Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 13087. Wien, Dienstag, den 29. Januar 1901 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 13087. Wien, Dienstag, den 29. Januar 1901 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 29.01.1901
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† Giuseppe Verdi.

Ein jeder Mensch, er sei auch wer er mag, Erlebt ein letztes Glück und einen letzten Tag.

Ed. H. Des Dichters Spruch erwahrt sich auch an Verdi. Sein letztes Glück (im Sinne von Triumph) erlebte er am 15. April 1893 bei der Aufführung seiner Oper Falstaff“ im Teatro Costanzi in Rom. Da sah ich den achtzigjährigen Meister in der Hofloge wie einen Souverän zwischen dem König Umberto und der Königin Margherita sitzend, von endlosem begeisterten Jubel des Volkes um braust. Alle Kehlen jauchzten, alle Herzen schlugen dem alten Herrn entgegen, der nie ein anderes Gefühl als das inniger Liebe, Verehrung und Dankbarkeit in seiner Nation erregt hat. Als ich dann, seiner freundlichen Einladung folgend, ihn im „Hôtel Quirinal“ besuchte, gedachte er flüchtig der so stillen ärmlichen Jugendzeit, die ihn seine späteren Glückstage nimmer mehr hätte träumen lassen. Er stimmte mir zu, daß Dante’s berühmtes Wort — es gebe keinen größeren Schmerz, als im Elend sich verflossenen Glücks zu erinnern — auch um gekehrt zutreffe. Denn ein höheres Glücksgefühl durch strömt uns, wenn wir in vollem Sonnenschein an über standene dunkle Zeiten zurückdenken. Verdi ist aus dürftigen, aussichtslos engen Verhältnissen langsam emporgekommen. Am 9. October 1813 in dem kleinen Nest Roncole (des ehemaligen Herzogthums Parma) geboren, konnte der junge Giuseppe, Sohn eines Schankwirthes, lange nicht auf eine Ausbildung seines früh aufkeimenden musikalischen Talentes

hoffen. Es ist bekannt, wie er in dem benachbarten Städtchen Busseto eine kleine Anstellung bei dem Liqueurfabrikanten Barezzi und durch diesen ein Stipendium zur Fortsetzung seiner Studien erhielt. Wie es dann seinen Gönnern gelang, ihn nach Mailand zu bringen, wo er von Basily , dem Director des berühmten Conservatoriums, als „talentlos“ zurückgewiesen wurde. Wie er endlich nach dem Durchfall seiner komischen Oper „Un giorno di regno“ vollkommen muthlos geworden, die Componistenlaufbahn für immer aufgeben wollte, bis ihn endlich der Impressario Merelli bewog, den von Otto Nicolai verworfenen Operntext Nabucco“ zu componiren. Mit der ersten Aufführung dieser Oper in Mailand (1842) war sein Glück gemacht, seine Laufbahn geebnet.

Durch „Nabucco“ (dem zum Courteau zugestutzten biblischen Helden Nebukadnezar) ist Verdi zuerst in Wien bekannt worden, wo noch in den Vierziger-Jahren eine regelmäßige italienische Opernsaison von drei Monaten be stand. Wenn man das damalige Wien als eine musikalisch halbitalienische Stadt bezeichnet, so sagt man eigentlich nur die Hälfte der Wahrheit. Die vormärzlichen Wiener haben auch die schwächsten, mitunter durchgefallensten Opern Verdi’s fröh lich verdaut, Jugendwerke, welchen zeitlebens das ganze Deutschland verschlossen blieb. Mit einer aus Schrecken und Langweile gemischten Empfindung denken wir an die Abende im Kärntnerthor-Theater zurück, wo Verdi’s „Nabucco“, Attila“, „I due Foscari“, „I Lombardi alla prima crociataherrschten, neben drei musikalischen Travestien von Schiller’s Räubern“ („I Masnadieri“) „Kabale und Liebe“ („Louisa Miller“) und der „Jungfrau von Orleans“ („Giovanna d’Arco“). Die beste, zugleich letzte Production aus Verdi’s erster, bis zum „Rigoletto“ reichender Periode war Ernani“ (1844); die einzige daraus, die auch außerhalb Italiens sich ziemlich lange erhalten hat. Verdi’s Landsleute hatten schon in seinen früheren Opern ein dem modernen italienischen Volksgeist entsprechendes neues Element ge wittert, das den Deutschen weder auffiel noch zusagte. Im „Ernani“, trat dieses Element zuerst greifbar und ausgebildet hervor; eine im Vergleiche zu Bellini, Rossini und Donizetti größere rhythmische Lebendigkeit und packende Kraft. Mochte auch diese Kraft- und Lebendigkeit

