Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 13821. Wien, Dienstag, den 17. Februar 1903 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Picej, Cornelia Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 13821. Wien, Dienstag, den 17. Februar 1903 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 17.02.1893
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte und Oper. (Sechstes Philharmonisches Concert — Rosé-Quartett — Marschner’s „Hans Heiling“.)

Ed. H. „Irrungen und Wirrungen“, lautet der Titel eines Romanes von Theodor Fontane. Er fiel uns ein in den zwei letzten philharmonischen Concerten, deren un vermuthet abgeändertes Programm einige Confusion im Publicum hervorbrachte. Wurde doch im fünften Concert statt Grädener’s lange vorher angezeigter neuer Symphonie Schumann’s Es-dur-Symphonie gespielt; in dem gestrigen sechsten Concert fehlten sogar zwei an allen Straßenecken wochenlang angekündigte Nummern: Haydn’s hier noch nie gehörte Symphonie „Le midi“ und Goldmark’s Ouvertüre „Penthesilea“. An ihrer Stelle überraschte uns Beethoven’s A-dur-Symphonie — ein Wunderwerk, aber ein allbekanntes, das seit seiner ersten Aufführung (1813) im Verlaufe von achtzig Jahren weit über hundertmal hier gefeiert worden ist. Keine Frage, daß plötzliche Programm änderungen, mögen sie noch so werthvollen Ersatz stellen, eine eigenthümliche Unruhe und fast an Enttäuschung streifende Unlust hervorrufen, namentlich in den sich ernsthaft vorbereitenden musikstudirenden Zuhörern. Wir dürfen wol hoffen, daß künftighin an den veröffentlichten Programmen nicht plötzlich ohne Noth gerüttelt werde. „Ver sprechen muß man halten,“ singt schon Robert der Teufel.

Das Concert begann mit Hermann Grädener’s neuer Es-dur-Symphonie. Sie hat weder Titel noch Pro gramm — gottlob, möchten wir beifügen, sind wir doch bereits der wunderlichen Ausschriften überdrüssig, mit welchen

die neuesten Orchesterwerke sich in fremdes Gebiet, in Malerei und Dichtkunst einbetteln. Nachdem Richard Strauß einer Symphonie den athemversetzenden Titel „Also sprach Zarathustra“ aufgeladen hatte, wissen die Jüngeren kaum mehr, wie sie es dem Titelmeister nach- oder zuvorthun sollen. Glitz schreibt eine Symphonie „Venus und Bellona“, Hans Huber eine „Carvis“. Unter diesem unverständlichen Titel vollzieht sich die Verwandlung eines Mädchens in einen jungen Mann oder auch der Melodie in einen Orchesterklang-Effect. Die neueste Symphonie des selben Hans Huber heißt „Böcklin“. Gewiß das Aller modernste. Unsere Wiener Symphoniker haben sich von dieser Titelmode auffallend ferngehalten. Wie wäre es mit einer symphonischen Dichtung „Lueger“? Das gäbe auf regenden Stoff zur Illustration stürmischer Gemeinde rathssitzungen. Enthusiastisch applaudirt die Majorität des Concertpublicums, und falls ein Einzelner zu zischen wagt, wird er für 50, für 100 Tacte ausgeschlossen, endlich für das ganze Adagio oder Finale. Dergleichen läßt Grä dener’s neue Symphonie nicht zu; sie hat keinen Titel, dafür aber Mittel. Ein in bestem Sinn musikalisch er dachtes, musikalisch ausgeführtes Werk; eine groß angelegte Tondichtung von ernstem, strengen, durchaus pathetischem Charakter. Mehr als in Grädener’s früheren Compositionen überwiegt hier die gelehrte Arbeit, die geistreiche Com bination. Der Contrapunktiker überragt den Erfinder oder, wie es vor Zeiten hieß, der „Setzer“ den „Sänger“. Man ist nicht ungestraft ein berühmter Professor der Musik theorie am Conservatorium. Im Großen und Ganzen mahnt die Ausdrucksweise an Brahms und Schumann; im Einzelnen verfällt sie keiner Reminiscenz. Grädener bleibt allzeit selbstständig. Nur selten mit einem größeren Werk hervortretend, widmet er ihm dann die musterhafteste Sorgfalt in der Ausführung. Am meisten gefiel von den vier Sätzen das Scherzo mit seinem geheimnißvoll auf rauschenden, geistreichen Thema. Dieser Satz allein ver schont den Hörer ein Weilchen mit dem maßlosen Lärm, welcher den Genuß und das Verständniß der Symphonie so anhaltend schädigt. Wie gerne folgten wir so manchem zarten Geäder, verschlänge nicht das erbarmungslose Wüthen der Blechinstrumente und Pauken jede feinere Zeichnung. Wir müssen leider vorläufig darauf verzichten, in die Einzelheiten der interessanten Novität einzugehen. Wenn der geschätzte Componist sich entschließen kann, jeden

