Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 14072. Wien, Freitag, den 30. Oktober 1903 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Picej, Cornelia Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 14072. Wien, Freitag, den 30. Oktober 1903 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 30.10.1903
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hektor Berlioz. (Zu seinem hundertsten Geburtstag.) I.

Ed. H. So mißmutig hohes Alter uns auch stimmen mag, ich denke doch mit Freuden daran zurück, daß ich vor nahezu sechzig Jahren Berlioz kennen gelernt und eine volle Woche hindurch von früh bis abends sein willkommener täglicher Begleiter gewesen bin. Berlioz erschien damals in Prag als ein strammer, tatkräftiger Vierziger mit buschigem dunklem Löwenhaupt; mitteilsam, unternehmend, hoffnungsfroh. Von diesem will ich in diesen Blättern erzählen. Diejenigen gewiß nicht zahlreichen Leser, denen aus früheren Aufsätzen von mir manches davon bekannt sein dürfte, wollen dies mit der Erwägung entschuldigen, daß gerade ein Jubiläumsartikel eine mög lichst vollständige zusammenfassende Darstellung erheischt. Eine Charakteristik und Würdigung der Tondichtungen Berlioz’ soll später nachfolgen.

Hektor Berlioz war im Januar 1846 nach Prag ge kommen und gab da eine Reihe von Konzerten. Der Name Berlioz war dem Prager Publikum so gut wie unbekannt. Nur unser kleiner Kreis, dessen Brevier Schumanns Auf sätze in der Leipziger „Neuen Zeitschrift für Musikbildeten, schwärmte im vorhinein für den genialen Fran zosen. Wir waren voreingenommen durch die enthusiasti schen Kritiken Schumanns, R. Griepenkerls, Dr. Bechers und die Schilderungen Heines. Von Berlioz’ Kom positionen besaßen wir nur das vierhändige Arrange ment der „Lear“-Ouvertüre und die Lisztsche Klavier bearbeitung der Sinfonie fantastique, welche unermüdlich durchgepaukt wurden. Ambros und ich kamen täglich zu Berlioz in den Gasthof „zum blauen Stern“ und beglei teten ihn in die Proben; wir waren willkommen als enthusiastische Anhänger, ich überdies als brauchbarer

Dolmetsch und Uebersetzer. Berlioz verstand kein Wort Deutsch und das Französische war damals unter den Musikern Prags sehr wenig verbreitet. Berlioz kam in Begleitung einer schönen, glutäugigen Spanierin, Mari quita Rezio, die er für seine Frau ausgab. Es war daher verzeihlich, daß wir sie für seine aus Heines Erzählungen uns bekannte und teure Gemahlin, die frühere Schau spielerin Miss Smithson, hielten. Als aber Ambros gleich bei der ersten Begegnung seine Freude darüber aussprach, neben Berlioz auch das Urbild der „Double idée fixe“ aus der Phantastischen Symphonie, nämlich Miß Smithson, zu erblicken, erhielt er mit einem strafenden Blick die Antwort: „Die hier ist meine zweite Frau; Miß Smithson ist gestorben.“ In Wahrheit lebte seine Frau, lebte lange noch, während Berlioz mit seiner schönen Spanierin Deutschland und Oesterreich durchzog. Der Mann mit der Löwenmähne und dem gewaltigen Adler blick stand widerstandslos unter dem Pantoffel der Señora. Bei aller Ehrfurcht vor Berlioz berührte es uns doch komisch, wenn sie mit stolz zurückgeworfenem Kopf ihn an herrschte: „Hektor, meine Mantille!“ „Hektor, meine Hand schuhe!“ Worauf dann Hektor mit der Unterwürfigkeit eines schüchternen Liebhabers ihr schnell die Mantille umhängte und die Handschuhe brachte. Für die Besorgungen des täglichen Lebens, des geschäftlichen Verkehres war sie, die ebenso sparsam, als er großmütig mit dem Gelde umging, ihrem unpraktischen Hektor allerdings ganz nützlich. „Quel bonheur pour Hector, que je suis sa femme!“ rief sie einmal, als ich ihr den Voranschlag der Konzertauslagen übersetzte, den sie mit kühnen Federstrichen reduzierte. „Quel bonheur“ war für Berlioz leider nicht ungetrübt. Im Anfang ihres Zusammenlebens quälte sie ihn mit der Prätension, in seinen Konzerten als Sängerin aufzutreten, was er — doch noch mehr Musiker als Anbeter — nach einigen mißglückten Versuchen einstellen mußte. Später, als er nach dem Tode seiner Frau die Rezio heiratete, litt er un säglich unter der unheilbaren, entsetzlichen Krankheit, welche langsam, wie mit stumpfer Säge, ihr Leben zerschnitt.

Während seines Prager Aufenthaltes war Berlioz unser einziger Gedanke, unsere einzige Beschäftigung. Ich

führte ihn auch zu meinem Meister Tomaschek, dem Musik papst von Prag, den zu besuchen jeder fremde Tonkünstler für Pflicht hielt. Als wäre es gestern, sehe ich mich mit Berlioz in sonnig glitzerndem Wintermorgen über die Moldaubrücke wandern, jenseits welcher der Generalbaß in Person residierte. Berlioz hatte sich fest in mich „ein gehängt“; ich litt unter dem vernichtenden Bewußtsein dieser Auszeichnung so sehr, daß ich förmlich fürchtete, Bekannten zu begegnen.

