Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 14114. Wien, Freitag, den 11. Dezember 1903 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 14114. Wien, Freitag, den 11. Dezember 1903 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 11.12.1903
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hektor Berlioz als Opernkomponist. (Zu Berlioz’ hundertstem Geburtstag, 11. Dezember 1803.)

Ed. H. „Blut ist ein besonderer Saft“, heißt es in Faust“ — Theaterblut vor allem. Wer Berlioz’ Orchester werke kennt, dann seine Selbstbiographie, wer endlich ihn selbst gekannt hat, diesen stets leidenschaftlich auflodernden Feuerkopf — der mußte wohl den geborenen Opernkompo nisten in ihm vermuten. Ist doch fast jeder komponierende Franzose von Haus aus Theatermusiker. Während Deutsch lands musikalische Größen mit nur wenigen Ausnahmen vorzugsweise in der symphonischen und Kammermusik glänzen, streben die Franzosen und Italiener instinktiv der Oper zu. Was die Besten unter ihnen für die Instrumental musik geschaffen, verschwindet neben ihren dramatischen Werken. Nicht bloß an Zahl, auch an Bedeutung und Lebenskraft. Den Gediegensten unter ihnen ( Cherubini , Méhul , Boieldieu ) begegnen wir mit ihren besten Opern noch heute auf französischen und deutschen Bühnen, während ihre Quartette und Sonaten längst rettungslos versunken sind. Berlioz , zeitlebens gepeinigt von der Begierde nach dem Theater, wirkt hingegen bis heute nur als gefeierter Symphoniker. Seine Opern sind so gut wie verschollen, waren es eigentlich von allem Anfang her. Aber auch in seinen Symphonien wurde er den in ihm fortglühenden Dramatiker nicht los. Die „ Phantastische Symphonie “, die ihn zuerst berühmt gemacht, verfolgt ein dramatisches Pro gramm, das eine Reihe leidenschaftlicher Liebesszenen mit einem — Hinrichtungsmarsch abschließt. In seiner „ Ha rald-Symphonie “ personifiziert er die Gestalt des Helden durch eine Sologeige, welche das ganze Werk als reflektierender oder mithandelnder Harald durchzieht. In der „ Romeo-Symphonie “ wagt er noch einen Schritt weiter gegen die Oper und behandelt den Schluß teil als förmliches Opernfinale, in welchem Romeo, Julie, Capulet, Montague und ihre einander bekämpfenden An hänger singend auftreten. Mit dieser Neuerung hatte Ber

lioz sich gründlich getäuscht. Nachdem die großen Konzert institute der Kuriosität halber die vollständige „Romeo- Symphonie“ ein- bis zweimal aufgeführt hatten, hieben sie ihr den entstellenden Drachenschwanz ohneweiters ab und begnügen sich seit 30 Jahren mit den beiden köstlichen Orchestersätzen „Liebesszene“ und „Fee Mab“. Aber Berlioz ließ nicht ab von seiner fixen Idee einer Verschmelzung von Symphonie und Oper. „ Fausts Verdammung “ be wegt sich so knapp an der Grenze des Theatralischen, daß es nur eines Schrittes bedurfte, um das Werk völlig in die Opernform zu zwängen. Diesen Schritt hat das Pariser Théâtre Lyrique vor einigen Jahren gewagt, indem es das Werk im Kostüm und mit Dekorationen aufführt, dem Ge schmack der Franzosen gründlich entsprechend.

In diesem vergeblichen Ringen um den dramatischen Lorbeer begegnet sich Berlioz ganz merkwürdig mit seinen zwei größten deutschen Zeitgenossen: mit Schumann und Mendelssohn . Von beiden Meistern hatte man vielfach gehofft, sie würden auch auf der Bühne ihre glänzende Begabung offenbaren. Mehr als ein Stück in Schumanns „Peri“, auch in der „Rose Pilgerfahrtdeuteten dahin. Die Hoffnung erwies sich als trügerisch.

Genovefa “, die einzige Opernkomposition von Schu mann, erschien bekanntlich zuerst (1850) auf der Leipziger Bühne. Sie brachte es da, trotz Schumanns persönlicher Anwesenheit, notdürftig auf drei Vorstellungen; hierauf verflossen (wenn wir von der exklusiven Versuchsstation Weimar absehen) lange Jahre, ohne daß irgendwo davon die Rede war. In dem Maße, als die letzten zwanzig Jahre die Würdigung Schumanns allenthalben verbreitet und erhöht haben, erwachte auch wieder die Begierde der Musikfreunde, diese Oper kennen zu lernen; Karlsruhe und München machten jüngst einen Versuch damit, welcher nicht eben ermutigend ausfiel. Zuletzt ging Direktor Herbeck in Wien an das gleiche Werk und tilgte so in ehrenvollster Weise eine doppelte Schuld: an Schumann und an das für diesen Tondichter enthusiastisch eingenommene Wiener Publikum. Letzteres hörte die erste Vorstellung mit pietät voller Andacht und Aufmerksamkeit; von der zweiten an begann es in bedenklicher Weise auszubleiben.

