Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 13500. Wien, Dienstag, den 25. März 1902 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 13500. Wien, Dienstag, den 25. März 1902 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 25.03.1902
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Geistliche Musik. („Maria Magdalena“ von J. Massenet . „Stabat mater“ von Rossini .)

Ed. H. Der Palmsonntag ist diesmal mit Massenet’s Oratorium „Maria Magdalena“ musikalisch gefeiert worden. Neu für Wien, ist das Werk doch schon an 30 Jahre alt. In Paris von allem Anfang mit großem Beifall begrüßt, hat es denselben sich bis heute bewahrt. Der geistvolle Musik kritiker Camillo Bellaigue schloß damals seine ein gehende Besprechung mit dem Satze: „Voilà ce que de nos jours la musique d’oratorio a produit de plus parfait.“ Er leugnet nicht die Kluft, welche Massenet’s Werk von den classischen Oratorien trennt. „Aber,“ fährt er fort, „ist die Kunst Bach’s und Händel’s Gott näher gestanden, als die unsere? Ich glaube es nicht. Gleichviel indessen. Genießen wir die verschiedenen Anschauungen und die wechselnden Schönheiten, welche der menschliche Geist in der Idee des Göttlichen entdeckt. Massenet’s „Maria

Magdalena“ ist vielleicht kein Werk des strengen Glaubens, wol aber — und das genügt — ein Werk der Poesie, der Ehrfurcht und der Liebe.“

Einen so starken, tiefen Eindruck wie auf die Pariser Hörer und Kritiker hat Massenet’s Oratorium auf uns keineswegs hervorgebracht. Daß es „kein Werk des strengen Glaubens“ ist, würde uns wenig anfechten, wäre es nur ein Werk von starker Ursprünglichkeit und genialer Kunst. Aber es will uns weder groß noch gewaltig erscheinen, noch besonders erfindungsreich. Zu den neu testamentlichen Oratorien Händel’s und Bach’s verhält es sich ungefähr wie das „Leben Jesu“ von Renan zu dem gleichnamigen Buche unseres Fr. David Strauß . An Renan mußte ich unwillkürlich mehr als einmal denken; sein Cultus der „nature idyllique et douce de Jésusklingt vernehmlich in Massenet’s Schilderung des Heilands wieder. „Maria Magdalena“ gehört zu jenen immer zahlreicher auftauchenden modernen Oratorien, welche uns die heiligen Gestalten und Geschichten der Bibel mehr von ihrer menschlich schönen, rührenden Seite zuwenden. Auch in Massenet’s Oratorium „Eva“, an das wir ohne Begeisterung zurückdenken, war es die idyllische Schilderung des Paradieses und des ersten Menschenpaares, was den Componisten so lebhaft anzog. Diesem Tonwerke ist „Maria Magdalena“ entschieden überlegen, sowol was den Stoff als dessen musikalische Ausgestaltung betrifft. Mit den gesungenen Liebes- und Ehestands-Dialogen zwischen Adam und Eva vermögen wir kaum mehr mitzu fühlen; seit den Tausenden von Jahren, da Eva den Apfel vom Baume der Erkenntniß gepflückt, haben wir selbst gar zu viele von diesen Aepfeln verspeist. Hingegen folgen wir dem rührenden Verkehr des Hei lands mit Maria Magdalena voll innigem Herzens antheil. Massenet hat den ihm so sympathischen Stoff durchwegs dramatisch gestaltet. Die störende Zwischenfigur des Erzählers oder Evangelisten fällt hier weg; sie hat noch in der „Eva“ die Reden des Herrn und der Eva substituiren müssen. Die meisten Scenen in Massenet’s Maria Magdalena“ bieten ein so lebensvolles plastisches

