Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 13795. Wien, Mittwoch, den 21. Januar 1903 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Picej, Cornelia Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 13795. Wien, Mittwoch, den 21. Januar 1903 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 21.01.1903
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Musik. (Drittes GesellschaftsconcertEuryanthe“ im Hofoperntheater.)

Ed. H. Neben der reichlich vertretenen Instrumental musik, wie sie uns die Philharmoniker, die Streichquartett vereine und die fast unzähligen Virtuosen-Concerte bieten, besitzen die Gesellschaftsconcerte in ihrem gemischten Chor den besonderen Vortheil, große cyklische Tonwerke (Ora torien, Cantaten) abwechselnd mit kürzeren Chören uns vorführen zu können. Nicht immer wird die richtige Wahl getroffen, nicht immer das Vertrauen des zuströmenden Publicums gerechtfertigt. Glücklicher als die letzten Pro gramme (Wolfrum’s Weihnachts-Oratorium, Schumann’s Faust“-Musik) gestaltete sich die Auswahl des jüngsten (dritten) Gesellschaftsconcerts. Die Vorherrschaft übte diesmal Brahms. Nicht weniger als fünf Stücke seiner Composition schmückten das Programm: zwei Orgelvorspiele, zwei Frauenchöre und die „Nänie“ für Chor und Orchester. Die für den protestantischen Gottesdienst bestimmten Orgelvorspiele haben wol nur aus nahmsweise Eingang in unseren Concertsaal gefunden; als eine Gedächtnißfeier für Brahms, welcher seine reiche Thätigkeit damit abschloß. Bekanntlich hat Brahms, damals schon bedenklich erkrankt, die „Elf Choral-Vorspiele“ im Sommer 1896 in Ischl niedergeschrieben. Als ich ihn dort eines Vormittags in seiner hochgelegenen Wohnung an der Salzburger Straße aufsuchte, hatte er eben ein Blatt seines Manuscripts vor sich auf dem Clavierpult liegen. „Das ist nichts für dich,“ wehrte er scherzhaft ab, „nichts für euch katho lische Wiener!“ — „Ich reiße mich auch nicht darum,“ ant wortete ich in gleichem Tone. Gern mochte ich das kunstvoll har monische und contrapunktische Gewand daran bewundern; um aber die bearbeiteten Choräle selbst, ohne Textworte zu erkennen und sich daran zu begeistern, muß man sie wirklich von Kindheit auf gehört und gläubig mitgesungen haben. Ich erinnerte Brahms an eine Aufführung von Mendelssohn’s „Paulus“ wo Billroth mein Sitznachhar, die eingefügten Choralmelodien andächtig leise mitsang,

während ich sie als eine schwerfällige, fast störende Unter brechung des Oratoriums empfand. Ihm war jede dieser uns hohl und starr anmuthenden Choralmelodien eine theure Jugenderinnerung, hatte er sie doch alle als Knabe unzähligemal in der Kirche mitgesungen. Die beiden das Gesellschaftsconcert einleitenden Orgelvorspiele konnte man immerhin bewundern, auch ohne die darin als Cantus fir mus erklingenden Choräle zu kennen. In großartigem Auf bau erhebt sich insbesondere Nr. 7 der Sammlung „O Gott, du frommer Gott“. Der Choral tritt hier abwechselnd in verschiedenen Stimmen auf, jede Zeile ist durch ein sechs tactiges Zwischenspiel getrennt. Weltfreudiger, inniger be rührt uns das zweite Vorspiel (Nr. 8) „Es ist eine Ros’ entsprungen“, eine duftige echt Brahms’sche Tonblüthe. Mit schöner Wirkung variirt hier die Oberstimme den Choral; das Pedal schweigt gänzlich. Max Kalbeck, dessen Brahms-Biographie wir mit freudiger Spannung erwarten, macht zu diesem Rosen-Vorspiel die hübsche Bemerkung, man müsse hier an einen von Brahms in Düsseldorf oder Hamburg verlebten heiligen Christabend denken. „Zierliches Rankengewinde umgibt ein geliebtes Bild. Das Röslein, das ich meine, braucht nicht das Jesuskind zu sein.“

