Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 13760. Wien, Dienstag, den 16. December 1902 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 13760. Wien, Dienstag, den 16. December 1902 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max 16.12.1902
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Ein Weihnachts-Mysterium“ von Ph. Wolfrum. (Erste Aufführung im Gesellschaftsconcert vom 13. December d. J.)

Ed. H. Es mag an dreißig Jahre her sein, daß ich Liszt unweit der Augustinerkirche begegnete, wo eben die Messe eines Wiener Dilettanten aufgeführt worden. „Nun, Meister, wie hat Ihnen die Composition gefallen?“ Liszt antwortete nach einigem Räuspern: „Nun ... hm ... Sie wissen ja, was für die Menschen zu schlecht ist, muß für den lieben Gott noch immer gut genug sein.“ Immer mußte ich an diesen grausam scharfen Ausspruch denken, so oft ich in der Kirche Messen oder Requiem hörte, welche niemals Einlaß in einen Concertsaal gefunden hätten. Kirchliche Andacht und ästhetische Andacht, das ist eben zweierlei. Kirchenmusik, wie sie, von irgend einem braven Regenschori oder Organisten componirt, ihren nächsten Zweck erfüllt, bietet den Vortheil, daß sie nie durchfallen kann. Freilich auch nicht trium phiren, wird doch in der Kirche ebensowenig applaudirt als gezischt. Letzteres am allerwenigsten, denn der fromme Beter, der die Composition nur als andächtig stimmende Tonwelle über sich rinnen läßt, theilt seine Aufmerksamkeit

zwischen ihr und seinem Gebetbuche. Er denkt an keine Kritik. Tondichtern von künstlerischem Ehrgeiz wird dieser stumme Erfolg selten genügen. Sie wollen aufmerksam, mit musikalischer, nicht blos mit kirchlicher Andacht gehört sein. Aus der Kirche streben sie hinüber nach dem Concertsaal. So ließen in unseren Tagen Rossini und Gounod ihre Messen, Berlioz und Verdi ihre Requien, Liszt seine Festmesse im Concertsaale auf führen; sie alle sind sogar damit herumgereist. Auch für unsere verstorbenen großen Meister zeigten sich die Musikvereine in gleicher Weise bemüht: Bach’s Hohe Messe, Beethoven’s Missa solemnis, Mozart’s Requiem, Schubert’s As-dur-Messe haben wir im Concertsaal gehört. Tondichter wie Zuhörer konnten dabei nur gewinnen, daß das musikalische Kunstwerk als solches, ohne alle liturgische Zuthat, frei und unbefangen genossen wurde. Es drängt uns dieser Zusammenhang gleich zu dem Wunsche, es möchte Mozart’s hier noch unbe kannte Große Messe in C-moll, welche zuerst in Dresden, dann in anderen, deutschen Hauptstädten die Musikfreunde erbaut hat, endlich auch in Wien , der Mozart-Stadt vor allen anderen zur Aufführung gelangen. Diese Messe, aus der besten Schaffenszeit des Meisters (1783), gehört un streitig zu seinen großartigsten Werken, ist jedoch, gleich dem Requiem, unvollendet geblieben. Der kürzlich ver storbene hochverdiente Dresdener Hofcapellmeister Alois Schmitt hat die Lücken mit anderen Mozart’schen Stücken ergänzt und so das Werk für alle Zeiten gerettet.