Aus einem ganzen Haufen von projektierten Opern stoffen hatte Schumann gerade einen der unpraktischesten zur Ausführung gewählt: die Genovefa. „Nach Tieck und

Hebbel“, heißt es auf dem Titelblatt des Textbuches; tat sächlich hielt sich Schumann ungleich weniger an Tiecks Gedicht, als an Hebbels Drama — nicht zum Vorteil der Oper. Auch Anton Rubinstein hat sich bekanntlich um einen Operntext von Hebbel bemüht, mußte aber dessen Arbeit als ganz unbrauchbar beiseite legen. Der geniale Tragödiendichter war eigentlich ganz unmusikalisch. Als ich ihm einmal zuredete, Beethovens Eroica“ im Philharmonischen Konzert anzuhören, wies er den Vorschlag rundweg ab, mit den Worten: „Ich weiche Beethoven nicht aus, aber noch weniger suche ich ihn auf.“

Zu diesem Textbuche hat Schumann eine Musik ge schrieben, die, von deutscher Empfindung durchdrungen, von edlem Ausdruck getragen, vor allem danach strebt, mit un bestechlicher Treue das Wort des Dichters zu interpretieren. Leider krankt seine Musik an dem einen unheilbaren Uebel, undramatisch zu sein. Schumanns ganze Natur, auf ein tief innerliches Arbeiten und ein höchst subjektives, bis zur Grübelei verfeinertes Empfinden gestellt, war undramatisch, unfähig, sich an die Charaktere eines Dramas so zu ent äußern, daß sie als lebendige, scharf ausgeprägte Personen vor uns stehen und gehen. In der „Genovefa“ haben alle Personen etwas eigentümlich Gebundenes, Verhaltenes; ihr Gesang überzeugt uns nicht; es ist, als suchten sie ihre Freude und ihren Schmerz sich erst einzureden und anzu singen.

Und doch schrieb Schumann in wunderlicher Selbst täuschung an einen Freund, in seiner „Genovefa“ sei „jeder Takt durch und durch dramatisch“. In wörtlichem Sinne mag man das gelten lassen; jeder Takt für sich allein ist allenfalls dramatisch, könnte es wenigstens sein in anderer Umgebung, aber der einzelne Takt verschwindet in dem Eindruck des ganzen Musikstückes, des ganzen Aktes, der ganzen Oper. Der einzelne Takt! Das ist bei Schu mann ein feiner Strich in einem Aquarellbild; man füge deren noch so viele fein säuberlich aneinander, sie bleiben wirkungslos dort, wo al fresco gemalt werden muß.

Dasselbe vergebliche Ringen auf dem Felde der Opernkomposition gewahren wir vor Schumann bei Franz Schubert und Mendelssohn . Ihre Opern sind uns schon deshalb verloren gegangen, weil Mendelssohn in der Textwahl zu kritisch, Schubert zu kritiklos vorging. Ersterem war nie ein Libretto gut genug, letzterem ein jedes.

Aus Mendelssohns Briefen ist bekannt, wie durch seine ganze glänzende Laufbahn sich die Sehnsucht nach dramatischer Wirksamkeit rastlos durchzog, ohne jemals Befriedigung zu finden. Mit zahlreichen Poeten trat er wegen eines Operntextes in Verbindung und eingehende Korrespondenz; keiner befriedigte seine Ansprüche. Es ging Mendelssohn genau so wie jemandem, der zeitlebens nach einem Ideal von Braut sucht, es nirgends findet und richtig als Hagestolz stirbt.

Was von Mendelssohns Opernmusik vorliegt (die Jugendversuche „Cammacho“ und „Heimkehr“, dann das Lorley-Fragment), kann uns in der Meinung nur stärken, daß die Oper niemals mehr als ein künstlich abgeleiteter Arm seines glänzenden musikalischen Talents geworden wäre. Nach manchen prachtvollen dramatischen Stellen in seinem „Paulus“ und „Elias“ wurde Mendels sohn vielfach für einen geborenen Opernkomponisten gehalten. Allein die Folgerung von derlei in einer epischen Umgebung wirkenden Partien auf einen eminenten Beruf für die Oper gehört zu den trügerischen. Mendelssohn fehlte die Gabe, sich stark und unmittelbar auszusprechen; er hatte kein starkes Pathos, wie hätte er es den dramatischen Personen, modifiziert nach deren Charakter, geben können? Daß übrigens Mendelssohn an dramatischer Begabung wie an praktischem Sinn noch hoch über Schumann stand, braucht nicht erst gesagt zu werden.

