Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 13369. Wien, Dienstag, den 12. November 1901 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 13369. Wien, Dienstag, den 12. November 1901 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 12.11.1901
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte. (Philharmonisches Concert. Oratorium „Saul“ von Händel.)

Ed. H. „Was für ein neues Unglück malen Sie denn jetzt?“ pflegte Schwind den Münchener Akademie- Director Piloty zu interpelliren, wenn er in dessen Atelier eine frisch aufgespannte große Leinwand erblickte. Beinahe wagten wir die gleiche Frage an Meister Dvořak, als dessen neues Orchesterstück „Das goldene Spinnraduns aus dem Programm der Philharmoniker entgegen glänzte. Hatte doch jede der drei vorangegangenen symphoni schen Dichtungen Dvořak’s irgend ein grausiges Unglück zum Gegenstande. In Nr. 1, dem „ Wassermann “, sehen wir einen Kobold dem eigenen Kinde den Kopf ab hauen und ihn der trostlosen Mutter zuschleudern; in Nr. 2, der „ Mittagshexe “, ein weibliches Ungeheuer, welches das unschuldige Kind einer Bäuerin erdrosselt: in Nr. 3, der „ Waldtaube “, hat eine ungetreue Gattin ihren Mann umgebracht und begeht dann in Verzweiflung einen Selbstmord. Und jetzt Nr. 4, „ Das goldene Spinn rad “? Da hantiert das unvermeidliche „Unglück“ etwas langsamer, umständlicher, aber nicht weniger haarsträubend. Auf einem Spazierritt durch den Wald verliebt sich der König in ein am Spinnrocken arbeitendes schönes Mädchen und will es heiraten. Aber die böse Stiefmutter, die ihre eigene Tochter dem König zu unterschieben beschließt, lockt die arglose Spinnerin in den Wald, haut ihr Hände und Fuße ab und sticht ihr die Augen aus. Ein wunderthätiger Greis findet den verstümmelten Leichnam. Durch das Geschenk eines goldenen Spinnrades weiß er die Stiefmutter zur Herausgabe der Hände, Füße und Augen der Ermordeten

zu bewegen, fügt dann die fehlenden Glieder säuberlich wieder an die Leiche, die sofort zu neuem Leben erwacht. Dem heimkehrenden König erzählt aber das goldene Spinn rad (das auch sprechen kann) haarklein die Ermordung und Wiederbelebung seiner Geliebten. Er findet sie nach langem Suchen im Walde und macht sie zu seiner Ge malin. Wir erfahren nicht, was aus der bösen Stiefmutter und ihrer mitschuldigen Tochter geworden. Schade. Eine kleine Hinrichtung zum Schluß hätte recht hübsch zu dem Uebrigen gepaßt.

Mit dem „Goldenen Spinnrad“ hat sich der Componist eine schwerere Aufgabe gesetzt, als in den früheren drei Märchen — ja eine unmögliche. Das Schnurren des Spinn rads, musikalischer Nachahmung zugänglich, wie das Wogen rauschen im „Wassermann“, mag den virtuosen Tonmaler zunächst verlockt haben — aber die Geschichte selbst? Sie führt zu viele Hauptpersonen vor und zerfällt in zu viele Theilhandlungen, um in Einem Symphoniesatz Raum und Erklärung zu finden. Was Dvořak hier dem musikalischen Ausdrucksvermögen zumuthet, vermag weder der Componist noch der Hörer zu leisten. Trotz der ausführlichen, dem Programm vorgedruckten Erklärung bleiben wir im Unklaren. Das Alles ist von Dvořak gewiß sehr interessant musicirt, aber schlecht erzählt. Immer hinkt man, das Programm vor Augen, der Composition voraus oder nach. Die Musik, auch die geistreichste, leidet immer darunter, wenn ein detaillirtes Programm die Freiheit des Hörers wie des Componisten vernichtet. Eine erzählende Gebrauchsanweisung wie die zum „Goldenen Spinnradwird zum Unheil für die Composition, weil sie mißver ständlich, nur leider unentbehrlich ist. Denn aus dem musikalischen Gedankengang des „Spinnrades“ lassen diese jähen Stimmungswechsel, Absprünge, Rückwendungen und verblüffenden Orchesterklänge sich nimmer erklären. Im Anfang geht Alles glatt und friedlich vor sich. In bequemem Trab, über endlos im Baß sich wiederholenden Staccato-Triolen reitet der König wohlgemuth seines Weges. Ein langsamer Uebergang leitet uns aus dem F-dur- Allegro in ein As-dur-Andante: aus dem Pferdegetrappel in das Schnurren eines Spinnrades, dessen Sextolen begleitung leider ebenso lange unbeweglich festsitzt wie früher die Triolen des Reiters. Die volksmäßige, nicht