Bild, daß man dem Verlangen kaum wehren kann, sie auf einer Bühne mit den hier unersetzlichen Hilfsmitteln der Decoration und des Costüms zu schauen. Wie alle fran zösischen Componisten ist Massenet geborener Dramatiker. Nach der Oper hat die Magnetnadel des französischen Talents von jeher gezeigt. Massenet’s „ Manon “ und Werther “ stehen sehr, sehr hoch über seinen Oratorien. In „Maria Magdalena“ kann Massenet auch von theatra lischen Aeußerlichkeiten sich nicht frei machen; er gibt ge naue Anweisungen über die Scenerie und über das stumme Spiel der Personen. Wenn er vorschreibt, „Judas erscheint plötzlich unter der Menge und grüßt die Magdalena unter würfig“, oder „Jesus wendet sich zum Volke, auf die ver weinte Magdalena deutend“, so hat das Alles für eine Con certaufführung keinen Sinn. Darum schrieb Ernest Reyer, der Nestor der französischen Musikkritik, schon vor Jahren: „Wenn ich die beneidenswerthe Ehre hätte, eines unserer großen Operntheater zu leiten, würde ich den Autoren von Maria Magdalena“ vorschlagen, ihr geistliches Drama mit Decorationen und Costümen aufführen zu lassen. Nichts könnte die große Wirkung dieser Darstellung beeinträchtigen, außer etwa die Schlußscene auf Golgatha. Man müßte, um die Empfindlichkeit der Zuschauer zu schonen, blos die langen Schatten der drei Kreuze auf den Hintergrund projiciren, wie in dem berühmten Gemälde von Gérôme.“ Ein schöner Gedanke, der wol noch lange seiner Verwirk lichung entgegenharren wird, trotz der Vorbilder von Ober ammergau und der sehr durchsichtigen biblischen Scenen im „Parsifal“. Zur Stunde sieht das Publicum noch immer lieber einen stutzerhaften Christus in Frack und weißer Cravate als eine würdige Verkörperung des Heilands.

Für Massenet’s Talent, nebstbei auch für seine Zeit, ist die Wahl der Maria Magdalena zum Mittelpunkt eines Oratoriums bezeichnend. Ehedem besang man die Helden und Krieger, Samson und Judas Maccäbus, die Leiden oder Thaten Israel’s. Was uns heute anzieht, ist die Gestalt einer Frau, die Begegnung und der herzliche Verkehr der Sünderin mit dem Heiland. Selbst bei den

Frömmisten hat der Glaube im Lauf der Jahrhunderte sich leicht verschoben, er strömt mehr als sonst vom Herzen aus. Das hat Massenet wohl erfaßt und empfunden. Am nächsten Gounod verwandt, besitzt er dessen feine, etwas sinnliche Sentimentalität und damit die Herrschaft über die träumerischen, schwermüthigen Seelen. Man darf von ihm keine heroischen Accente starker Männlichkeit ver langen, keine Schilderung aufgeregter Volksmassen, kriege rischer Heldenthaten. So wurde denn seine „Maria Magdalena“ nicht eine Offenbarung genialer Kraft und Ursprünglichkeit, wol aber ein liebenswür diges, in seinen Grenzen sich bescheidendes Bild, das immerhin eine Bereicherung der neueren, ins Weltliche hinüberspielenden Oratorien-Literatur bedeutet. An An klagen von Seite der streng Kirchlichen wird es Massenet ebensowenig fehlen, wie es Rossini, Gounod und Verdi daran gefehlt hat. Die geistlichen Compositionen der Fran zosen und Italiener sollen wir aber nicht mit deutschem, am wenigsten mit dem nnorddeutschen Maßstab messen. Jede Nation hat wie ihr eigenes Temperament so ihre eigene Art des Cultus und der Religionsauffassung. In italienischen Kirchen hören wir heitere Opernmelodien auf der Orgel spielen — dort stören sie Niemanden. Hin gegen finden die Südländer deutsche Kirchenmusik, vollends Händel und Bach, ungenießbar, gemüthlos; sie löst ihnen keine Empfindung aus. Gehen wir voran mit dem guten Bei spiel der Duldsamkeit, und wo wir an der besten geistlichen Musik unserer Nachbarn das Geistliche unzulänglich finden — halten wir uns an die Musik.