der vier Sätze zu kürzen und das beklemmende Dickicht seines Orchesters zu lichten, dann werden die Vorzüge seiner Symphonie noch ungleich stärker und unmittelbarer wirken. Die Novität wurde lebhaft applaudirt und der Componist nach dem Scherzo und dem Finale wiederholt gerufen. Herr Hofopern-Capellmeister Schalk, der in Vertretung des plötzlich erkrankten Directors Hellmesberger von Grädener’s schwieriger Symphonie, wie wir hören, nur Eine Gesammtprobe abhalten konnte, hat sich damit neuerdings als ausgezeichneter Dirigent bewährt.

Alte Liebe rostet nicht. Beethoven’s mehr als hundert Jahre altes Septett lockt und entzückt noch heute jeden Musikfreund. Wir hören es in der Regel einmal im Jahre als Hauptnummer eines Rosé’schen Extraconcerts; trefflich ausgeführt und mit freudigster Andacht genossen. Neben dem Septett galt ehedem die Adelaide“ als das beliebteste Werk Beethoven’s; in un zähligen Ausgaben und Arrangements verbreitet, hat es doch seit längerer Zeit dem Septett den Vortritt über lassen. Das sentimentale Matthison’sche Gedicht findet heute keine Resonanz mehr im Publicum, und die zarte Composition hat schließlich vor den Reizen moderner Liederkunst capituliren müssen. Außer dem Septett erfreute uns noch Schumann’s köstliches Clavierquintett in Es. Ein vorzüglicher Pianist, Herr Joseph Lhévinne, spielte es mit unserem bewährten Rosé-Quartett voll Feuer und Verständniß. Daß sie es „zu voller Geltung brachten“, wie die beliebte Reporterphrase heißt, kann man trotzdem nicht fragen. Die Künstler haben das Stück gewiß so gut gespielt, wie etwa im Bösendorfer-Saal — aber es klang nicht so gut. Dieselbe für einen kleineren Raum wirksame Tonstärke reicht nicht aus für den großen Musik vereinssaal. Man vermeinte, die Musiker spielten viel schwächer, in Wahrheit hat es nur schwächer geklungen. Am leichtesten über die Ungunst des Saales siegt noch die Singstimme; auch die zarteste, wenn sie so kunstvoll be handelt wird, wie von Frau Bricht-Pyllemann. Durch den Reiz ihrer silberhellen Kopftöne verhalf sie Grieg’s wunderlichem „Solveigslied“ zu einer fast unge ahnten Wirkung. Für Hugo Wolf’s „Gärtner“ hätten wir nicht ungern die Schumann’sche Composition desselben Gedichtes eingetauscht (op. 107), die wir öffentlich noch nie zu hören bekamen. Frau Bricht-Pyllemann darf sich eines echten großen Erfolges rühmen.