oft bis zur Rohheit übertrieben sein; immerhin war damit gegen die verschwommene Weichheit Bellini’s, gegen die tändelnde Eleganz Rossini’s und den dazwischen schwebenden Eklekticismus Donizetti’s derjenige Punkt getroffen, an dem die Musik dieser Componisten bereits zu welken begann. Ein halbwegs neuer und vortheilhafter Seitenweg war nach Donizetti nun einzuschlagen, indem man alles Gewaltsame, Leiden schaftliche, Materielle in dessen Musik steigerte, hingegen die bereits langweilende Wehmuth des bel canto noch weiter unterdrückte. Auch mußte das Orchester voller, der drama tische Ausdruck energischer, der Chor häufiger verwendet werden. In diesem Streben schlummerte unzweifelhaft die Ahnung eines Richtigen: die Weiterführung der italienischen Oper vom blos musikalischen Wohlklang zum Dramati schen. Mit dem „Ernani“ war Verdi die musikalische Hegemonie über sein führerloses Volk gesichert. Er siegte, ohne daß er nöthig gehabt, gegen einen ernsthaften Rivalen zu kämpfen. Seine Physiognomie ist in dieser Oper zum erstenmale ausgeprägt; Gutes und Schlimmes verbunden durch ein entschieden originelles Talent. „Ernani“ verbreitete sich über die halbe Welt.

Eine ansehnliche Perlenschnur von Mißerfolgen reihte sich nun für Verdi in kurzer Zeit aneinander. Erst sechs Jahre nach dem „Ernani“ erschien „ Rigoletto “ (1851) und rasch darauf „ Il Trovatore “ und „ La Tra viata “, das bekannteste und beliebteste Kleeblatt aus Verdi’s Garten. Vom „Rigoletto“ kann man eine neue Phase des Componisten, eine Transformation seines Styls datiren. So gewiß Verdi im Wesentlichen derselbe bleibt, es lassen sich doch zwei verschiedene Trachten an ihm unter scheiden: die streng nationale und die mehr kosmopolitische. Das Entscheidende des Ueberganges zu letzterer ist das Maß, in welchem Verdi französische Elemente in seine Musik aufnimmt. Nachdem er durch seinen „Ernani“ die Aufmerksamkeit des Auslandes auf sich gezogen, mußte er wol darauf bedacht sein, seine Herrschaft zu einer europäischen auszudehnen. Das Wesen der deutschen Musik existirt für die Italiener nur als dunkle Ahnung; die französische war demnach der einzige Quell, aus welchem sie zu ihrer süßen Cantabilität auch das Charakteristische, die Schärfte des Ausdrucks, die Bedeutsam

keit des Orchesters schöpfen konnten. Durch die Anlehnung an Meyerbeer in dem grellen Betonen des Dramatischen überhaupt und in unzähligen technischen Handgriffen hat sich Verdi von seinem bisher rein italienischen Styl ab sichtsvoll und erfolgreich entfernt. Im „ Rigoletto blitzt Verdi’s Talent mehr als Einmal glänzend auf, nicht blos als melodische, sondern als wirklich dramatische Kraft. Man denke an das durch breite Anlage und glücklichste Steigerung wirkende Quartett im letzten Act! Die nächste Oper Verdi’s „ Il Trovatore “ (Rom 1853) ist dem Rigoletto“ musikalisch nahe verwandt, aber reicher ausgestattet; die packenden Melodien und die dankbaren Nummern stehen dichter an einander. „Ernani“ und „Rigoletto“ sind den Dramen von Victor Hugo getreu nachgeformt; desgleichen „La Traviata“ der „Cameliendame“ des jüngeren Dumas. Am ersten Abend in Venedig durchgefallen, wurde die „Traviatabald eine der populärsten Opern Italiens und des Aus landes. Wie der „Trovatore“ die Verkörperung von Verdi’s Talent nach Seite des leidenschaftlichen, des packenden Effects ist, so bezeichnet die „Traviata“ dessen Höhepunkt nach Seite der tieferen und zarteren Empfindung hin. In Wien haben Künstlerinnen allerersten Ranges, Adelina Patti , Désirée Artôt , Marcella Sembrich , einen goldenen Schimmer gerade über diese Gestalt gebreitet.

In „Rigoletto“, „Trovatore“ und „La Traviata“, den drei Opern, welche Verdi’s zweite Periode charakteri siren, steht seine natürliche melodische Erfindungskraft so ziemlich im Gleichgewicht mit dem französischen Einfluß einer sorgfältigeren und raffinirteren Arbeit. Sie sind die beliebtesten von allen Opern Verdi’s, wol auch die effect vollsten, wenn ich auch für meinen Theil den minder erfolg reichen „ Ballo in maschera “ ihnen mindestens gleich stelle. Der zweite Act, in der Hütte der Wahrsagerin, zeigt Verdi’s melodiöse, wie seine dramatische Kraft in voller Frische. Der „Maskenball“ hat auch in vortrefflicher deutscher Aufführung sich als eine Lieblingsoper des Wiener Publicums erhalten. Mit dem Aufgebot aller seiner Kräfte schrieb Verdi die trostlos tra gische Oper „La forza del destino“, welche bei ihrer ersten Aufführung (in St. Petersburg 1862) einen kühlen Achtungserfolg und wenige Jahre darauf in Wien ein Fiasco erlebte. Schade um die zahlreich darin verstreuten

Schönheiten — das geradezu wüste, unverständliche Sujet untergräbt überall den Erfolg dieser Oper. In der gleichen Richtung hat Verdi noch einen großen Schritt weiter gethan: Don Carlo .“ Noch anspruchsvoller und mühsamer in der Ausführung, noch dürftiger und matter in der Erfindung als die „Macht des Schicksals“ hat das für die Pariser Große Oper geschriebene Werk (1867) sich nicht als lebensfähig erwiesen.

