Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 13755. Wien, Donnerstag, den 11. December 1902 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 13755. Wien, Donnerstag, den 11. December 1902 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max 11.12.1902
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Hofoperntheater. („ Pique-Dame “, Oper in fünf Acten von P. Tschaikowsky .)

Ed. H. Die dritte Oper, die wir von Tschaikowsky zu hören bekommen. Zuerst erschien „ Eugen Onegin “, das erfolgreichste und uns noch immer liebste seiner Bühnen stücke. Sodann die zarte, überzarte „ Jolanthe “, deren Blindheit das Urtheil nur allzu scharfsichtig machte für ihre Mängel. Und nun die „ Pique-Dame “, die letzte Arbeit (1891) des uns früh entrissenen Ton dichters. Sie ist der gleichnamigen Novelle von Puschkin nachgebildet. Man kennt die Pietät der russischen Com ponisten für die großen Dichter ihrer Nation; eine Pietät, die ihrem Herzen zur Ehre, aber nicht ihren Opern zum Vortheil gereicht. Tschaikowsky’s „Eugen Onegin“ und Pique-Dame“ sind Puschkin’schen Novellen nachgebildet; seine Oper „Wakula der Schmied“ einem Märchen von Gogol; sein „Opritschnik“ einer Tragödie von Lagetschnikow. Puschkin’s erste Dichtung „Ruslan und Ludmilla“ (1820) hat Glinka componirt; hier fand sich der Vater der russischen Dichtung mit dem Vater der russischen Musik zusammen. Auf Puschkin’schen Dichtungen sind Dargomijski’s Opern „Russalka“ und „Don Juanaufgebaut. Mussorgsky componirte Puschkin’s einziges großes Drama „Boris Gudonow“. Rubinstein’s auch in Wien gegebene Oper „Der Dämon“ entstammt einer Dichtung Lermontow’s. Bei allem Werth kranken diese Opern sämmtlich an ihren Textbüchern von so erlauchter Herkunft. Aus spannenden Romanen entstehen meistens schlechte Schauspiele, aus guten Schauspielen schlechte Opern. Deutsche Operncomponisten haben sich weislich von unseren

Classikern ferngehalten — geschah es aus Pietät oder aus Klugheit? Wol aus einer Verschmelzung von beiden. An die „Räuber“, „Kabale und Liebe“, „Maria Stuart“, Jungfrau von Orleans“, „Wallenstein“, „Egmont“, Clavigo“, „Nathan“ u. s. w. hat kein namhafter deutscher Operncomponist gerührt. (Spohr’s „Faust“, direct an das Volksbuch anlehnend, hat mit der Goethe’schen Dichtung nichts gemein als die beiden Figuren Faust und Mephisto.) Im Gegensatz zu uns zeigten die Italiener stets einen be sonderen Appetit nach Schiller’s Tragödien. An Verdi’s Luise Miller“ („Kabale und Liebe“) und seinen „Räu bern“ konnten sich seinerzeit die Wiener krank lachen. Auch Johanna d’Arc“, „Macbeth“, „Don Carlos“ und Aehn liches faßte Verdi als willkommene Beute.

Die Handlung von Tschaikowsky’s „Pique-Dame“ ist in Kürze folgende: Hermann, ein junger Officier, hört einige seiner Kameraden erzählen, die gemeinhin „Pique- Dame“ genannte alte Gräfin verdanke ihren Reichthum drei unfehlbaren Karten. In Lisa, die Enkelin der Gräfin, verliebt, weiß Hermann ein nächtliches Stelldichein in ihrem Zimmer zu erringen. Anstatt aber dahin zu gehen, dringt er sofort in das anstoßende Schlafgemach der eben vom Ball heimkehrenden alten Gräfin. Flehentlich bittet er sie um die Mittheilung des Geheimnisses der drei Karten. Als die Gräfin alles Drängens ungeachtet stumm bleibt, bedroht Hermann sie mit der Pistole. Der Schreck tödtet die alte Frau. Sie erscheint ihm in der folgenden Nacht als Gespenst und nennt ihm die geheimnißvollen Karten: Drei, Sieben und Aß. Er eilt zu Lisa, die ihn angstvoll erwartet, verläßt sie aber schnell und ungestüm, um am Spieltisch sein Glück zu erproben. Lisa stürzt sich verzweifelnd in die Newa. Hermann gewinnt auf die zwei ersten Karten riesige Summen. Bei dem dritten Einsatze verwandelt sich aber vor seinen Augen das Coeur- Aß in die Pique-Dame, und das Gespenst der Alten steht hohnlächelnd vor ihm. Hermann, der nun Alles verloren hat, ersticht sich am Spieltisch.