Auf die beiden Orgelvorspiele folgte Brahms Composition von Schiller’s „Nänie“. Diesem zuerst im Jahre 1862 aufgeführten Chorwerk liegt bekanntlich eine bestimmte Beziehung zu Grunde. Die Klage „Alles Schöne muß sterben“ galt dem in voller Manneskraft hingerafften genialen Maler Anselm Feuerbach, der während seines Wiener Aufenthaltes dem Componisten persönlich sehr nahe stand. Brahms ist auch in der bildenden Kunst zeitlebens sehr wählerisch und eigenartig geblieben. Wie früher Anselm Feuerbach, so hat später Max Klinger ihn ganz besonders interessirt und begeistert. Was ihn zu Feuerbach so sympathisch hinzog, war die Aehnlichkeit ihrer ganzen Kunstanschauung; dieselbe unerschütterliche Richtung auf das Große, Erhabene und Ideale, welche die Beiden oft bis zur herben Strenge und Abgeschlossen heit geführt hat.

Frischer im Gedächtniß unseres Corncertpublicums lebt Wanderers Sturmlied“ von Richard Strauß — ist es doch erst im Jahre 1892 als Novität erschienen. Eine Aehnlichkeit theilt es, nicht zu seinem Vortheil, mit der Nänie“ von Brahms. Beide Chöre betonen Poesien

unserer größten Dichter, aber diese Dichter, Schiller und Goethe, verhalten sich hier recht unzugänglich, fast ab weisend gegen Musik. Schiller’s erhabenes Gedicht „Nänie“, in Distichen geschrieben, hat für den Musiker neben ver lockenden auch manche gefährliche Seite — vor Allem das Metrum, von dem die kunstvolle Musik nicht viel übrig lassen kann, und das dem Tondichter, heiße er auch Brahms, doch unleugbare Fesseln aufzwingt. Noch schlimmer hat Goethe für Richard Strauß vorgesorgt, der aller dings nur das erste Drittel des Goethe’schen Gedichtes componirt hat. Dieses gehört in der Grundstimmung zu den unklarsten, in den Einzelheiten räthselhaftesten, in der Construction zu den verwickeltsten Gedichten, die wir von Goethe, zumal dem jungen Goethe, diesem Ideal edler Klarheit und Natürlichkeit, besitzen. Die Strauß’sche Composition hat auch diesmal trotz aller geistreichen Einzelheiten die Hörer mehr ermüdet und be täubt als erhoben. Im „Sturmlied“ behandelt Strauß den Musikstoff allerdings plastischer, übersichtlicher als sonst in seinen Orchesterwerken, doch verleitet ihn oft der fieber hafte Drang nach Außerordentlichem, der Dichtung Gewalt anzuthun. Das Goethe’sche Poëm (in seinem von Strauß componirten Abschnitt) athmet durchaus ein siegesfrohes „göttergleiches“ Bewußtsein des vom Genius Ge führten. Bei Strauß glauben wir aber ganze Strecken ent lang die trostlose Klage Verzweifelnder zu hören. Nach dem schmerzlichen Pathos der „Nänie“ und des „Sturmliedeslegten wie milder Balsam zwei Chöre von Brahms sich uns um Herz und Sinne. Zwei Chöre für Frauenstimmen mit Begleitung von Harfe und zwei Waldhörnern: Es tönt ein voller Harfenschlag“ und „Der Gärtner“ (op. 72). Wer kennt und liebt sie nicht, diese herrlichen, dabei so anspruchslosen Weisen! In den zahlreichen Frauenchören von Brahms würde der Director unserer Gesellschaftsconcerte eine fruchtbare Be reicherung seiner Programme finden. Für weiblichen Chor hat Brahms 19 Compositionen mit und ohne Begleitung geschrieben; neben den jetzt gehörten ragen die Lieder und Romanzen op. 44 am schönsten hervor. Durchaus heiteren Charakters sind die „Lieder für gemischten Chor“, op. 93; voll Wärme und zarter Empfindung die Quartette op. 92. Brauchen wir noch die Zigeunerlieder (op. 103) zu nennen? Das gäbe lauter Freuden- und Glanznummern — wohl

gemerkt, wenn sie von wohlgeschulten und klangvollen, frischen Stimmen vorgetragen werden.

