Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 13014. Wien, Donnerstag, den 15. November 1900 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 13014. Wien, Donnerstag, den 15. November 1900 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 15.11.1900
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hofoperntheater. Der Bundschuh“, Oper in Einem Aufzug von Max Morold, Musik von Joseph Reiter.)

Ed. H. Keine Frage — die böse alte „Cavalleriabekommt jahraus jahrein noch immer Junge. Als sie vor zehn Jahren preisgeschmückt über sämmtliche europäischen Bühnen zog, wucherten unter ihren Tritten allerorten neue winzige Musiktragödien. Zuerst natürlich im Lande des Verismo: Italien schickte uns die Mala vita, Festa a marina, Tilda, A basso porto, Santa Lucia, um nur die bekanntesten zu nennen. Weit weniger entsprach die neue Richtung dem französischen Geschmack; Massenet brachte ihr nur seine „Navarraise“ als einziges Opfer. Seit einem Jahrhundert haben die Franzosen die einactige Oper mit Vorliebe gepflegt, wohlgemerkt als idyllisches oder kleinbürgerliches Lustspiel in der Opéra Comique. Das ist der rechte Platz für diese bescheidene Form. Der knappe Zuschnitt paßt nicht für die Tragödie, deren Charaktere einer tieferen Motivirung bedürfen. In Deutschland hingegen trieb das italienische Zweiglein desto üppigere Blüthen. Thürmt man all diese musikalischen Miniatur-Tragödien aufeinander: welch ein Haufen Un glück! Von „Mara“ und der „Rose von Pontevedra“ an

gefangen bis zu den unzähligen, die, ohne nach Wien zu gelangen, im deutschen Reich verdorben, gestorben sind! Die bessere deutsche Schulung konnte es doch nicht mit der Originalität und naturwüchsigen Energie der „Cavalleriaaufnehmen. Das jüngste Enkelkind der letzteren haben wir gestern kennen gelernt; den „Bundschuh“ von Joseph Reiter.

Wie schon der Titel verräth, bringt uns die neue Oper ein Stück deutschen Bauernkriegs aus dem sechzehnten Jahr hundert. Der Bundschuh war das Zeichen des Bauern standes in Deutschland, während der Stiefel zur adeligen Tracht gehörte. Damals machten die Bauern den Bundschuh zu ihrem Kriegs- und Wahrzeichen; theils trugen sie ihn als Feld zeichen vor sich her, theils abgebildet auf einer Fahne. Beim Aufziehen des Vorhangs sehen wir bewaffnete Bauern, trinkend, singend, kartenspielend auf dem Dorfplatz versammelt. Ein Vagabund, Hofmeyer, wird gefesselt hereingebracht. „Den Kerl, den haben wir ge fangen.“ „Wird gehangen!“ lautet der durch die ganze Oper mit Vorliebe wiederholte Reim. Einer der Bauernführer, Veit, nimmt sich jedoch des armen Teufels an, von dessen Verschmitztheit er sich Nutzen ver spricht. Die Lieblingskraftworte des Textbuches: „Busch klepper, Strauchdieb, lumpige Schneiderseel’, Tölpel, Schuft, Galgenstrick, Wicht, Gauch“, prasseln wie Hagel unaufhörlich nieder. Bald bringen die Bauern einen zweiten, weit kost bareren Fang: das schöne Burgfräulein Ehrengard. Nun tritt auch der Bauernführer und Held des Stückes, Hans Fuchs, in Action. Bisher sahen wir ihn nur abseits unter einem Baume sitzen, in die Bibel vertieft. „Die ganze Bibel hat er im Kopfe“, wie Meyerbeer’s Johann von Leyden, sein Doppelgänger. Aus seiner wüsten Umgebung erhebt er sich wie eine Lichtgestalt, ein Held voll Zartsinn und Edel muth. Der gefangenen Ehrengard löst er sofort die Fesseln, zum Verdruß seiner empörten Anhänger, welche gleich mit dem beliebten Hausmittel „Hängt sie, erschlagt