Hält man diesen farbenreichen Operntext ver gleichend an die äußerst dürftige Original-Novelle, so muß man die praktische Gestaltung des ersteren hoch an schlagen. Aus Puschkin’s knapper Erzählung eine drei actige Oper zu schaffen, erscheint dem ersten Blick fast

unmöglich. Dort handeln eigentlich nur zwei Personen, die eine beinahe so widerwärtig wie die andere: die alte Gräfin und Hermann. Erstere, eine achtzigjährige eitle Weltdame, tyrannisch gegen ihre Umgebung und ihre arme Pflege tochter Lisa, falsch und grausam noch als abgeschiedener Geist; Hermann, ein unbedeutender Lieutenant mit der einzigen Passion, durch Hazardspiel reich zu werden, nicht etwa um die ihm ziemlich gleichgiltige Lisa zu heiraten, sondern — wie es im Original heißt — „um seinen Ab schied zu nehmen, Reisen zu machen und in den Pariser Spiel sälen Fortuna ihren Schatz zu entreißen.“ Nicht um Lisa’s willen umlauert er unermüdlich das Haus, sondern um zur Gräfin einzudringen und ihr das Geheimniß der drei Karten ab zulocken. Auch der Ausgang der Geschichte ist bei Puschkin nicht so tragisch, wie in der Oper. Lisa heiratet einen liebenswürdigen jungen Staatsbeamten: Hermann vegetirt als Irrsinniger in einem Spital. Der Operntext bringt diese abstoßenden Charaktere uns merklich näher. Hermann ist von allem Anfang rasend verliebt in Lisa, die als Comtesse und Verlobte eines Fürsten Jeletzky ihm un nahbar erscheint. Der Fürst, ein liebenswürdiger edler Charakter, ist von dem Librettisten frei hinzugedichtet. Desgleichen der leider überhastete schrille Ausklang der Handlung: Lisa’s Selbstmord und der darauf folgende Hermann’s. Dort Unglück in der Liebe, hier Unglück im Spiel. — Daß der Librettist, Tschaikowsky’s Bruder Modest , nicht allzu modest gewesen in seiner Bearbeitung, verdient nur Anerkennung. Abgesehen von den nothwendigen Abänderungen, hat er zahlreiche Episoden-Figuren und Zwischenhandlungen hiezu erfunden, welche die Einfärbig keit der Handlung ein wenig coloriren: Strophenlieder, Frauenchöre, Männerchöre, Kinderchöre, Tänze — ja, ein vollständiges mythologisches Zwischenspiel bei dem Ballfest.

Die Musik zur „Pique-Dame“ ist in ihren besten Stücken eigenartig und interessant; mehr für musikalische Feinschmecker als für das große Publicum, das ein gutes Recht hat, in der Oper stärker bewegt zu werden. Die Oper verlangt kräftige Farben, mitunter Frescomalerei, während in der „Pique-Dame“ das Meiste nur mit Silber stift gezeichnet scheint, bestenfalls mit Wasserfarben. Daß die Glanzpunkte nur vereinzelt aufragen, bedrängt und umwuchert von episodischem Beiwerk, verschuldet der Text,