Die Deutschen haben seit Mozart (der als Opern komponist doch in gewissem Sinne der letzte große Italiener heißen darf) nur drei eminent dramatische Talente aufzu weisen. Weber, Meyerbeer und Wagner, welchen sich allen falls, in gemessenem Abstand, Marschner und Lortzing anreihen. Diese Männer haben sich von Anfang an und vollständig der Oper gewidmet, wie dies auch die Opern komponisten der Italiener und Franzosen tun. Im Gegen satz dazu schrieben und schreiben noch immer Hunderte von deutschen Komponisten Opern mit Mühe und Fleiß, aber ohne spezifisch dramatisches Talent und ohne Kenntnis der Bühne, ja oft sogar ohne jedes warme Interesse für das Theater.

Zu lange vielleicht habe ich bei Mendelssohn und Schumann verweilt. Aber das seltsame Verhältnis der drei gleichzeitigen Meister Schumann, Mendelssohn und Berlioz

verlockt als höchst interessant und eigenartig zu einer näheren Betrachtung, welche es, meines Wissens, bisher nicht gefunden hat. Alle drei Tondichter strebten ihr Lebe lang leidenschaftlich dem Theater zu: keiner von ihnen hat es über rasch vorübergehende, heute so gut wie ver schollene Versuche gebracht. Ebenso charakteristisch wie diese Uebereinstimmung erscheint auch ihr Gegensatz. Während nämlich die beiden deutschen Meister neben ihren Opern versuchen sich hauptsächlich der symphonischen und Kammer musik widmeten und diese rein erhielten von allen theatralischen Einflüssen, vermag Berlioz in keinem seiner Orchesterstücke den in ihm unterdrückten revolutionierenden Opernkomponisten zu verleugnen; er schreibt Symphonien, erfüllt sie aber mit dramatischem Inhalt, gibt ihnen dra matische Titel, wandelt immer beängstigend knapp längs der schmalen Küste, während Mendelssohn und Schumann frei und siegreich ins offene Meer der Instrumentalmusik segelten. Berlioz’ Opern haben das Bühnenlicht in wenigen Städten und nur vorübergehend erblickt. In Oesterreich ist eine einzige seiner Opern bekannt geworden: Beatrice und Benedict “. Ihr allein gebührt des halb eine etwas ausführlichere Besprechung. Schon die Wahl des Stoffes, gerade von Berlioz, ist seltsam genug.

Man muß sich ins Gedächtnis rufen, daß Herkules auch einmal Wolle aufgewickelt und Simson Getreide ge mahlen hat, um sich Berlioz als Komponisten einer komi schen Oper vorstellen zu können. Aus seinen Tondichtungen kennen wir ihn als revolutionären, nur auf höchst Leiden schaftliches und phantastisch Tragisches gerichteten Geist, aus seinen Schriften als harten Asketen, dem alle Unter haltungsmusik — auch im weitesten und besten Sinne — ein Greuel war. Insbesondere verabscheute er die komische Oper und pflegte, was ihm am verachtungs- und ver nichtungswürdigsten erschien, auf den Begriff „Opéra comique“ zu häufen. Wer ihn vollends persönlich gekannt hat, den Mann mit dem wilden, grauen Haarwald, dem finsteren Blick und der pessimistischen Weltverachtung, der würde alles andere eher von ihm erwartet haben, als eine heitere Spieloper. Es war keine Delila, sondern der be rühmte Spielpächter von Baden-Baden, Bénazet , der unserem musikalischen Simson die Locken schnitt und der komischen Oper überlieferte. Auf Bénazets Drängen ent

schließt sich Berlioz, zur Eröffnung des neuen Theaters in Baden eine Oper nach Shakespeares Lustspiel „Viel Lärm um Nichts“ zu komponieren. Er schrieb sich selbst das Libretto und änderte nur den für den Kompo nisten gefährlichen Titel, versichernd, es werde in „ Beatrice und Benedict “ auf keinen Fall „viel Lärm“ vor kommen. Die erste Aufführung fand am 9. August 1862 statt; „mit großem Erfolg“, wie Berlioz schreibt — mit sehr schwachem, wie deutsche Blätter berichteten. Die zweite Aufführung folgte am 11. August; eine dritte hat nicht stattgefunden. Und es glänzten doch in Berlioz’ Oper die besten Kräfte der Pariser Opéra Comique: die Charton- Demeur und der vortreffliche Tenor Montaubry in den Titelrollen.