Wenige Schritte vor der kontrapunktischen Residenz eröffnete mir Berlioz mit liebenswürdiger Nonchalance, er habe in seinem Leben den Namen „Tomaschek“ nicht ge hört, noch weniger kenne er eine Note dieses Autors. Jetzt galt es, in gedrängtester Kürze meinem Fremden das ihm fehlende musikgeschichtliche Kapitel „Tomaschek“ beizu bringen. Um ihn nicht durch die vielen Titel zu verwirren, wiederholte ich ihm schließlich mit Nachdruck, daß Tomaschek auf ein (in der Tat vortreffliches) Requiem besonderen Wert lege. Wir traten ein, und es spielte sich eine jener halb peinlichen, halb komischen Szenen ab, welche man „Dolmetschen“ nennt. Dies brockenweise Hinüber- und Herübertragen unerheblicher und doch oft schwierig wieder zugebender Sätze wurde durch die etwas verlegene Span nung zwischen dem Altkonservativen und dem Kunstrevolu tionär gerade nicht erfreulicher. Glücklicherweise vergaß Berlioz sein Stichwort nicht, und rühmte sofort die beson dere Genugtuung, den Schöpfer des „herrlichen Requiems“ persönlich kennen zu lernen. Der durch Vereinsamung etwas schroff gewordene alte Herr nahm diese Huldigung mit echtem Kopfnicken und der Erklärung hin, Berlioz’ nächstes Konzert besuchen zu wollen. „Il a l’air bien enchante de lui-même“, war das Einzige, was Berlioz nach einigem Nachdenken über die neue Bekanntschaft äußerte.

Berlioz’ Konzerte erregten in Prag einen unerhörten Enthusiasmus. Das letzte Konzert, in welchem Berlioz den (sonst überall unterdrückten) fünften Satz der Sinfonie fantastique aufführte, habe ich trotzdem versäumt. Ich wollte — da sich mir gerade jetzt die Gelegenheit bot — doch noch lieber Wien kennen lernen, als die Ronde de Sabbat von Berlioz. In Wien hatte ich die freudige

Ueberraschung, folgende darauf bezügliche Zeilen von Berlioz zu erhalten: „Henri IV. écrivait: Pends toi, Crillon, nous avons vaincu à Arques et tu n’y étais pas. Notre Sabbat a été exécuté mardi dernier; cependant je ne vous engage pas à vous pendre, car il peut aller beaucoup mieux. Mille amitiés, et revenez nous vite!“ Was in Prag unsere Begeisterung für Berlioz’ Musik noch befestigte und belebte, war der persönliche Umgang mit ihm, der Eindruck seiner liebens würdigen, edlen Persönlichkeit. Sein künstlerisches Ideal erfüllte ihn völlig; die Verwirklichung dessen, was er in glühendem, nie befriedigtem Drang als schön und groß empfand, bildete sein einzig Ziel und Streben. In seiner Kunst, mag man sie nun abschätzen wie man wolle, lag eine großartige Redlichkeit. Alles Eigennützige, Kleinliche lag dem Manne mit dem Jupiter-Kopfe fern. Für das Große und Kühne seiner ganzen Richtung und für einzelne hohe Schönheiten seiner Musik heute noch empfänglich, bin ich doch mit den Jahren von dem maßlosen Enthusiasmus jener Prager Jugendzeit zurückgekommen. Noch stärker war dies bei R. Schumann der Fall. Er hatte mehrere Jahre vor Berlioz’ Erscheinen in Deutschland eine eingehend analy sierende Kritik über die Sinfonie fantastique geschrieben, lediglich auf Grund des Lisztschen Klavierauszuges. Diese, von Begeisterung über Berlioz’ Genie überschäumende Kritik beschloß er mit den schönen Worten: „Und ist seine Kunst ein flammendes Schwert, so sei mein Wort die ver wahrende Scheide.“ Nach der Bekanntschaft mit Berliozspäteren Werken hat Schumann seinen Enthusiasmus dafür stark abgekühlt, ja förmlich auf Eis gestellt. Schon im Jahre 1847, als ich Schumann in Dresden besuchte, äußerte er, sarkastisch lächelnd: „Ihr Prager ward ja über Berlioz ganz aus dem Häuschen!“ Ja, durfte ich ent gegnen, wer hat denn angefangen?

Berlioz selbst habe ich fünfzehn Jahre später, im Sommer 1860, in Paris besucht. Diese kräftig aufrechte Gestalt, dieses königliche Haupt mit den Adleraugen — ich sollte sie sehr verändert wiederfinden. Hätte ich Berlioz irgendwo anders als in seiner entlegenen Wohnung, Rue du Calais 4, wiedergefunden, ich würde ihn schwerlich erkannt haben.