Ein Meer von süßem Wohllaut ergoß sich aus Mozart’s Serenade für Blasinstrumente in B-dur (361 bei Köchel). Das Stück ist bereits im December 1866 unter Dessoff im Philharmonischen Concert gespielt worden, und zwar mit Weglassung derselben drei Sätze, welche auch heute gestrichen waren. Von den sieben Sätzen dieser Serenade wurden somit nur vier gespielt — mit Recht, wie ich glaube; denn so viel Schönes die Serenade enthält — das Adagio als Schönstes obenan — so sind ihre Bestandtheile doch von zu ungleichem Werth und wirkt die Klangfarbe der Harmoniemusik (obendrein ohne Flöte und Trompete) auf die Länge monoton und ermüdend. Die Serenade, die sehr hübsch vorgetragen wurde, erregte einen geradezu begeisterten Applaus. Mozart hat thatsächlich über alle Modernen gesiegt. ...

Als einzige Novität (neben den Orgelvorspielen) be kamen wir einen dreistimmigen Frauenchor „Elfen und Zwerge“ von Robert Fuchs zu hören. Der Componist hat die ursprüngliche Clavierbegleitung für Orchester um gearbeitet, in welcher Gestalt das überaus anmuthige, liebenswürdige Stück sich bald überall einbürgern dürfte. Elfenmusik zu componiren, ohne unversehens Anleihen beim Sommernachtstraum“ oder „Oberon“ zu machen, ist keine leichte Sache. Fuchs ist gar nicht in diese Falle ge rathen. Ohne eine exaltirte Originalität zu erzwingen, ist er natürlich und selbstständig geblieben. Sangbar führt er die Stimme, glänzend das Orchester. Wir können den Novi täten von Robert Fuchs nur vorwerfen, daß sie zu selten kommen.

Das Concert ist wegen plötzlicher Erkrankung des Herrn Löwe durchaus vom Director des Conservatoriums, Herrn v. Perger, dirigirt worden. Es war keine Kleinigkeit, ein so reichhaltiges Programm mit einer flüchtigen Probe zu dirigiren. Herr v. Perger hat dieses Helden- und Wagestück glänzend durchgeführt. Bei seinem Erscheinen am Dirigentenpult begrüßte den Retter des Concertes wohlverdienter dankbarer Beifall, der sich nach jeder Nummer steigerte.

„Die „Euryanthe“ ist fünfzig Jahre zu früh er schienen.“ So schrieb der alte Castelli nach der ersten Aufführung von Weber’s „Euryanthe“ in Wien1823. Seitdem sind nicht blos fünfzig, sondern beinahe achtzig Jahre verflossen, und dennoch hat die Vorhersage Castelli’s sich nur sehr mangelhaft erfüllt. Die Wiener hatten zwar aus Schwärmerei für den „Freischütz", wie aus persön licher Verehrung für Weber auch die „Euryanthe“ als Novität warm aufgenommen, waren aber sofort erkaltet, als der Componist abgereist war. Die Oper verschwand nach wenigen Aufführungen wieder vom Repertoire. Und so ist es jedesmal geschehen, so oft ein kunstsinniger Director unserer Hofoper die lange Vernachlässigund wieder gut machen wollte und die „Euryanthe“ in neuer Besetzung und Ausstattung wieder auferstehen ließ. Freudigste Zu stimmung des Publicums und der Kritik — und nach wenigen Wiederholungen abermals ein leeres Haus! Ein wahres Fest schien es, als am 18. August 1855 unter Esser’s Direction „Euryanthe“ aus vieljährigem Schlafe wieder erwachte. In Ander begrüßte man den idealsten Adolar, in Beck den gewaltigsten Lysiart. Mit ihnen wetteiferten an Stimmkraft und Begeisterung Therese Tietjens als Euryanthe, die Czillagh als Eglantine. Vorzüglich wirkten in den kleinen Rollen des Königs und der Bertha Herr Mayerhofer und Fräu lein Amalie Weiß, spätere Frau Joachim. Außer Beck, dem in Baden Unsichtbaren und Unnahbaren, und dem trefflichen Mayerhofer, den, rüstig und heiter trällernd, man täglich in Hietzing begegnen kann, umfängt alle die Genannten der ewige Schlaf. Auch mit dieser Elitetruppe erhielt sich „Euryanthe“ in Wien nur sehr kurze Zeit. Erst nach sechzehn Jahren wurde sie wieder aufgenommen, fast „ausgegraben", und zwar zum erstenmale im neuen Opernhause, im Jahre 1871. Neben Beck, dem einzigen aufrecht gebliebenen Lysiart, sang Gustav Walter den Adolar. „Zarter und schmelzender“ (so berichteten wir damals) wird man die Romanzen des schwärmerischen Minne sängers kaum wieder hören Die Euryanthe sang zum erstenmale Frau Wilt abwechselnd mit Frau Dust mann, die Eglantine Frau Materna. Dessoff diri girte. Die Wiederholungen erschienen spärlich, gleichsam tropfenweis. Neuen Aufschwung nahm die Oper im