In fast ängstlicher Scheu vor der Bezeichnung Ora torium nennt Massenet seine Maria Magdalena „un drame religieux“, wie er denn auch seine Eva „un Mystère“ und sein letztes Oratorium La vierge „une Légende sacrée“ betitelt. Möglichst bibelgetreu hat der Textdichter Louis Gallait die Scenen aus dem Neuen Testament zusammengerückt, in welchen Maria von Magdala die Hauptperson ist. Sie beherrscht, sie erfüllt das Ganze. Martha verschwindet neben ihr. Judas stört beinahe. Jesus allein glänzt an der Seite Magdalena’s

als Verkörperung der Frömmigkeit und des himmlischen Mitleids. Das Werk hat vier Theile. Der erste, beschreibend und malerisch, spielt bei untergehender Sonne in einer Landschaft nahe den Thoren der alten Stadt Magdala. Pharisäer, Schriftgelehrte, Weiber aus dem Volke gehen vorüber und rasten unter den Palmen. Eine süße Müdig keit erfüllt diese Scene und den F-dur-Chor „C’est l’heure du repos“. Maria von Magdala, die reuige Sünderin, welche den Namen ihres armseligen Städtchens in der Welt so berühmt gemacht hat, nähert sich zaghaft, schwermüthig. Das Volk verhöhnt sie mit dem Ruf: „Schande über dich!“ Zweimal ruft sie angstvoll nach Jesus; zum Schluß jedesmal mit einem starken Aufschwung von Leidenschaft. Wir er innern uns unwillkürlich, daß sie, nach den Vorstellungen ihrer Zeit, von sieben Dämonen besessen war, also von anscheinend unerklärbaren Nervenleiden. Jesus tritt auf, theilt mit gebietender Geberde die Menge und beschützt Magdalena, die sich ihm zu Füßen wirft. Er tilgt die Vergangenheit der Büßenden mit den tröstenden Worten: „Mein Vater vergibt dir, sein Name sei geheiligt.“ Der zweite Theil (oder „Act“, wie es im Textbuch heißt) führt uns in das Haus der Magdalena, wohin Jesus zu kommen versprochen. Die Schwester Martha streut Blumen und entzündet Spezereien; die bescheidene Wohnung ist in einen Tempel umgewandelt. Der moderne Geschmack ver langte hier auch musikalisch ein wenig Farbe. Jesus er scheint unhörbar auf der Schwelle und empfängt schweigend die Huldigung der beiden Frauen, deren anfangs ganz unbe gleiteten zweistimmigen Gesang später ein Violoncell ergänzt. Es folgt ein Duo zwischen Magdalena und Jesus, gewiß zu kühl für eine Oper und doch wol etwas zu warm für ein Oratorium; den Act beschließt ein Gebet Jesu mit seinen Jüngern, das uns an dieser Stelle nicht recht motivirt erscheint. Im dritten Theile, dem gelungensten wirksamsten des Oratoriums, befinden wir uns auf Gol gatha. Jesus ist an das Kreuz geheftet; Priester, Sol daten und Henkersknechte verhöhnen ihn mit dem Zurufe: „König der Juden!“ und erschweren so die Sterbestunde des für sie Betenden. Die Erscheinung des aus dem Grabe

Auferstandenen vor Maria Magdalena und den frommen Frauen in der Begräbnißhöhle bildet den Schluß des Oratoriums. Die schmerzerfüllte Klage (C-moll 6/8) Magdalena’s am Fuße des Kreuzes und ihr von Thränen erstickter Gesang im Grabgewölbe (A-moll, quasi una marcia funebra) sind von zarter, tiefer Empfindung und wol das Beste in dem ganzen Werke.

Das Oratorium war von einem überaus zahlreichen und dankbaren Auditorium besucht. So oft Massenet mit seiner ungezwungenen, natürlichen Liebenswürdigkeit nach allen Seiten hin dankte und mit der Hand grüßte, wiederholte sich die herzlichste Ovation. Die Aufführung, von Massenet selbst als ganz vortrefflich gerühmt, hat diese Anerkennung vollkommen verdient. Er konnte in der That sich kaum bessere Solosänger wünschen, als die Damen Kurz und Walker , die Herren Naval und Demuth . Desgleichen kein vollkommeneres Orchester und Chor-Ensemble als das unserer Hofoper.