eben originelle Melodie der Spinnerin mündet wieder in das zwischen Polka und Marsch schwankende Reitermotiv. Aber jetzt! Wie sollen wir aus der Musik die bösen Vor sätze der Stiefmutter verstehen, die an dem Mädchen ver übten Grausamkeiten mit erleben, den Zusammenhang von dem Allen errathen? Eine Menge „dramatisch“ zugespitzter, in Tempo und Tonart hastig wechselnder Zwischensätze stürzen über einander, Walzerthemen wechseln mit düsteren Larghettos — was bedeutet das Alles? Vergeblich stochern die Zuhörer in dem gedruckten Programm herum, um die Zeile zu finden, die sich mit den eben vorüberjagenden Tacten deckt — eitle Mühe! Endlich leitet ein „Grandioso“ überschriebener A-dur-Satz in das ritterliche Hauptthema, das, vom ganzen Orchester fortissimo hinausgejubelt, uns den glücklichen Ausgang verkündet. Das Gruseln ist überstanden.

Gegen Programme dieser Art sprechen nicht blos ästhe tische, sondern auch sehr praktische Bedenken. Wer kann sich für diese halb kindischen, halb widerwärtigen Spukgeschichten begeistern? Wie lange wird man trotz der geistvollen Musik sich dafür interessiren? Der erste Eindruck dieser Musik märchen mag bestricken, aber wir fürchten für die Dauer und Sicherheit ihrer Herrschaft. An Reiz und Reichthum der Erfindung steht das „Spinnrad“ überdies hinter den früheren Musikmärchen Dvořak’s zurück; es hat nicht die geistvolle Charakteristik des „Wassermann“, noch die ent zückende Lyrik der „Waldtaube“. Wahrlich. Dvořak hat es nicht nöthig, für seine Musik bei der Dichtkunst (und welcher „Dichtkunst“!) betteln zu gehen. Seine reiche musikalische Erfindung bedarf keiner Anleihe, keiner Krücke, keiner Ge brauchsanweisung. Drängt es ihn aber, zur Abwechslung, hinaus aus der wortlosen Instrumentalmusik zu realen Gestalten, dann steht ein weit offenes Thor einladend vor ihm: die Oper. Und hier können wir mit einem fröh lichen Ausblick schließen: Dvořak’s neue Oper „ Russalka “, welche kürzlich in Prag so begeistert aufgenommen worden, soll demnächst im Hofoperntheater zur Aufführung kommen. Da werden wir an rechter Stelle, auf eigenem Boden erblühen sehen, was Dvořak an dramatischer Charakteristik, an glänzender Farbenkunst sein Eigen nennt.

Regelmäßig wie die Jahreszeiten melden sich bei uns die großen Orchester-Aufführungen: Anfangs November die Phil