Jahre 1886, als Jubiläums-Vorstellung zu Weber’s hundertstem Geburtstag unter W. Jahn. Den Adolar sang Herr Winkelmann, heute noch ein willkommener, kräftiger Vertreter dieser anstrengenden Partie. Frau Sucher (dann Fräulein Klein) gab die Euryanthe, Frau Materna die Eglantine, den Lysiart Herr Sommer. Auch diese Neubelebung reichte nur für kurze Zeit. Zwei Wiederholungen, eine zu Ende 1886, die letzte am 2. Ja nuar 1887, das war Alles! Nun endlich nach abermals sechzehn Jahren gelangen wir zu der neuesten Wiederaufnahme der „Euryanthe“, zur gestrigen Aufführung der Oper unter Director Mahler.

In ganz merkwürdigem Verhältniß finden wir die Aufführungszahl der „Euryanthe“ zu jener des „Freischütz“. Weber’s „Freischütz“ hat hier in runder Zahl 500 Wieder holungen erlebt, „Euryanthe“ — blos hundert! Im neuen Opernhause, also seit 1871, ist „Euryanthe“ nur elfmal gegeben worden. In zweiunddreißig Jahren! Einer vorgefaßten Meinung oder ungerechten Laune des Publi cums kann man diese geringe Zugkraft der „Euryantheunmöglich zuschreiben. Die Begeisterung der Wiener für den „Freischütz“ übertrug sich ja anfangs auch auf die Euryanthe“. Sobald aber Weber von Wien abgereist war, erlosch auch das Interesse an „Euryanthe“. Es hat, wie wir gesehen, immer sehr lange Zeit gebraucht, bevor unsere Operndirection von neuem den Muth faßte, die aus Mangel an Theilnahme abgesetzten „Euryanthe“-Vorstel lungen wieder aufzunehmen. Kein Zweifel, daß die Musik neben ihren so glänzenden Vorzügen doch nicht mehr die Frische und Natürlichkeit des „Freischütz“ aufweist; die weit größere Schuld, ja die entscheidende, lastet auf dem Textbuch. Das empfinden wir bei jeder Wiederholung. Man urtheilt in neuerer Zeit über Opern texte viel strenger, als es vor siebzig Jahren der Fall war. Aber die heute viel schärfer betonte Unzufriedenheit mit dem Libretto der Hermine v. Chezy ist keineswegs neuen Datums. Schon im Jahre 1824 schrieb darüber in der Zeitschrift „Cäcilie“ der bekannte Kunstkritiker St. Schütze (gestorben 1839 als Hofrath in Weimar): „Man findet sich hier nicht nur völlig getäuscht, sondern man geräth in das größte Staunen, wie eine geistreiche Dichterin etwas so Unvollkommenes hat liefern und ein so genialer Componist

seine Kunst daran verschwenden können. Nicht blos ein wenig Dunkelheit ist in dem Text, sondern ermangelt durch und durch der Klarheit, die ein Kunstwerk haben muß.“ In einer langen Abhandlung führt nun der Ver fasser diese seine Bedenken an den einzelnen Personen und Scenen überzeugend aus.