In Shakespeares „Viel Lärm um Nichts“ sind be kanntlich zwei Handlungen ineinander verschlungen; eine ernste: das durch Don Juans Intrigen verstörte Liebes verhältnis zwischen Hero und Claudio, und eine heitere: der lustige Krieg Beatrices und Benedicts. Jede dieser beiden Parallelhandlungen hat für sich den Stoff zu einer Oper geliefert: BertonsMontano et Stephanie“ be handelt die ernste, Berlioz ’ „Beatrice und Benedictdie lustige Hälfte der Shakespeareschen Komödie. Berlioz nimmt an, daß Hero und Claudio bereits verlobt sind, und läßt sie ruhig in ihrem Glücke schwelgen; desto leb hafter beschäftigen ihn Beatrice und Benedict, die beiden Ehefeinde, die einander mit nicht versiegendem Spott her ausfordern, um sich schließlich — zu heiraten. Alle übrigen Personen des Stückes gruppieren sich als Nebenfiguren um diese beiden, denen sie gleichsam das Stichwort geben. In allen entscheidenden Szenen hat Berlioz den Shakespeareschen Text wörtlich beibehalten. Die possenhaften Episoden unterdrückt er und ersetzt sie durch andere seiner eigenen Erfindung. Ihm allein gehört die komische Figur des Kapellmeisters Somarone, in welchem Berlioz seinen Wider sacher Fétis persiflieren wollte.

Der Berlioz des „Harald“ des „Romeo“ ist in Beatrice und Benedict“ nicht wiederzuerkennen. Oder richtiger: nur für denjenigen zu erkennen, der aufs genaueste vertraut ist mit gewissen rhythmischen und harmonischen Schrullen dieses Komponisten, mit seinen feineren Farbenmischungen im Orchester und seinem Wechsel

zwischen sprühenden Geistesblitzen und kindlich-trivialen Kantilenen. Berlioz hat in dieser Oper die Rolle des musikalischen Revolutionärs vollständig abgelegt; er macht keine Miene, irgend etwas an dem Gewohnheitsrecht der Opéra Comique zu reformieren, er verbleibt bei dem Wechsel von Gesang und gesprochenem Dialog und fügt sich in die herkömmliche Form der „morceaux carrés“. In diese alten Schläuche gießt er nicht einmal den neuen Wein seiner so eigenartigen Individualität; er kehrt viel mehr zurück zu der Ausdrucksweise der älteren französischen Komponisten. „Beatrice und Benedict“ könnte tatsächlich komponiert sein, ehe noch ein Auber auf der Welt war. Nur in Einzelheiten, nicht in der Form oder dem Grundton des Ganzen zeigt sich ein moderner Geist. Das Orchester ist außerordentlich diskret, fast schüchtern behandelt; die Posaunen haben den halben Abend hindurch Ruhe, Lärminstrumente den ganzen. Diese Zurückhaltung gibt der Oper einen wohltuend graziösen, intimen Charakter, einen leichten Silberglanz von Vornehmheit. Der Lustspielton bleibt durchwegs unangetastet, überschlägt nirgends in das Fortissimo der großen Oper. Allerdings ist mehr seine Anmut darin, als volle gesunde Fröhlichkeit oder herzhafte Komik. „Berlioz ne sait pas rire“, sagte einmal Jules Janin, und er hatte recht. Berlioz war eine durchaus ernste, pathetische Natur, die sich zur Heiter keit zwingen mußte und Komisches selbst mit großer An strengung nicht erreichte — eben wegen der großen Anstrengung.

Da Berlioz Shakespeares „Viel Lärm um Nichtsals einen besonders glücklichen Opernstoff begrüßte, mag er doch zwei nicht unwichtige Punkte übersehen haben. Einmal, daß die witzigen Neckereien zwischen Beatrice und Benedict, die im Lustspiel blitzschnell aufeinanderfolgen und gerade durch dieses Schnellfeuerwerk so ergötzlich wirken, sich beiweitem nicht so willig der Musik hingeben. Die Musik braucht Zeit und Wiederholungen. Fürs zweite liefert die aus Shakespeares Komödie heraus schälte Seitenhandlung „Beatrice und Benedict“ für sich allein nicht hinreichenden Stoff für eine ganze Oper. Ihr dramatisches Interesse ist ziemlich gering, jedenfall sehr kurzatmig für einen ganzen Abend, zu wenig Handlung und zu wenig Musik.