Wir haben Verdi Schritt für Schritt zu immer größerer Bedeutsamkeit des Dramatischen sich emporarbeiten sehen; immer sorgfältiger wird seine Arbeit, immer länger die Pause zwischen seinen Novitäten. Im Jahre 1869 erscheint seine „Aïda“ zuerst als Festvorstellung in Kairo. Ein merkwürdiges, echt künstlerisches, nach Verdi’s früheren Opern höchst überraschendes Werk, das auch in Wien mit Vorliebe gegeben und gehört wird. Ein Verdienst der Musik, nicht des Textbuches. Während einzelne hin reißende Melodien uns entzücken, drückt der fatalistisch düstere Charakter des Stoffes uns wie mit unsichtbarer Hand allmälig nieder. Die beiden Grundgebrechen, welche den Totaleffect der „Aïda“ schädigen, liegen vollständig im Textbuche: nach Innen die ununterbrochene Elegik der Handlung, nach Außen das egyptische Costüm, im weitesten Sinn des Wortes. In der „Aïda“ ist Verdi nach seinem Don Carlo“, bei gleicher künstlerischer Gewissenhaftigkeit, wieder zu größerer Einfachheit und ruhigerem Ausdruck zurückgekehrt. Losgesagt von allen äußerlichen Rücksichten folgt er hier nur seiner besten, geklärten Einsicht; er denkt nicht an den bloßen Tageserfolg, sondern an die „Unsterb lichkeit“, wie man schmeichelhaft die Aussicht nennt, daß ein Werk sich relativ lange erhalten werde.

Noch zwei neue Opern hat uns Verdi am Spätabend seines rastlos arbeitenden Lebens geschenkt : „ Otello “ (1887) und „ Falstaff “ (1893). „Otello“ unterscheidet sich merklich von Verdi’s älteren Werken und ganz außer ordentlich von dem Typus der früheren italienischen Oper. Entscheidend ist schon das (von Boito verfaßte) Textbuch, welches so treu als möglich sich dem Shakespeare’schen Original anschmiegt. Das Interesse des Componisten, sich auf eigene Faust musikalisch auszubreiten, wird darin vollständig dem dramatischen Fortgang untergeordnet. Noch strenger und methodischer geschieht dies im „Falstaff“. Nur wenige

Stücke im „Falstaff“ sind für abgerundete musikalische Form gedichtet. Der Gesammteindruck ist der einer sorgfältig aus gearbeiteten feinen und lebhaften Conversations-Musik. Die Musikgeschichte kennt kein Beispiel von einer solchen Bühnen schöpfung eines Achtzigjährigen.

Unverzeihlich wäre es, wollten wir, festgehalten, ja überwältigt von Verdi’s erstaunlicher dramatischer Pro duction, an zwei kirchlichen Compositionen des Meisters vorbeigehen. Ganz ohne Kirchenmusik ist noch kein italienischer Componist geschieden, selbst die welt lichsten, wie Rossini und Donizetti, haben der Kirche einen mäßigen musikalischen Tribut entrichtet. Sein Requiem hat Verdi in Wien selbst viermal dirigirt (im Juni 1875); eine edle, bei aller sinnlichen Schön heit fromme, wahrhaft religiöse Musik. Unser Publicum empfing das Werk mit ungewöhnlicher Wärme, und selbst geschworene Verdi-Gegner vereinigten sich in dem Aus rufe: Das hätten wir von Verdi nicht erwartet! In diesem Sinne bildet das Requiem ein Seitenstück zu „Aïda“. Und 23 Jahre später hörten wir staunend die „ Vier geistlichen Stücke “ (Stabat mater, Te Deum, Ave Maria und Laudi alla vergine Maria). Gewiß zählte es zu den größten, den schönsten Seltenheiten, daß ein 85jähriger Meister noch die Kraft und die Stim mung findet, Neues zu schaffen. Das hohe Alter Verdi’s ist’s aber nicht allein, weßhalb wir seine „Geist lichen Stücke“ bewundert haben; es dürfen viel Jüngere mit Neid darauf blicken. Wie schön empfunden fließt diese letzte Musik aus seiner Seele! Mit diesem süßen, seelen vollen Schwanengesang ist der beneidenswerthe Alte von uns geschieden.

Nach dem „letzten Glück“ ist ihm nun auch der „letzte Tag“ angebrochen. Nicht ohne tiefe Bewegung lesen wir von der erschütternden Theilnahme, mit welcher das ganze Volk Italiens, vom König bis herab zum letzten Arbeiter, nach dem letzten Atemzuge Verdi’s horchte und wie heute die ganze Stadt, das ganze Land Trauer anlegt, um den Mann, der nicht blos als Künstler hochberühmt, son dern ebenso sehr verehrt und geliebt war als edler Mensch, als treuer Freund und großmüthiger Wohlthäter im ganzen Lande.