Zwar hob die Blässe seines eingesunkenen Gesichts und das gänzlich erbleichte Haar den feinen Schnitt seiner Züge noch plastischer hervor, aber die Kraft und Frische von ehemals waren geschwunden. Trüb und leidend blickte sein Auge, nur in seltenen Augenblicken an das alte Feuer mahnend. Eine voluminöse Partitur lag vor Berlioz auf geschlagen. Womit er jetzt beschäftigt sei? „Je suis occupé à souffrir,“ lautete die rührend traurige Antwort. Hand in Hand mit seinem körperlichen Leiden ging eine tiefe Verstimmung des Gemüts, eine zunehmende Ver bitterung und Vereinsamung. Hielt doch nur sein glänzendes Wirken als Kritiker die Pariser in Respekt; der Komponist Berlioz blieb ignoriert und verspottet. Wollte er seine Kompositionen hören, so mußte er nach Deutschland gehen. Die Tage in Prag und Wien dünkten ihn ein goldener Traum. Eben von seinem alljährlichen Sommerausflug aus Baden-Baden zurückgekehrt, erzählte Berlioz, wie sehr der Erfolg seiner dortigen Konzerte, trotz der unsäglichen Mühe der Vorbereitungen, ihn er freue. In Paris fühle er sich dann durch den Kontrast doppelt schwer bedrückt; sein besseres Ich sei ver loren, „dans ce monde perdu et corrompu“. Mit Ver achtung sprach er von den Musikzuständen in Paris, mit zorniger Heftigkeit gegen die „Zukunftsmusiker“ in Deutsch land, mit denen er nichts gemein habe. Entschieden wehrte er jeden Zuspruch, jede Hoffnung auf eine bessere Zeit ab: „J’ai pris mon parti.“ Unvergeßlich ist mir dieser Seufzer schmerzlichster Resignation. Und er hatte nicht zu schwarz gesehen; es war ihm nicht beschieden, einen günstigen Umschwung der öffentlichen Meinung in seinem Vaterlande zu erleben. Erst nach seinem Tode begann man ihn dort zu feiern, wobei man jetzt beinahe von einem Extrem ins andere, von Mißachtung in Vergötterung verfällt.

Es war im Dezember 1866, als Berlioz auf Anregung Herbecks in Wien eintraf, um sein hier noch unbekanntes Hauptwerk „Faust’s Verdammung“ zu dirigieren. Der Anblick des Mannes schnitt seinen Freunden ins Herz. Er hatte in den letzten Jahren erschreckend gealtert. Die ehedem kräftige und elastische Gestalt war von physischen und moralischen

Leiden gebrochen; das sonst so feurige Adlerauge blickte matt und resigniert unter dem grauen Haarwald; mit sichtlicher Anstrengung dirigierte er das von Herbeck sorg fältig vorbereitete Werk. Sein Blick erhellte sich, als brausender Beifall ihn begrüßte. Aber so enthusiastisch der Beifall nach „Fausts Verdammung“ auch klang, er schien doch mehr der außerordentlichen Persönlichkeit des be rühmten Tondichters zu gelten als dem Werke selbst. Hätte sonst dieses durch volle zwanzig Jahre hier unwieder holt, ja gänzlich verschollen bleiben können?

Noch einmal sollte ich Berlioz in Paris wiedersehen: im Frühling 1867. Als musikalischer Juror zur Welt ausstellung dahin abgesendet, hatte ich auch an den Sitzungen über die beste der eingesandten Friedens hymnen teilzunehmen. Der 85jährige Auber präsidierte. Ich kam neben Berlioz zu sitzen, der mir noch grollender, düsterer erschien, als bei meinem letzten Besuch im Jahre 1860. Der Tod seines einzigen Sohnes Louis, der fern von der Heimat auf einem Ostindienfahrer sein Ende ge funden hatte, war dem Vater schmerzlich tief in die Seele gedrungen; gleichzeitig erregten die sich täglich erneuernden Schwierigkeiten gegen die projektierte Aufführung seiner TrojanerBerlioz’ schwärzesten Unmut. Er war so menschenfeindlich geworden, daß man ihn nicht gern mit einem Besuch behelligte. Doch brachten mich, wie erwähnt, die Sitzungen über die Preisfriedenshymne in seine un mittelbare Nähe. Entrüstet über die „besten“ dieser Kom positionen schüttelte Berlioz sein graues Löwenhaupt, schlug auf den Tisch und rief: „Wir sind nicht da, um Gassen hauer zu krönen!“ Berlioz lebte völlig einsam. Er be hauptete, Rossini niemals gesprochen zu haben. „C’est un viel homme, qui rit de tout et se moque de tout.“

Auber nannte er den größten Egoisten; „ce n’est pas un artiste“. Von R. Wagner, der (mit Klindworth) ihm den ersten Akt von „Tristan“ vorgespielt hatte, äußerte Berlioz nur: „Il est fou, totalement fou!“

Ich habe Berlioz’ echter, tiefer Künstlernatur, seinem warmen, trotz unsäglichen Leidens und zunehmender Ver bitterung weichen, ehrlichen Gemüt stets ein pietätvolles dankbares Andenken bewahrt.