Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 13073. Wien, Dienstag, den 15. Januar 1901 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 13073. Wien, Dienstag, den 15. Januar 1901 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 15.01.1901
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Musik. (Fünftes Philharmonie-Concert.)

Ed. H. Die versprochene Eröffnungsnummer, C. M. Weber’s „Overtura Chinesa“ (später als „Turandotumgetauft), war plötzlich abgesetzt. Schade. Wer hatte auf diese hier unbekannt gebliebene Composition Weber’s sich nicht gefreut! Beinahe hundert Jahre alt, wird sie gerade jetzt wieder jung: ein Stück actuellster Politik in den chine sischen Wirren. Zu Anfang blos Trommel und Piccolo, als Ankündigung einer wunderlich monotonen chinesischen Original- Melodie von vierzehn Tacten, musikalisches Zopfwiegen und Zopfschütteln. Hierauf Triangel, Becken, große Trommel, die ein lustig siegesfrohes Spectakel vollführen. Passionirte Zeitungsleser — und wer wäre dies heute nicht? — hätten da leibhaftig unsere Truppen in Peking ein rücken gesehen, an ihrer Spitze hoch zu Roß den Grafen Waldersee. Sein grüner Federbusch war ja nicht zu verkennen. Aber die kurze Weber’sche Ouvertüre mußte fallen, damit die sehr corpulente Manfred-Symphonie von Tschaikowsky mehr Luft bekomme. Vielleicht begegnen wir der wilden Komik dieser chinesischen Ouvertüre doch noch im Concertsaale, bevor Peking geräumt wird. Nachdem also dem Programm nach chinesischem Muster der Kopf abgesäbelt war, rückte Mendelssohn’s A-moll- Symphonie an die erste Stelle. Die liebenswürdige form schöne Tondichtung wurde entzückend vorgetragen: nur die Einleitung „Andante con moto“ (!) erschien mir

entschieden zu langsam. Doch ist über ein Tempo nachträg lich schwer zu richten und zu streiten. Musikalische Ge schwornengerichte müßten da aus dem Gedächtniß entscheiden. Das fehlte uns gerade noch! Bekanntlich verlangte Mendels sohn ausdrücklich, daß die einzelnen Sätze dieser Symphonie gleich aufeinander folgen sollen, ohne die gewöhnliche längere Unterbrechung. Offenbar war er seinerzeit durch allzu lange Pausen und allzu eifriges Schwätzen auf dieses Heilmittel verfallen, das leider auch seine Gefahr einschließt. Der Hörer hält an der Gewohnheit und dem Anspruch, zwischen den einzelnen Sätzen einer großen Symphonie sich zu sammeln, nachfühlend, nachsinnend; er empfindet das eilige „Attacca“ als eine unnöthige Anspannung. Mendelssohn hat diese Vorschrift auch weder bei seinen früheren Symphonien, noch bei der späteren in A-dur für zweckmäßig erachtet.

Was die große Novität des Concertes, Tschaikowsky’s Manfred-Symphonie, betrifft, so bekenne ich, daß ich mit einiger Befangenheit sie erwartet habe. Schumann’s Manfred ist mir so unabtrennbar eng ans Herz gewachsen, daß die Wahl desselben Stoffes mich gegen den jüngeren Componisten mit einer Regung von Eifersucht erfüllte. Wie Schumann’s Manfred das Drama von Byron Schritt vor Schritt begleitet, so folgt auch Tschaikowsky’s Symphonie ihm in gleicher Ordnung. Der erste Satz Tschaikowsky’s entspricht in seiner düsteren Verzweiflungsstimmung voll kommen der kürzer, tiefer und mächtiger gefaßten Ouvertüre Schumann’s. Der zweite Satz bringt die „Alpensee“, der auch Schumann ein selbstständiges Orchesterstück von zauberi scher Schönheit widmet. Dem „Manfred in den Abruzzen“ entspricht bei Schumann nur der „Alpenkuhreigen“ und das idyllische Vorspiel in F-dur. Tschaikowsky’s Finale endlich schildert wie bei Schumann die Beschwörung der Astarte und Manfred’s Tod. Also die ganze Disposition dieselbe. Aber so wenig Byron’s „Manfred“ den so oft vorgebrachten Vergleich mit Goethe’s Faust verträgt, so wenig gebührt Tschaikowsky’s Manfred der Rang neben dem Schumannschen. Dieser packt uns mit einer Seelengewalt, die stark und geheimnißvoll nachzittert, so oft wir nur an ihn denken. Und nicht einmal der lebendig scenischen Darstellung bedarf diese Musik. Zuerst im Concertsaale bekam Wien den

Schumann’schen Manfred zu hören — Lewinsky sprach, Herbeck dirigirte den Manfred — und der Eindruck war so tief und erschütternd, daß die spätere Bühnenaufführung im Burgtheater ihn kaum zu steigern vermocht hat.

