll das Verschieben oder Herabsenken der Coulissen beim Scenen wechsel vermieden und eine größere Ruhe und Einheit der Handlung erzielt werden. Wir hatten anfangs allzu san guinisch uns die „Drehbühne“ als ein Rettungsmittel für jene großen Schauspiele mit häufigem Scenenwechsel gedacht, welche, wie „Götz von Berlichingen“ oder die meisten Shakespeare-Stücke, in der Praxis erst bühnenfähig werden durch Umstellung und Weg lassung zahlreicher Scenen. Desgleichen für jene großen Opern, deren veraltete zweiactige Form in jedem Act häufigen Scenen wechsel nothwendig macht, wie Don Juan, Die Zauber flöte. Thatsächlich bleibt aber die „Drehbühne“ gerade der kleinen Spieloper vorbehalten, welche doch keine großen Zu rüstungen beansprucht. In der gestrigen Aufführung der neuscenirten Mozart’schen Oper hat das moderne Wunder sich als zweckmäßig bewährt und tadellos functionirt; ob es nothwendig gewesen für diese Oper, wagen wir nicht zu entscheiden.

Fahren wir fort in unserem Bericht. Also nach den Coulissen die Sänger, nach den leblosen Factoren die

lebendigen. Auch hier dieselbe umgekehrte Ordnung; die kleinste der Solopartien will zuerst genannt sein: das Kammermädchen Despina. Ehemals haben die Charton-Demeur, dann Minnie Hauck, zuletzt und ganz besonders Pauline Lucca die musikalisch karg bedachte Rolle zum überstrahlenden Lichtpunkt der ganzen Vorstellung gemacht. Jetzt sehen wir Frau Gut heil-Schoder ihnen mit Erfolg nacheifern. Es war mir nicht vergönnt, dem Gastspiel dieser Sängerin im Frühjahr beizuwohnen; aber die erfreuliche Einstimmigkeit der Wiener Kritik über das große Talent dieser bisher kaum dem Namen nach bekannten Sängerin erregten meine erwartungs frohe Neugierde. Freilich, die impetuose dramatische Kraft, welche ihrer Carmen und Nedda nachgerühmt ward, konnte in der Despina kaum durchschimmern; um so rühmlicher ihre Kunst, diese so ganz heterogene Aufgabe zu meistern. Sie singt und spielt die Rolle mit entzückender Laune und Gewandtheit, nur vielleicht gar zu unruhig und überladen mit Detail. Wie leicht und rasch lösen sich ihr die langen, redseligen Recitative vom Munde, diese Pein für die meisten deutschen Sängerinnen! Die beiden schnell verzweifelnden und schnell getrösteten Schwestern fanden in Frau Saville und Frau Hilger mann vorzüglich geschulte Sängerinnen. Insbesondere Frau Saville glänzte in der Rolle der Fiordiligi, die im anspruchs vollsten Bravourstyl einen Umfang von zwei Octaven und einer Terz umspannt. In den beiden Liebhaber-Rollen Fernando und Guglielmo erfreuen uns die Herren Naval und Demuth als Sänger und Schauspieler. Der Spötter Alfonso, der Einzige, welcher neben Despina etwas belebenden Sauerteig in die sentimentale Lyrik der beiden Liebespaare mischt, gewann durch Herrn Hesch’s discrete Komik. Die Darsteller schienen für einander wie geschaffen; das Werk will nirgends tief, es will überall frisch genommen sein, und so geschah es. Alles Lob gebührt dem von Director Mahler geleiteten, echt künstle risch dem Gesang sich unterordnenden Orchester. Alter Tradition getreu und im Interesse des raschen Flusses der Handlung begleitet Director Mahler die Secco-Recitative auf dem Clavier; die vom Orchester accompagnirten Ge sangsstücke hoben sich um so farbiger von dieser leichten Grun dirung ab.

Die Oper erzielte in ihrer neuen Ausstattung und Besetzung den glänzendsten Erfolg. Im Publicum herrschte jene glücklich zufriedene Stimmung, die sich selbst genügt; nicht denkt, nicht grübelt, nicht zweifelt. Hoffen wir, daß das von Mahler so wirksam erneuerte Werk mehr Wieder holungen erleben werde, als in früheren Jahrzehnten.