Auf Massenet’s Oratorium folgte am nächsten Abend Rossini’sStabat mater“. Das Werk übte diesmal einen besonderen Reiz durch Mascagni als Dirigenten und die italienischen Sänger, welche eigens zu dieser Auf führung nach Wien gekommen waren. Die Composition selbst bedarf nicht mehr der kritischen Beleuchtung; man hat ob ihrer glänzenden Schönheiten sich längst und willig mit ihren Schwächen abgefunden. Rossini’s altes „Stabathat heute viel stärker gewirkt, als Tags vorher Massenet’s Maria Magdalena“ mit all ihrem Reiz der Neuheit. Ein streng rituales Kirchenstück, ist es von Rossini doch viel weltlicher componirt als Massenet’s religiöses Drama; weltlicher, aber musikalisch stärker, genialer, ideenreicher. In solchen Fällen wird immer die Kunst über die Kirche siegen. Das Bedürfniß der Kirchengläubigen ist ein anderes als das der Musikfreunde. Selten fallen die Beiden voll ständig zusammen. Wo dies nicht der Fall, da ziehen wir das musikalisch bedeutendere Werk dem blos kirchlich correcten vor. Ich glaube, Rossini’s „Stabat“ wird uns

noch lange erfreuen, wenn von Massenet’s Oratorien nur mehr ein flüchtiges Erinnern zurückgeblieben ist.

Wien kennt Rossini’s „Stabat“ seit 60 Jahren. Am 31. Mai 1842 wurde es zum erstenmale im großen Redoutensaale unter Donizetti’s Leitung von den ersten Gesangskräften unserer italienischen Sta gione gesungen. Unvergeßlich ist mir eine etwas spätere Aufführung geblieben, welche zu einem un erhörten Triumph Rossini’s erwuchs und zugleich zu einer trostlosen Niederlage — Joseph Haydn’s. In der Charwoche 1857 hatte der „Wiener Chorregenten-Verein“ eine geistliche Akademie im Theater an der Wien veran staltet, welche aus Haydn’s „Sieben Worte des Heilands am Kreuz“ und aus Rossini’s „Stabat“ bestand. Ersteres Oratorium wurde von sehr mittelmäßigen deutschen Sängern vorgetragen, gleich darauf das „Stabat“ von den ersten Gesangskräften der italienischen Oper. Die Folge war für das deutsche Oratorium ein kläglicher Durchfall, während das italienische unerhörten Enthusiasmus hervorrief. Wäre die Tonkunst ein Reich von dieser Welt, sie hätte nach jenem Concerte ihren deutschen Gesandten von Wien ab berufen müssen. So gefahrvolle Doppelaufführungen sind hier gottlob nicht mehr möglich; die italienischen Sänger sind seit 50 Jahren im Allgemeinen etwas schwächer, die deutschen besser geworden.

Die gestrige Aufführung war überaus gut besucht. Mascagni , stürmisch begrüßt, dirigirte mit dem ihm eigenen schönen Ernst und Feuer.

Die Solosänger waren keineswegs vom ersten Rang; wir sind in Wien an ein besseres Italien gewöhnt. Signora Pozzi mit ihrem vollen kräftigen Alt und Signora Migliardi mit ihrem dünnen spitzigen Sopran wett eiferten in tremolirendem, theatralisch affectirtem Vortrag, und der Tenorist Marconi strengte seine bereits etwas beschädigte Stimme zu fortwährendem Forte an. Erfreulicher war der Bassist Brancaleoni , der sein bescheideneres Organ durch maßvollen künstlerischen Vortrag zur besten Wirkung steigerte. Musikalischen Gemüthern von seinem Gehör wurde es am wohlsten, wenn unser vortreffliches Orchester sechzehn oder zwanzig Tacte allein zu spielen hatte.