Nur scheinbar bin ich von Tschaikowsky’s Novität ab gewichen; es ist unmöglich, an Schumann’s Dichtung vorbei zukommen; unmöglich, nicht zu vergleichen. Kein Zweifel, daß Tschaikowsky den Schumann’schen Manfred gekannt hat, als er an denselben Stoff herantrat. Aber er war nicht der Mann, vor einer Rivalität mit Schumann zurück zutreten, über welchen er ja nach dem Zeugniß seines Freundes Laroche „kühler urtheilte“. Von modernen Tondichtern war nicht Schumann sein Ideal, sondern Berlioz , dessen Childe Harold“ auf Tschaikowsky’s Manfred-Symphonie un verkennbar und stark abgefärbt hat. Entscheidend für die Wahl gerade dieses Stoffes wirkte unbedingt der Byron- Cultus, welchen Tschaikowsky mit dem dichtenden und musi cirenden jungen Rußland theilte. Anton Rubinstein, der Gründer und Director des Petersburger Conservatoriums, pflegte Tschaikowsky, wie dieser selbst erzählt, „für seine Zuneigung zur neuen Richtung und für seine Versuche, in die Fußstapfen Berlioz’ und Wagner’s zu treten, gründlich die Leviten zu lesen“. Die Passion für Wagner währte nicht lange; fast schlug sie ins Gegentheil um, als Tschai kowsky in Bayreuth die Nibelungen hörte. Wie hat er als Berichterstatter sich abgequält, seiner Ueberzeugung treu zu bleiben und sie doch möglichst abzuschwächen und zu ver schleiern! Berlioz hingegen bewahrte er treue Verehrung; ohne den Childe Harold ist seine Manfred-Symphonie kaum denkbar. Nebst den französischen Elementen vermischen sich auch deutsche mit dem angeborenen russischen Musikgeist Tschaikowsky’s. Ausgedehnt und anspruchsvoll, wie kein zweites Werk dieses Tondichters, zählt doch der Manfred keineswegs zu seinen besten. „Was ungeheuer, ist darum nicht groß,“ sagt Grillparzer. Ungleich und brüchig sind auch die besten Tondichtungen Tschaikowsky’s — Eugen Onegin, die Pathetische Symphonie, die Orchester-Suite in G-dur — aber in ihnen behaupten musikalischer Reiz und naive Em pfindung siegreich die Oberhand. Nicht so in der Manfred- Symphonie. Das ist leider nebelhafte, ungesunde, psycho

logisch überreizte Musik. Unersättlich in dem Bestreben, Manfred’s Verzweiflung maßlos breit und nachdrücklich zu schildern, bewirkt der Componist schließlich, daß wir Zuhörer uns noch unglücklicher fühlen als sein Held. Nur selten huscht in diesem Nachtbild eine freundliche Gestalt auf, um rasch wieder zu verschwinden und den grauen Unholden wieder das Feld zu überlassen. Das aufmerksame und fein fühlige Publicum unserer Philharmonie-Concerte schenkte der lieblichen „Alpensee“ dankbaren Beifall, blieb aber kalt bei den übrigen Sätzen. In dem unaushaltbar langen Finale, mit seiner Schilderung des Höllenbacchanales sehen wir schließlich die Symphonie zu einer Höhe des Ungeschmacks gedeihen, welcher die aufrichtigsten Freunde Tschaikowsky’scher Musik kaum Stand halten können. Was uns allein in dieser trostlosen Musik wach und dankbar erhält, ist der Reiz der genialen Instrumentirung. Aber wie so oft bei den gleichen Zauberkünsten Berlioz drängt sich uns die Frage auf: Was wird denn eigentlich instrumentirt?