Vor etwa 30 Jahren berührte ich in diesem Blatte die zeitweilig immer wieder in Musikzeitungen auftauchende Frage: Warum gibt man nicht mehr „Cosi fan tutte“? Alle zehn oder fünfzehn Jahre fühlen denn auch die Opern- Directionen ein classisch Rühren und wagen wieder einmal den Versuch mit der Weibertreue. Bei der ersten Vor stellung geht Alles gut; es wird applaudirt, gerufen, gelobt, und im Zwischenacte versichert ein Nachbar den andern seines Entzückens über diese herrliche Musik. Aber selten geschieht es, daß einer dieser Lobredner das Bedürfniß fühlt, sich „Cosi san tutte“ ein zweites- oder gar drittesmal an zuhören. Nach wenigen Vorstellungen spielt dann die Oper vor leeren Bänken. Wir sind schuld, oder die Zeit ist es, daß viele, ehedem wirksame Partien in „Cosi fan tutteuns heute veraltet und formalistisch klingen. Aber eine andere tiefliegende Schuld ruht in dem Werke selbst und wurde gleich bei dessen Erscheinen, also vor 110 Jahren, aufs bestimmteste empfunden und ausgesprochen. In der That, gibt es einen dürftigeren Stoff für eine den Abend füllende Oper, als die Wette zweier Offi ciere, die Treue ihrer Bräute verkleidet zu erproben? Gibt es eine abgeschmacktere Zumuthung an den Köhlerglauben der Zuschauer, als die fortdauernde Blindheit der beiden Heldinnen, welche ihre Liebhaber, mit denen sie eine Viertel stunde zuvor noch gekost, nicht erkennen, ja ihr eigenes Kammermädchen unter einer Allongeperrücke ohneweiters für den Arzt, dann für den Notar halten? Da Ponte’s Original- Libretto ist geistlos und impertinent, weil es den beiden Männern gelingt, ihre Geliebten zu täuschen und binnen wenigen Stunden treulos zu machen. Um dem abzuhelfen, hat man später das Libretto dahin umgearbeitet, daß die beiden Schwestern rechtzeitig die Falle entdecken und, um ihre Liebhaber zu strafen, sich blos stellen, als ließen sie sich von den Fremdlingen berücken. Diese (von L. Schneider in Berlin herrührende) Bearbeitung wurde früher auch in Wien benützt. Auf den ersten Blick bestechend, ist sie nichtsdesto

weniger verfehlt, weil sie zu der musikalischen Charakteristik des zweiten Actes nicht paßt. Die Mädchen müssen jetzt nur affectiren, nur zum Scheine äußern, was Mozart’s Musik in vollem Ernste meint. Director Mahler hat wieder den Originaltext in sein Recht eingesetzt. War nun Mozart auch mehr als irgend Einer der Mann dazu, aus einer poetischen Wüste einen musikalischen Garten zu zaubern, so ist doch die Qualität des Librettos von unleugbarem Einfluß auf ihn gewesen. Unstreitig hat in „Cosi fan tutte“ die gezwungene Gemeinschaft mit dem Flachen, Unwitzigen und Herzlosen der Dichtung seine musikalische Schöpferkraft und Schaffens lust beeinflußt und unter ihre normale Höhe herabgerückt. Das betont doch selbst Otto Jahn in seiner classischen Mozart-Biographie. Damit soll weder der vollendeten Schönheit einzelner Nummern in dieser Oper etwas ge nommen werden, noch dem unvergleichlichen Hauch von An muth, der auf dem Ganzen ruht. Daß „Cosi fan tuttevon einem Ende zum anderen von Wohllaut und Grazie leuchtet, heißt nur mit anderen Worten sagen, daß sie Mozartisch ist. Sie ist dies in vollem Sinne (wenngleich nicht in der höchsten Steigerung) in den größeren Ensembles. Namentlich das erste Finale ist ein Gebilde von Meister hand, reizend in der Melodie, bescheiden und geistreich in der Begleitung, von treibender Lebendigkeit des Ausdrucks. Das kleine Quintett in F-dur und das Terzett „Soave sia il vente“ sind musikalische Blüthen von frühlingsmäßigem Duft und Schmelz. Neben den größeren Ensembles bilden die Arien und Duette den schwächeren Theil; viele davon sind conventionelle, concertmäßige Ausfüllung stereotyper Formen, sowol im pathetischen wie im Buffostyl. Der Erfolg von „Cosi fan tutte“ wäre wol heute noch gesichert, wenn der zweite Act sich nur auf der Höhe des ersten erhielte. Leider fällt er dramatisch wie musikalisch ab; wir erwarten nicht ohne Ungeduld den Schluß. In mancher Hinsicht läßt sich von der Musik zu „Cosi fan tutte“ behaupten, was von Cimarosa’s „Matrimonio segreto“ gesagt wurde: daß sie gleichmäßig Alles in Rosen wasser taucht. Wie köstlich müßten die oben genannten Gesangsstücke wirken, wenn sie von einer kräftig contrastirenden Nachbarschaft sich abhüben! Das Textbuch nöthigt aber die Musik, allzulange im Süßen, Weichlichen, anmuthig Spielenden zu verweilen; für Gegenstücke der Kraft und Größe hatte der Dichter in keiner Weise gesorgt.