Was mich betrifft, so habe ich in meiner innigen, früher geradezu maßlosen Verehrung für Weber mich stets wie auf ein Fest gefreut, wenn „Euryanthe“ wieder ein mal zur Aufführung kommen sollte. Und jedesmal — auch heute — mußte ich an mir erfahren, daß ich das Theater beiweitem nicht so beglückt verließ, wie ich es betreten hatte. Der „Freischütz“ ist doch viel schöner! rief es in mir. In der „Euryanthe“ gibt uns Weber ein Product gewalt samer Ueberspannung seines Talents. „Die „Euryanthe,“ schrieb er, „muß etwas ganz Neues werden, muß ganz allein auf ihrer Höhe stehen!“ Sie ist auch etwas ganz Neues geworden, schon dadurch, daß sie neben der im selben Jahre erschienenen bescheideneren „Jessonda“ von Spohr die erste deutsche Oper ist, die auf den gesprochenen Dialog verzichtet. „Ueberboten“ hat sie den „Freischützauch wirklich nach allen Richtungen, ihn aber in seiner reinen volksthümlichen Wirkung nicht erreicht. Die ange strengte Tendenz nach Neuem, Großem brachte auch neue und große Gefahren. In der „Euryanthe“ sehen wir die frühere Innigkeit Weber’s zu überschwänglicher Senti mentalität, den Ausdruck der Leidenschaft zu gewaltsamer Uebertreibung gesteigert. Freilich, gegen den „Lohengrin“ ge halten, welcher undenkbar ist ohne das Vorbild der „Euryanthe“, erscheint uns letztere noch maßvoll; aber man vergesse nicht, daß aus Wagners Individualität Manches natürlich quillen konnte, was für Weber nicht mehr natürlich war. Immer ist’s jedoch das unglückselige Text buch der „Euryanthe“ das mit seiner inneren Hohlheit und Unwahrheit uns jedesmal neu verstimmt. „Die Weise tadl’ ich nicht, doch wol die Worte vom Ge dicht!“ wie es in dem Küchendeutsch der Dichterin heißt. Die Fabel ist nicht blos stellenweise dunkel, sie ist es total; was zu ihrem Verständnisse vor unseren Augen vorgehen müßte, wird nur so beiläufig erzählt. Die Expo sition wie die Verwicklung bleibt unverständlich, die Lösung