Tschaikowsky’s „Manfred“ ist vielleicht ganz nur zu verstehen, wenn man der seltsamen Erlebnisse sich erinnert, welche an der von Haus aus melancholischen Seele des Componisten rüttelten. Die Geschichte seiner so wunderlichen kurzen Ehe ist bei uns wenig bekannt und darf deßhalb einem ihm befreundeten englischen Schriftsteller wol nach erzählt werden. Im Jahre 1877 vermälte sich Tschaikowsky mit einem Fräulein, das er sechzehn oder siebzehn Jahre früher bei ihren Verwandten kennen gelernt hatte. Von dieser Heirat wußten nur sehr Wenige. Wie überrascht war die musikalische Welt nach Tschaikowsky’s Tod, in seinem Testament eine „Gattin Antonina“ mit einer mäßigen Sustentation bedacht zu finden! Man kannte Tschaikowsky als schüchtern, von fast krankhafter Abneigung gegen die Weiber. Seine Freunde riethen ihm, zu heiraten, allein er blieb nervös und zaghaft, selbst als Antonina ihm mit theilte, daß sie als Schülerin ins Conservatorium eintreten wolle. „Es wäre doch besser, wenn Sie heirateten!“ meinte Tschaikowsky und ging. Antonina, die ihn jahrelang heimlich geliebt hatte, entschloß sich, nach ausgiebigem Kirchenbesuch und Beichten, ihm zu schreiben und ihre Hand anzubieten. Er antwortete, und es schien dies seit ihrer Bekanntschaft seine glücklichste Zeit.

Doch machte er bald wieder Schwierigkeiten und wies auf sein Alter von fünfzig Jahren. Sie antwortete, daß neben ihm zu sitzen, ihn sprechen oder spielen zu hören, Alles sei, was sie wünsche. Wieder zögerte er und bat um einen Tag Aufschub. Dann erklärte er ihr, er habe nie geliebt; indessen, da sie das erste Mädchen sei, das ihm überhaupt gefallen, wolle er einen Vorschlag wagen. Wenn brüderliche Liebe und rein geschwisterliches Zusammenleben ihrem Ideal ent spräche, möge sie ihn heiraten. Nachdem dieser sonderbare Vorschlag in vollkommen ruhiger Weise durchsprochen war, schied er mit der Frage: „Also?“ Sie schlug ihre Arme um seinen Nacken, und er floh eiligst. Bei seinen Besuchen an den nächsten Nachmittagen vermied er aber jede Zärtlich keit; er küßte nur ihre Hand und verblieb bei dem gewohnten „Sie“. Nach einer Woche nahm er für einen Monat Urlaub, um seine Oper „Eugen Onegin“ zu beenden. Frau Tschai kowsky behauptet, dieses Werk sei von der Liebe dictirt und alles früher oder später von ihm Componirte kalt. Die Vermälung fand am 27. Juli 1877 statt, elf Tage nach Tschaikowsky’s Rückkehr nach Moskau. Die Folgen einer so wunderlichen Heirat waren vorauszusehen. Tschaikowsky’s krankhafte Nervosität nahm überhand, damit auch eine tiefe Abneigung gegen seine Frau. Was immer sie that, mißfiel ihm. Nach sechs Wochen war er des ehelichen Lebens über drüssig. Unter dem Vorwande, eine Wassercur im Kaukasus zu brauchen, reiste er zu seiner Schwester, welche ohne Zweifel ihm empfahl, zu seiner Frau zurückzukehren. Aber drei Wochen später, mitten im November, schützt er eine Ge schäftsreise vor. Ahnungslos begleitet seine Frau ihn zur Bahnstation. Hier verläßt ihn fast der Muth. Zitternd wie ein Trunkener nimmt er Abschied von ihr, umarmt sie wiederholt und stößt sie endlich mit dem Ausrufe „Gott be fohlen!“ von sich. Er hat sie nie wiedergesehen. Dem ehe lichen Leben abgeneigt, leichtgläubig wie ein Kind und äußerst reizbar, hatte er (vielleicht unter fremdem Zuthun) die Ueberzeugung gefaßt, es müsse die Ehe verhängnißvoll werden für seine künstlerische Laufbahn. Antonina war ohne Zweifel ein beklagenswerthes, unschuldiges Opfer; aber sie verstand das eigenthümliche Wesen ihres Gatten und hat sich niemals darüber beklagt.