der, wie gesagt, den Erfolg der Composition verrammelt. Aber das Libretto ist keineswegs allein schuld. Müde und erschöpft, von Heimweh verzehrt, schrieb Tschaikowsky in Florenz die „Pique-Dame“ hastig in sechs Wochen nieder, zwölf Jahre nach seinem „Eugen Onegin“. Die enthusiastische Aufnahme, welche Moskau der ersten Aufführung der „Pique-Dame“ bereitete, galt weniger dem Werk, als der Persönlichkeit des Com ponisten, dessen fünfundzwanzigjähriges Künstler-Jubiläum mit dieser Première zusammenfiel. Bald darauf verschwand Pique-Dame“ vom Repertoire und hat nirgends auch nur annähernd die Wirkung von „Eugen Onegin“ erreicht. Hier wie in allen seinen größeren Werken erscheint Tschaikowsky ungleich; auf einfache, beinahe einfältige Strophenlieder und Tanzstücke folgen einzelne Blitze seines ganzen Talents. Ueberall bleibt er jedoch Er selbst, entlehnt nicht, copirt nicht, „ihm ist der Schnabel hold gewachsen“. Er citirt nicht Wagner, wie ich es eben gethan. Vielmehr hält er sich unberührt vom Wagnerismus, dem heute neun Zehntel unserer deutschen Componisten zum Opfer fallen, indem sie, ihre bescheidene Eigenart krampfhaft verdrängend, lieber wagnerisch zu Grunde gehen.

Die musikalisch hervorragenden Stücke der Oper sind bald aufgezählt. Im ersten Act eine ziemlich ausführliche Kinderbelustigung im Freien, munter, doch nicht originell; dann Tomsky’s Strophenlied von den drei Karten in schlichten, gut erzählendem, zuletzt gesteigerten Balladen ton. Wiederum folgen Scenen, die, mit der Handlung kaum verknüpft, durch schlichte melodiöse Musik ansprechen: das Frauenduett in G-dur, noch mehr der Chor von Lisa’s Gespielinnen: „He, Maschenka komm’ zur Linde“ mit seinem erfrischenden Volkston. Das nun folgende Liebes duett zwischen Lisa und Hermann, durch die überaus günstige Situation zum glänzenden Höhepunkt der Oper wie geschaffen, findet leider den Componisten matt und erfindungsarm. Im zweiten Act singt Lisa’s Bräu tigam, der Fürst, eine innig empfundene Romanze in Es-dur, mit welcher Herr Demuth den stärksten Beifall des Abends erntete. Hierauf entwickelt sich in größter Pracht und Weitschweifigkeit ein Ballet. Das nächste (vierte) „Bild“ führt uns in das Schlaf

zimmer der alten Gräfin. Ein äußerst stimmungsvolles Orchestervorspiel in Fis-moll, dessen unheimlich klopfende Sechzehntel-Figur sich über hundert Tacte fortspinnt, leitet den nur allzu redseligen Monolog der Gräfin ein, die sich ihre einstigen Triumphe zurückruft und mit einer zopfigen Romanze von Grétry illustrirt. Hermann’s leidenschaftliche Beschwörung „Haben Sie jemals die Liebe gekannt“ schmückt die aufregende Scene, die mit dem Tode der Gräfin endet. Der dritte und letzte Act spielt in Hermann’s Stube. Daß wir uns in der Kaserne befinden, sagt uns, geistreich anspielend, ein wiederholtes Trompetensignal, das sich von draußen in die düsteren Es-moll-Trauerklänge des Orchesters mischt. In der folgenden Scene findet Lisa ausdrucksvolle, leidenschaftliche Töne in ihrer Arie und dem Duett mit Hermann. Alles jedoch weit mehr dra matisch zugespitzt als musikalisch neu oder bedeutend. Auch von der Schlußscene am Spieltisch gilt dasselbe; ein Strophenlied Tomsky’s und ein heiterer Männerchor, an sich unbedeutend, haben nur die Aufgabe, die schauerliche Stimmung zu sänftigen, welche mit dem Eintritt des halb wahnsinnigen Hermann über uns Macht gewinnt.