sie!“ zur Hand sind; Hans läßt sich aber nicht irremachen. In sanftem, „beinahe bittendem Tone“ erklärt er dem Fräulein die Lehre Jesu; er fragt sie, ob sie den Bauern die Bibel freigeben wolle und (was ihnen wahrscheinlich wichtiger) auch „Wasser und Wald, Weid’ und Haid’, Jagd und Fischerei“? Ehrengard wehrt mit muthiger Entschlossen heit alle diese Zumuthungen ab. „Du zartes Weib,“ er widert Hans, „wir wollen dich verschonen, du und die Deinen sollen ruhig leben.“ Die empörten Bauern schreien über Verrath, und schon streiten sich zwei der Heftigsten um die Führerschaft. Hans und Ehrengard stehen inmitten der drohend geschwungenen Aexte und Schwerter. Da tritt eine neue Gestalt auf die Scene, die alte Mutter Ulrike; ein Seitenstück zu den zwei berühmten unangenehmen Opern müttern Azucena und Fides, nur noch wilder und gefährlicher. „Was zauderst du?“ herrscht sie ihren Sohn an, „gib das Mädchen preis!“ Gern möchten die Burschen sofort zu greifen, benöthigte nicht der Textdichter noch eine Spanne Zeit zu dem unerläßlichen Duett zwischen Hans und Ehren gard. Er läßt zu dem Zwecke ein furchtbares Gewitter auf steigen, das die Unholde von der Bühne verjagt. „Sag’, bist du bös auf mich?“ lispelt mit komischer Naivetät die stolze Ehrengard. Im Gegentheil, Hans ist gar nicht „bös auf sie“, sondern sehr lieb. „Bleib’ unter uns,“ fleht er: „mit christlichem Verstand beglücken wir das deutsche Land!“ — „Komm’ du mit mir,“ erwidert Ehrengard, „mit dir will ich evangelisch leben!“ Hans ergreift ihre Hand und würde wahrscheinlich ihr um den Hals fallen, wäre nicht bereits für den versteckt lauschenden Bösewicht gesorgt, welcher rasch die alte Ulrike herbeiführt. Es kommt zu einer heftigen Scene zwischen ihr und Hans und den blutgierigen Bauern. „Wir wollen sie rädern, spießen!“ Hans kommt ihnen zuvor; er selbst ersticht ganz sanft und sachte Ehrengard, die er nicht mehr retten kann. Das Strafgericht ist nicht fern. Ein Vetter Ehrengard’s rückt mit einer starken Reiterschaar an, die Bauern zu belagern und zu beschießen. Hans stürmt

mit seinen Leuten muthig gegen den Feind. Er fällt der Erste im Kampf und wird sterbend neben die todte Ehren gard gebettet.

Das Textbuch ist geschickt entworfen und mit wirk samen Scenen ausgestattet. Der „Verismus“ der Dichtung sorgt dafür, daß es dem Componisten an packenden Ueber raschungen, Unthaten und Unglücksfällen nicht mangle, und das ist’s ohne Zweifel, was Herr Joseph Reiter zunächst gewünscht haben mag. Dieser Herr ist für den Kritiker keine bequeme Bekanntschaft. Von einer kleinen Partei enthusia stisch gepriesen, blieb er gleichwol dem großen Publicum so gut wie fremd. Unsere Liedertafeln und Männergesang- Vereine waren bislang die einzigen Bewahrer und Ver künder von Reiter’s Ruhm. Eine engere Gemeinde, welche politischer Parteifärbung nicht entbehrt, feiert ihn gern als großes musikalisches Genie; strengere Kritik nennt ihn lieber einen explosiven Dilettanten. Die Wahrheit liegt nicht ganz in der Mitte. Talent muß man ihm gewiß zusprechen; ein Talent freilich, das, nicht eminent schöpferisch, sich mehr decorativ und colorirend bethätigt. Wer von einer Opern musik nur dramatischen Affect, gesteigerte Declamation und Orchestertumult verlangt, wird beim „Bundschuh“ nicht leer ausgehen; anders, wer bedeutende musikalische Gedanken in stylvoller Fassung erwartet. Reiter gehört zur Wagner’schen Schule; das versteht sich heute von selbst, gerade wie der grüne Anstrich für unsere secessionistisch steifen Sessel und Tische. Auch die sehr dürftige melodische Erfindung gehört zu den Zeichen der Zeit, welche heute nur dem scharf und einseitig Charakteristischen nachstrebt. Am gelungensten dünkt uns die erste Hälfte der Oper. In den einleitenden Scenen, Bauern chor und Bauerntanz, malt der Componist so derb realistisch, wie Aehnliches kaum noch in der Oper vorgekommen. Man muß da seine Geschicklichkeit wie seinen Muth anerkennen. Von guter Wirkung sind auch die zwei Strophenlieder des Schneiders und des Läufers Hartmann. Originalität können wir ihnen zwar nicht nachrühmen (Erinnerungen an Beck messer und den Lehrjungen David werden wach), aber es ist