ein Räthsel. Der eine Vers der verstorbenen Emma, auf dem der ganze dramatische Vorgang fußt: „Nicht eher find ich Frieden, bis diesen Ring der Unschuld Thräne netzt, im höchsten Leid und Treu dem Mörder Rettung beut für Mord“ — er könnte eine Oper umbringen. Die zweideutigen Orakel des Altertums wurden wenigstens nachträglich, wenn sie erfüllt waren, klar; über den Ausspruch der Emma disputirt man noch beim Herausgehen aus dem Theater. Wir werden in ein Netz von häßlichen Widersprüchen, welche jedes Kind lösen könnte, eingesponnen und so lange festgehalten, bis es um unsere Sympathie mit den zwei „idealen“ Charakteren, Adolar und Euryanthe, geschehen ist. Die Handlung in „Euryanthe“ ist nicht blos unzusammenhängend, kindisch (wie im „Oberon“), sondern widerwärtig. Sie verletzt unser sittliches Gefühl von der ersten Scene an, der brutalen Wette, auf die Adolar so willig eingeht, bis zur Erniedrigung der unschuldigen Euryanthe, welche vor dem ganzen Hofe wie ein gehetztes Wild gemartert und dann von ihrem herz- und kopflosen Geliebten zur Ab schlachtung geführt wird. Nach einer solchen Kette ver letzender Auftritte vermag schließlich selbst der „gute Aus gang“ keine glückliche, befreiende Wirkung auf uns zu üben. Das blitzschnelle Ende des Bösewichterpaares Lysiart und Eglantine wirkt wie eine Parodie schlechter Ritterstücke und nicht besser die von Adolar vorgetragene Schlußmoral, daß dies Alles, was die guten Leute und wir mit ihnen den Abend hindurch erduldet haben, nur geschah, damit die Geister des uns unbekannten Pärchens Udo und Emma jenseits vereint würden. Man muß nur immer wieder staunen, wie viel große und schöne Musik Weber trotz dieses Textbuches in der „Euryanthe“ entfaltet. Lange ist Euryanthe“ vom Publicum und der Kritik abgelehnt worden. Später wuchs das Verständniß und die Anerkennung immer höher; ja man ist in dem Bestreben, Versäumtes gutzu machen, mitunter so weit gegangen, die „Euryanthe“ hoch über den „Freischütz“ zu stellen. In Wagner’schen Kreisen namentlich begegnet man dieser Anschauung. Nach dem Eindruck, den ich von allen „Euryanthe“-Vorstellungen (auch von der gestrigen) empfing, scheinen die Ansichten des Publicums wieder zur richtigen Mitte zurückzukehren.

Euryanthe“ wie „Oberon“ bieten uns in reichverzierter Vase Wunderblumen aus allen Himmelsrichtungen. Ein voller, frischer, immergrüner Kranz ist nur — der „Freischütz.“ Die Liebe zu Weber’s „Freischütz“ bleibt immer jung, immer mächtig in uns. Wenn ein Biograph Schillers den „Wil helm Tell“ zu jenen seltenen Dramen zählt, die das Volk selbst sich bei dem Dichter bestellt zu haben scheint, so können wir das Wort getrost auch auf Weber’s „Freischütz“ anwenden.

Zu der gestrigen Aufführung der „Euryanthe“ war ein sehr zahlreiches und dankbar anerkennendes Publicum herbei geströmt. Director Mahler hatte die Oper mit rühmens werther Pietät und Wärme einstudirt und leitete das sichtlich begeisterte Orchester als erprobter Feldherr.

Die virtuos ausgeführte Ouvertüre, ein echt Webersches Glanz- und Prachtstück, wurde stürmisch applaudirt. Durchaus exact functionirten die Chöre und das Ballet. An die vier Solopartien der Oper darf man heute nicht mit allzu hohen Ansprüchen herantreten; sie erfordern un gewöhnliche Stimmkraft und Gesangstechnik. Das wärmste Lob verdient das böse Paar in der Oper. Fräulein v. Mildenburg, als Eglantine eine Erscheinung von dämonischer Schönheit, erwies sich ihrer schwierigen Rolle in Gesang und Spiel vollauf gewachsen. Ihr zur Seite stand — mehr als gediegener Sänger, denn als teuflischer Bösewicht — Herr Demuth, der stimmkräftige, erprobte Gesangskünstler. Herr Slezak, unser hoch gewachsener schmucker Heldentenor, schien in der unge wohnten Rolle des Adolar noch etwas befangen und un sicher, führte aber die Glanznummern derselben mit bestem Gelingen durch. Eine der schwierigsten Rollen, Euryanthe, war Frau Förster-Lauterer zu gefallen. Mit sichtlichem Eifer hat sie sich dieser Aufgabe unterzogen, leider reichte ihre Stimme nicht überall aus, in welchem Falle sie durch übertrieben heftige Mimik und Gesticulation sich zu helfen suchte. Ganz zweckmäßig waren auch die kleineren Rollen des Königs, des Rudolph und der Bertha mit Herrn Mayer, Herrn Preuß und Fräulein Kittel besetzt. Die obengenannten Darsteller der Hauptpartien wurden nach jedem Actschluß gerufen. Hoffentlich blüht der „Euryanthe“ von heute an eine etwas rosigere Zukunft.