Was neben einzelnen wirksamen Scenen die „Pique- Dame“ am meisten auszeichnet, ist die feine, oft überzarte, aber stets charakteristische Instrumentirung. Weniger be deutend und weniger reizvoll als „Eugen Onegin“ gilt uns doch die „Pique-Dame“ als eine willkommene, hoch interessante Gabe inmitten der gegenwärtigen Opernnoth. Director Mahler hat die Novität, die er selbst dirigirt, prachtvoll ausgestattet und glänzend besetzt. Orchester, Chöre und Ballet bieten vortreffliche Leistungen. Die weitläufige Balletscene, ja die ganze Oper krankt leider an dem Costüm. Für die Gesammtwirkung einer Oper ist das Costüm so wichtig, daß es den Eindruck der Dichtung wie der Musik fördern oder schädigen kann. Letzteres thut die „Pique-Dame“ durch die Tracht vom Aus gange des achtzehnten Jahrhunderts. Unter den wulstigen weißen Perrücken, welche gleichmäßig die blonden, schwarzen, grauen Köpfe aller Sänger und Sängerinnen bedecken, sehen sie Alle entsetzlich gleich aus. Nur mit einiger An strengung konnten wir die Meisten derselben (nicht Alle) erkennen. Dieses Costüm ist tödlich für den Eindruck

leidenschaftlicher Handlung und individueller Charakteristik. Lächerlicheres in einer ernsten Oper haben wir selten gesehen, als die Erscheinung der jungen Lisa mit ihrer ellenhohen gepuderten Frisur und dem Riesenfaß von Reifrock. Die Wirkung des Costüms färbt natürlich noch weiter ab, auf den Charakter der Musik. Bei der Lectüre des Text buches, wer freute sich nicht auf die Ballscenen des zweiten Actes, welche Leben und Fröhlichkeit in die düstere Schicksalstragödie hauchen würden! Was bekamen wir aber zu sehen und zu hören? Lauter langsame feierliche Tänze. Zuerst eine traurige Sarabande in D-dur, dann noch ein Menuett in E und ein endloses Intermezzo. „Die aufrichtige Schäferin“ von aufrichtigster Langweiligkeit. Chloë beginnt mit einem Larghetto „Ich habe Daphnis gern“; dieser antwortet ebenso feierlich; dann kommt Pluto in gravitätischem Menuettschritt hereinstolzirt, worauf das schäferliche Liebespaar, abermals im tempo larghetto, ver kündet: „Wir haben uns gefunden.“ Der Chor bestätigt in gleicher Gelassenheit: „Sie haben sich gefunden.“ So ist in der Oper leider die einzige Gelegenheit verpaßt, uns durch eine Tanzscene von lebendigem Rhythmus aus dem tragischen Lamento herauszuretten. Spät, aber um so lieber kehren wir von den Tänzern zu den Sängern zurück. Die Darsteller der Hauptrollen Frau Förster- Lauterer , Fräulein Kittel und Fräulein Petru , die Herren Schmedes , Demuth und Mantler lösten ihre Aufgaben mit großem Eifer und lohnendstem Erfolg. Das war ihnen wesentlich erleichtert durch die vortreffliche Bearbeitung des Textes durch unseren musik- und sprachgewaltigen Uebersetzer Max Kalbeck .

Auch die heutige Wiederholung der „Pique-Dameerfreute sich zahlreichen Besuches und lebhaften Beifalls. Neubesetzt war die Rolle Hermann’s mit Herrn Slezak , dessen klangvolle Stimme und musterhaft deutliche Aus sprache der Partie zu besonderem Vortheil gereichten. Fräulein Weidt als Lisa gefiel durch ihre jugendlich schöne Er scheinung und ihr angenehmes, nur in hoher Lage etwas angestrengtes Organ. Beide Künstler ernteten reichlichen Beifall, desgleichen Herr Demuth und Fräulein Kittel.