harmonischen, acht Tage darauf die Gesellschafts-Concerte. Letztere haben mit Händel’sSaul“ eine dankenswerthe Wahl getroffen. Obgleich nach Liszt’s Ausdruck „un peu demodé“, bleibt Händel uns doch unentbehrlich; überdies gestattet die große Zahl seiner Oratorien einen reichen Wechsel. Ehedem in Wien liebevoll gepflegt unter van Svieten und Mozart, wurde Händel seit hundert Jahren stark vernachlässigt. Erst der neuesten Zeit gebührt das Ver dienst, Händel wieder zu Ehren gebracht, ja mehrere seiner schönsten Oratorien gleichsam neu entdeckt zu haben. Im Jahre 1873 führt Brahms als Novität den „Saulauf, 1885 H. Richter die „ Theodora “, und 1889 den „ Josua “; 1899 hören wir unter Perger’s Leitung zum erstenmale die „ Deborah “. Nach zahlreichen halb geglückten, häufig auch mißglückten neuen Oratorien be gegnen sich die großen Chorvereine stets von neuem in der Erkenntnis: zu Händel müsse man doch immer wieder zurückgreifen. Die Armuth der neueren Oratorien- Literatur würde Händel den Vorrang erzwingen, thäte dies nicht seine eigene Größe. Seit Jahren sehen wir die neuesten Oratorien regelmäßig verschwinden, sobald sie die erste Neugierde befriedigt haben: Gounod’s Redemption“, Tinel’sFranciscus“, Massenet’s Eva“, „Die Seligkeiten“ von César Franck , „Lucifervon P. Benoit u. s. w. So erschien es denn weise, wieder an Händel’s „ Saul “ zu denken, dessen großer dramatischer Zug und eminent populärer Stoff seine Wirkung nirgends verfehlen kann. Das Textbuch, das, abgesehen von seiner ermüdenden Ausdehnung, ge schickt angelegt und nicht ohne poetische Empfindung aus geführt ist, behandelt bekanntlich die letzten Regierungs jahre König Saul’s. Die rührende Gestalt des jugendlichen Helden und Sängers David tritt hier in das Leben Saul’s, welcher dem Jüngling anfangs Freundschaft entgegenbringt, um ihn dann in Zorn und Eifersucht zu verfolgen. David entgeht dem Wurfspeer des Königs und stellt sich, nachdem Saul in der Schlacht gefallen, an die Spitze seines Volkes, das er zu neuem Glanz erhebt. Aus diesem historischen Bilde treten als leuchtende Nebenfiguren die beiden Kinder Saul’s, Jonathan und Michal, heraus. Eine andere handelnde

Person, die hochmüthige ältere Tochter des Königs, Meral, war für die Wiener Aufführung schon von Brahms gestrichen, der auch die ganze Ouvertüre (eine aus vier ziemlich unvermittelten Sätzen bestehende „Symphonie“) beseitigt hat. Trotz dieser und anderer Kürzungen dauert dieses Oratorium für ein Wiener Mittagsconcert noch immer lang genug. Je weniger man die Hörer mit allerlei gleichartigen und gleichgiltigen Arien ermüdet, desto frischer und dankbarer wird es die Höhenpunkte des Werkes auf nehmen. Man kennt die beiden blendendsten, gewaltigsten Scenen in „Saul“: das Siegesfest des ersten und die Leichenfeier des zweiten Actes mit dem Trauermarsch in C-dur — Schöpfungen, die Händel selbst kaum über troffen hat.

Der jüngsten Aufführung des „Saul“ gebührt auf richtiges Lob; zuerst, wie gewöhnlich, den Chören, dann den Solosängern Fräulein Walker und Herrn Naval , wie auch Frau Kury und Herrn Frauscher . Daß Händel den siegreichen Helden David einer Frauenstimme zutheilt, ist oft beklagt worden. Mit dieser Stimmen- Maskerade vermochte uns der kunstreiche Vortrag Fräulein Walker’s ebensowenig zu befreunden wie vordem die kraft vollere, ungleich wärmere Stimme von Caroline Bettel heim. Herr F. Löwe dirigirte die Aufführung mit ein dringendstem Verständniß und großer, nur allzu sichtlicher Hingebung. Sein Dirigenten-Talent fände gewiß noch freudigere Anerkennung, wenn es sich nicht fortwährend durch convulsivische Bewegungen des ganzen Körpers, auch des Kopfes, manifestiren wollte. Wagner’s „unsichtbares Orchester“ war nur für das Theater gedacht; im Concert würden wir uns manchmal mit dem unsichtbaren Dirigenten begnügen. Die Aufführung folgte der Bearbeitung Chry sander’s. Von ihm stammen wol auch die in keinem älteren Textbuche vorkommenden, an schlechte Colportage- Romane erinnernden Aufschriften einiger Gesangsnummern: Michel’s und David’s treue Liebe und Muth in der Ge fahr“, „Saul heuchelt versöhnliche Gesinnung gegen David“, „Die Wendung zum Untergang“, „Saul’s Verzweiflung und Ende“ und was solcher unnützer Geschmacklosigkeiten mehr sind.