Vor einigen Tagen lockte mich eine alte Liebe ins Hofoperntheater: Marschner’s „Hans Heiling“. Man feierte die 100. Aufführung dieser Oper in Wien. Schon die hundertste? Im Laufe von 57 Jahren! Armer Hans Heiling. Schäme dich vor dem „Rastelbinder“, der jetzt nach drei Monaten seine 50. Wiederholung erlebt! Ver krieche dich vollends vor dem „Süßen Mädel“, das in einem halben Jahre es so weit gebracht hat, wie du in einem halben Jahrhundert — zu 100 Aufführungen! Die erste Wiener Vorstellung von „Hans Heiling“ (Januar 1846) war, ohne Sensation zu machen, doch so günstig auf genommen worden, daß der Componist im Sommer des selben Jahres nach Wien reiste, um seine Oper einmal selbst zu dirigiren. Er hatte dafür ein Duett zwischen Anna und Conrad im dritten Acte hinzucomponirt, das jetzt noch ganz besonderen Beifall erntet. Um sich damit bei den Wienern „ein Bildel einzulegen“, verließ Marschner hier den düsteren, schweren Ton, die unruhige, überfüllte Instrumentirung und stützte die freudig aufjauchzende Melodie auf eine einfachere Begleitung. Seither hat dieses Einlagestück sich überall erfolgreich erhalten. Entschiedenen Gewinn für Hans Heiling“ brachte dessen Uebersiedlung ins neue Opernhaus; wir finden da im Januar 1871 schon Beck als Heiling, Walter als Conrad, Minnie Hauck als Anna, die Materna als Gnomenkönigin. Die Wieder holungen sickerten trotzdem noch immer spärlich. Vom Jahre 1871 bis heute, also in mehr als dreißig Jahren, ist die Oper 65mal gegeben worden. Ein Hauptverdienst an der gesteigerten Anziehungskraft des „Heiling“ gebührt Herrn Reichmann, der, ein warmer Verehrer und prädestinirter Darsteller der Marschner’schen Baritonpartien, neben Heiling“ auch dem „Templer“ und dem „Vampyr“ hier zu neuen Ehren verholfen hat.

Dem „Templer“, diesem Werke voll dramatischer Gluth und zartem melodischen Reiz, sollte es in Wien nicht so gut ergehen — eigentlich herzlich schlecht. Die erste Aufführung von „Templer und Jüdin“ im alten Opernhause hat im Jahre 1849 stattgefunden, die letzte im Jahre 1862. In diesen dreizehn Jahren erlebte der „Templer“ 3, sage drei Aufführungen! Die Oper war eben nicht nach dem Geschmack der Wiener. Ich hatte den „Templer“ in Prag liebgewonnen, wo er, sowie Heiling“ als unfehlbares Repertoirestück beliebt war, ehe man in Wien etwas von Marschner wußte. „Der Wiener

Mißerfolg“ — so schrieb ich damals in der „Wiener Zeitung“ — „mußte Jedermann schmerzen, der in Marschner’s Templer“ ein Werk zu ehren glaubte, dessen Fall unmög lich ist. Der 10. Januar 1849 hat diesem Glauben ein Ende gemacht, und die letzte Stadt, welche den „Templer“ zur Aufführung gebracht, Wien, ist auch die erste, die ihn fallen ließ. Zur theilweisen Entlastung des Publicums war nur zu bemerken, daß die Aufführung kaum ein ge treues Bild des Werkes zu bieten vermochte. Vortrefflich erschien nur Staudigl als Waldbruder Tuck. Die letzte Aufführung von „Templer und Jüdin“ im alten Opern hause (1862) glänzte in musterhafter Besetzung. Beck als Templer, Ander als Ivanhoe, die Dustmann als Rebekka lebten begeistert in ihren Rollen. Vortrefflich war auch Hölzl als Tuck; dennoch hat er die Oper für lange Zeit umgebracht und die Oper ihn. Ein aufregendes Theater-Ereigniß. Es war Herrn Hölzl von der Theater censur untersagt worden, als Tuck mönchische Kleidung anzulegen und das erste Lied mit dem Originaltext vor zutragen; statt des Refrains „Ora pro nobis“ sollte er singen „Ergo bibamus!“ Durch diese Aenderung wird nicht blos die auf den Contrast gestellte Wirkung des Musik stückes total vernichtet, sondern die ganze Scene in boden losen Unsinn verkehrt. Für einen Sänger, der mehr als eine geistlose Puppe, wird eine Darstellung der also abge änderten Scene beinahe zur Unmöglichkeit. Hölzl lieferte den augenscheinlichen Beweis dafür in der Generalprobe, deren erbärmlicher Effect ihn offenbar stark herabgemuntert hatte. Er wagte es also, in der Abendvorstellung die ver botenen Worte „Ora pro nobis“ zu singen, die sogar in München und auf verschiedenen österreichischen Bühnen un behelligt erklangen. Die Folge war, daß Hölzl sofort seine Entlassung erhielt und nie wieder die Räume des Hof operntheaters betreten durfte. Nun war dem armen Hölzel für immer und der Marschner’schen Oper für viele Jahre das Hofoperntheater versperrt. Heute liest sich das gottlob wie ein Märchen, ist aber doch erst 40 Jahre alt.