Wir gelangen endlich an unser Thema: Wolfrum’s Weihnachts-Mysterium.“ Nicht ohne guten Grund haben wir vorher eine Reihe von Oratorien genannt, die, un beschadet ihres religiösen Stoffes, nach dem weltlichen Concertsaal verlangen, weil ihr Ueberschuß an ästhetischer Bedeutung, an rein musikalischer Größe und Schönheit ein Auditorium von Musikfreunden anruft. In Wolfrum’s Oratorium erblicken wir das Gegentheil: es nimmt den Concertsaal in Anspruch, während es in die Kirche gehört. Herr Wolfrum, dessen Namen und Werke in Wien so gut

wie unbekannt geblieben, erfreut sich in Deutschland auf richtiger Hochschätzung als Lehrer, Dirigent und Kirchen componist. Auch das „Weihnachts-Mysterium“ gibt lautes Zeugniß für Wolfrum’s Kunstfertigkeit, sowie fromme Gesin nung. Weit schwächer dünkt uns seine productive Kraft, seine musikalische Erfindung. Diese scheint ihm vielleicht selbst etwas zweifelhaft, sonst griffe er nicht so emsig nach verschiedenen äußeren Hilfsmitteln. Wir meinen damit nicht blos die starke Benützung geistlicher Volksmelodien, sondern noch mehr, Herrn Wolfrum’s Absicht, das Werk nach Art der alten Mysterien dramatisch zu gestalten. Er plante dafür (wie sein Vorwort berichtet) „in einander gehende lebende Bilder: die Ankündigung des Engels Gabriel, Maria zum Lobsingen niederkniend; ferner in pantomimischer Behandlung die Hirten auf dem Felde, die Lichterscheinung, die Verkündigung des Engels, die Hirten nach Bethlehem eilend.“ In diesem Sinn und nicht etwa als eigentliches „Oratorium“ wollte er das Textbuch ausgestalten. Daß Herr Wolfrum diesen Plan nicht ausgeführt hat, können wir nur bedauern. Als lediglich erläuternde, colori rende Musik würde seine Composition einen harmonischen Eindruck erzielt haben, den sie für sich allein, als „Gnade ohne Bild“ nimmermehr erreicht. Der ursprünglichen Ab sicht des Componisten stellten sich, wie er uns mittheilt, praktische Bedenken entgegen. Wir hören also sein Weihnachts- Mysterium ohne die geplanten belebenden Illustrationen. Lediglich auf die musikalische Erfindung gestellt, wirkt es jedoch abspannend. Fromm, aber musikalisch eintönig und reizlos, weist dieses Werk mehr nach der Kirche als nach dem Concertsaal. Den classischen Ausspruch des Abbé Liszt möchte ich durchaus nicht ungemildert auf Wolf rum’s Oratorium anwenden; aber was uns sündigen Menschen langweilig erscheint, mag dem lieben Gott immer hin zu Ruhm und großer Freude gedeihen.

Kaum lohnt es sich, die einzelnen Stücke der Partitur der Reihe nach zu charakterisiren: sie sehen einander alle zu ähnlich. Schon in dem „Vorspiel“ fällt die rhythmische Monotonie auf: immer die gleichen vier oder fünf Viertel