doch musikalisch geformter, derb natürlicher Gesang, wie er den Personen und der Situation entspricht. Entschieden schwächer scheint uns die durchaus sentimentale und pathetische zweite Hälfte der Oper, welche die ganze Strenge des „Musikdramas“ hervorkehrt. Hier beherrscht und unterjocht der Declamator überall den Musiker. Der Dialog zwischen Hans und Ehrengard (ein in der Knospe verkümmertes Liebes duett) legt sich zwar anfangs beschwichtigend auf die Fieber hitze des unmittelbar Vorangegangenen; doch bleibt der Componist uns hier das Beste schuldig. Lange Harfen- Areggien, die sich ja dem nothleidenden Lyriker zur rechten Zeit einstellen, tragen den nur allzu gewöhnlichen schwächlichen Gesang der beiden Liebesleute. Mit dem plötzlichen Dazwischentreten der alten Ulrike gewinnt wieder die gewaltsamste Uebertreibung die Vorherrschaft — das lärmt, pfeift und zischt, wie in einem Hexenkessel. Die kurze kriegerische Schlußscene erlischt im Lärm.

Reiter’s unleugbares Talent ist, wie ich glaube, auf falschem, gefährlichem Wege. Freilich, was mir als „falscher Weg“ erscheint, mag für ihn und für Jeden, der musikalisch erfindungsarm ist, der einzig richtige, einzig mögliche sein: die resignirte Unterwerfung des selbstständig musikalischen Schaffens unter die Herrschaft des Wortes und der bloßen Stimmungsmalerei. Reiter’s Compositions-Methode hängt sklavisch an dem späteren Wagner. Wer aber heute den Muth hat, blindlings Wagner nachzufolgen, der müßte in Wagnerschen Formeln Neues, Bedeutendes, Eigenes zu sagen wissen. Das ist’s, was ich im „Bundschuh“ so sehr vermisse. Vor lauter „dramatischer“ Ueberanstrengung kommt es zu keiner ehrlichen, gesunden Musik. In der Ouvertüre, wo der Com ponist, an keine Textworte gebunden, ganz frei schaltet, konnte er uns zeigen, ob ihm etwas musikalisch Selbst ständiges einfällt. Leider herrscht gerade in der Ouvertüre eine trostlose Armuth der Erfindung; dem brutalen Lärm, mit welchem das Stück auf uns hereinstürzt, folgt eine Art Andante religioso, ebenso alltäglich und armselig wie das vorangegangene Furioso. Wie stark Reiter auf die Geduld

seiner Hörer sündigt, zeigt beispielsweise der Schluß dieses Vorspieles, wo durch 50 Tacte (im Vierviertel-Tact „sehr gemessen“) dieselbe Phrase mit geringen Aenderungen ab gehaspelt wird. Der größte Nachdruck ist auf die Instru mentirung gelegt; mit den Singstimmen darben wir, vom Orchester werden wir überfüttert. Die alte Methode. Das Orchester klingt dumpf, überall wo es nicht mit Donner und Blitz wirthschaftet. Viel wirksamer sind die Chöre behandelt; hier helfen dem Opern-Componisten seine Er fahrungen im „Männergesang-Verein“. Hingegen stellt er an die Stimmen der drei Hauptpersonen wahrhaft mörderische Zumuthungen. Sie können sich in dem einactigen „Bund schuh“ ausgiebiger ruiniren, als in einer Meyerbeer’schen Oper.

Die Novität präsentirte sich dem Publicum in einer wahrhaft bewunderungswürdigen Aufführung. Die drei Hauptpartien fanden in Fräulein v. Mildenburg (Ehren gard), Frau Sedlmair (Ulrike) und Herrn Schmedes (Hans) treffliche Sänger und Darsteller. Jede dieser Rollen ist schwierig und anstrengend, keine dankbar. Der Theater zettel zählte außerdem ein ziemlich großes Personal auf; Rollen von kleinem Umfang und großer Verantwortlichkeit. Sie wurden alle sorgfältig gegeben, insbesondere konnten die Herren Breuer (Schneider), Grengg (Veit Weber) und Stehmann (Hartmann) sich hervorthun. Herrn Director Mahler gebührt das größte Lob nicht blos für die brillante Leistung des Orchesters, sondern auch für das reichbewegte, realistische Scenenbild. Auf den anhaltenden Beifall am Schluß der Oper mußten die Sänger und die Autoren Morold und Reiter wiederholt dankend er scheinen. Wir hoffen eine gute Wirkung dieses Erfolges auf den Componisten, dessen Talent sich gewiß noch läutern und vertiefen wird. Was den Dichter betrifft, dem die gute oder bessere Hälfte des Beifalls zukommt, so wird er sich gegen den Ansturm junger Opern-Componisten zu wehren haben.