Erst im November 1883, also nach vollen 20 Jahren, bekamen wir „Templer und Jüdin“ wieder zu hören — im Neuen Opernhause. Leider hat der „Templer“ auch hier bis auf den heutigen Tag, also in 20 Jahren, nur 28 Vorstellungen erlebt. Die Wiederaufnahme der Oper geschah hauptsächlich auf Betreiben Reichmann’s, welcher den Templer zu seinen Glanzrollen zählt. Neben ihm

finden wir schon Herrn Winkelmann als Ivanhoe. Diese beiden trefflichen Künstler, bis zur Stunde die festen Säulen unseres Operntheaters, verhalfen auch der dritten von Marschner’s Opern, dem „Vampyr“, zu einer wenn gleich nur kurzen Wirksamkeit in Wien. Allerdings hat Marschner’s Styl sich im „Templer“, noch mehr im Heiling“ geläutert, seine Gestaltungskraft sich gefestigt. Aber auch dort, wo man diese weit besseren Werke Marschner’s pflegt, weiß sein „Vampyr“ sich noch immer leidlich zu erhalten. Das dankt er dem unzerstörbaren Eindrucke seiner Priorität und der Macht der Tradition. Den späteren „Templer“ und „Heiling“ erkannte das deutsche Publicum sofort als die zweite und dritte Ver gleichungsstufe von Marschner’s Talent, ohne darum den roheren „Vampyr“ ganz zu verbannen. Er war eine erste Liebe gewesen, und zu dieser kehrt man gerne wieder zurück. Anders bei uns in Wien. Nachdem wir den Vampyr“ um ein Halbjahrhundert verspätet und lange nach dem „Hans Heiling“ kennen gelernt, mußte er uns da nicht wie eine wüste Vorstudie zum „Heilingvorkommen und neben diesem fast überflüssig? So war denn auch der Erfolg des „Vampyr“ bei seiner Wiener Première (1884) weit geringer, als er vier bis fünf Decennien früher gewesen wäre. Natürliche Strafe aller Theater-Directionen, die mit der künstlerischen Production nicht Schritt halten und sie dann eines Tages aus weiter Entfernung einholen möchten. Die Wirkung einer be deutenden Composition hängt gewiß nicht an der Minute — was du aber vor fünfzig Jahren ausgeschlagen, das bringt keine Ewigkeit zurück.

Die hundertste Aufführung des „Heiling“, um wieder zu unserem Anfang einzubiegen, spielte vor einem überaus empfänglichen, dankbaren Publicum, das vollzählig wie zu einer Première sich eingefunden hatte. Frau Forster, noch immer die liebenswürdigste Anna, Reichmann, noch heute der beste Heiling, Schrödter, noch un verändert der klang- und gemüthvollste Conrad, entzückten wie vor Jahren. Frau Sedlmair, Frau Kaulich, die Herren Schittenhelm und Felix standen ihnen als willkommene Partner zur Seite, und Herr Schalk als energisch dirigirendes Oberhaupt. So bewahren wir denn dieser Jubiläums-Vorstellung die dankbarste Er innerung.