noten ein ganzes Stück hindurch. Wo eine lebhaftere Be gleitung hinzutritt, bringt sie fast ausnahmslos auf- und abrollende Tonleitern in Sechzehnteln oder Zweiund dreißigsteln oder (wie in dem G-dur-Chor „Fröhlich“) gleichmäßige Triolengänge. Einfach, aber ganz unbedeutend klingt die Ankündigung des Engels. Von dem Lobgesang Maria’s hofften wir eine innige, über das Frühere sich aufschwingende Melodie; diese Hoffnung wird hier ebenso getäuscht wie an einer zweiten Stelle, die gleich falls eine wärmere Erfindung heischt: Maria an der Krippe. Ihr theatralisch declamirender, sprunghafter Gesang dünkt uns die Worte „Still die Erde, still der Himmel“ eher zu verneinen, als zu erklären. Mit den heranziehenden Hirten tritt natürlich die typische, billige Schalmeifigur im Sechsachtel-Tact in Permanenz. Man vergleiche damit die liebliche Hirtenmusik in Bach’s Weihnachts-Ora torium oder die berühmte Sinfonia pastorale in Händel’sMessias“ oder die analoge Scene in Berlioz Enfance de Jésus Christ“. Mit dem Einmarsch der heiligen drei Könige gewinnt die Musik etwas mehr Leben, um aber bald wieder in die frühere Er müdung zurückzufallen. Zu den bekanntesten, von Wolfrum benützten kirchlichen Volksliedern gehört der Gesang Maria’s „Joseph, lieber Joseph mein, hilf mir wiegen das Kindelein“. Brahms hat diese Melodie als charakteristische Begleitungsfigur in seinem Geistlichen Wiegenlied“, op. 91, überaus schön verwendet. In Wolfrum’s Oratorium füllt sie, endlos wiederholt, einen unverhältnißmäßig großen Raum; der Componist läßt das arme Jesukind durchaus nicht einschlafen, während er uns müde Zuhörer förmlich dazu einladet. Einige hübsche Details in der Harmonie und Instrumentirung (leider rasch verschwindend) verdienten lobende Erwähnung; so die kühnen Modulationen in dem F-dur-Vorspiel zu Maria’s Gesang „Zarte Blüthe“. Desgleichen die meistens correcte Declamation und gute Stimmführung. Nur das hohe B und Ces hätte lieber dem Evangelisten nicht sollen erpreßt werden. Die Instrumentirung folgt dem Inhalte treulich; leider übertönt das Blech ganze Strecken lang völlig die Figuration der Geigen.

Also im Ganzen eine achtbare solide Arbeit. Aber es fehlt das Letzte, das Beste: der Zauber des Unwider stehlichen. Wir begegnen in Wolfrum’s Oratorium Tausenden von schulgerechten Tacten, aber nicht einem einzigen originellen. Durch dieses umfangreiche Werk schleppt sich eine trostlose Armuth an origineller Erfindung. Dazu überall gleicher Tact und gleiches Tempo, ein lahmer Rhythmus, der nach Belebung dürstet. Da hilft es wenig, daß der Componist, etwa zur letzten Strophe eines er barmungslos in Viertelnoten marschirenden Chors, schließ lich eine lebhafter figurirte Begleitung setzt. Auch ein anderes Reizmittel will nicht verfangen: die unerwartet kühnen Liszt’schen Accordfolgen, mit der er stellenweise, in der zweiten Abtheilung, den einförmigen Gesang zu würzen trachtet. Daß solche musikalische Blutarmuth nicht noth wendig zu geistlicher Musik gehört, zeigen uns Händel’s Messias“ und jede Kirchen-Composition Mozart’s. Das protestantische Deutschland, in einer Hinsicht aller dings strenger in seinen Ansprüchen, ist doch andererseits wieder leichter zu befriedigen. Streng gegen weltliche Sonnenblicke, zeigt es sich um so toleranter gegen den dichtesten Frömmigkeitsnebel. So mag es denn richtig sein, wenn der Concertzettel auf die große Verbreitung und Beliebtheit von Wolfrum’s Oratorium in Deutschland hin weist. Ich glaube aber nicht, daß Wien sich diesen auserwählten protestantischen Heilsstätten anreihen und je eine Wieder holung des Wolfrum’schen Mysteriums erleben wird.

Die Aufführung im Gesellschaftsconcert ist nicht schuld daran. Das Orchester und der Chor (in welchem nur die Männerstimmen zu schwach besetzt sind) hielten sich tapfer unter der Führung des Directors Löwe . Die Solo sänger fanden leider wenig Gelegenheit zur Auszeichnung. Um so größere Anerkennung verdienen Frau Ruckbeil- Hiller , Fräulein Fournier und Fräulein Günz burg , endlich Herr Emil Pinks — ob seiner deutlichen Aussprache ein geborener „Evangelist“. Das Publicum blieb nach der langen ersten Abtheilung vollständig stumm und regungslos; erst am Schluß des Oratoriums erwies es sich freundlicher und ehrte den anwesenden Componisten durch einen Hervorruf.