Die Reize der Berliozschen Oper sind fein und eigenartig, aber intermittierend und von geringer Energie. Beatrice und Benedict“ hat im Wiener Hofoperntheater mit Schrödter und der Renard in den Hauptrollen seinerzeit interessiert; um stark und nachhaltig auf das Publikum zu wirken, müßte diese seine Musik zugleich eine viel reichere melodische Erfindung, frischere Farben und lebendigere Bewegung entfalten.

Als Berlioz in einer Gesellschaft sich in maßlosen Ausfällen gegen Wagner gefiel, wagte eine Dame die schüchterne Bemerkung, daß Berlioz und Wagner ihr doch verwandt vorkämen in ihrer Richtung. Berlioz empfand dies als die ärgste Beleidigung, sprang auf und verließ entrüstet die Gesellschaft. In Deutschland wußte man längst, daß Wagner zwar keine Symphonie wie „Romeo und Julie“ zu schreiben vermochte, daß aber noch viel weniger Berlioz sich als Opernkomponist mit Wagner irgendwie messen kann. Dieser hatte den großen Verstand, mit ganzer Kraft ausschließlich auf seinem dramatischen Gebiet zu verharren, während Berlioz, einer traurigen Selbsttäuschung folgend, den Ehrgeiz seiner alten Tage für eine riesige Opernschöpfung („Les Troyens“) anspannte, welche doch schließlich die Unzulänglichkeit seiner dramatischen Begabung bewies.

Außer „Beatrice und Benedict“ hat Berlioz nur noch zwei Opern auf die Bühne gebracht: „ Benvenuto Cellini “ und „ Die Trojaner “. Ueber beide muß ich mich kurz fassen: einmal, weil sie dem Wiener Publi kum vollständig unbekannt geblieben; sodann weil ich selbst sie nur aus dem Klavierauszug kenne. Das mahnt Berlioz gegenüber zu besonderer Vorsicht, da kaum bei einem anderen Komponisten das Orchester so Wichtiges, oft Entscheidendes mitspricht. Auf den Klavierauszug be schränkt, wird man Berlioz leicht unrecht tun. Immerhin hat manche Stelle im „Cellini“ mich lebhaft interessiert und sympathisch berührt. Schon die Textwahl, die Romantik der Vorgänge und der Personen entsprach der Individualität Berlioz’, des jungen Berlioz. Dasselbe Sujet hat auch neben und nach Berlioz französische und italienische Opernkomponisten angelockt; von Deutschen Franz Lachner in München. Nachdem „Cellini“ in Paris und London (1853) gänzlich durchgefallen war, nahm

Liszt , der überall neidlos Großmütige, sich des unglück lichen Werkes an und brachte es 1855 in Weimar zur Aufführung. Ihm folgte Bülow in Hannover. Diese Aufführungen blieben jedoch sporadische Versuche; eine Einbürgerung des fremdartigen Werkes wollte nie und nirgends glücken. Hoffentlich gelingt heute dem trefflichen Ernst v. Schuch das Wagestück in Dresden und spornt andere Bühnen zur Nacheiferung. Für die „ Trojaner dürfen wir ein Gleiches kaum hoffen. Neben „Cellini“, diesem schäumenden Jugendmost, erscheinen „Die Trojaner in Karthago“ als das mühsam erquälte Produkt nahender Altersschwäche. Zur Komposition des „Cellini“ trieb den jungen Brausekopf die Begeisterung für den Stoff; zu den „Trojanern“ das unablässige Zureden und Drängen der Fürstin Karoline Wittgenstein. Darüber geben Berlioz’ Briefe an die Fürstin vollkommene Klarheit. Schwerlich bewahrt die Zukunft diesen Trojanern noch den erhofften Lorbeer. Schon das von Berlioz aus Virgils Aeneide gezimmerte trostlose Textbuch macht die Oper halb unmöglich; die Musik ist in großem Sinne angelegt, aber lahm, stockend, unlebendig, falscher Gluck. Von welchen Schrullen versprach sich Berlioz eine besondere Wirkung? Der „Rhapsode“, der vor Beginn des Stückes mit einer Harfe in den Händen den „Prolog“ absingen muß, er schien nur bei den zwei ersten Aufführungen; dann strich man ihn als gefährlichen Erzeuger allgemeiner Heiterkeit. Solch wunderlicher archaistischer Einfälle, die vor einem modernen Publikum ein gefährliches Spiel wagen, zählte Berlioz’ Oper mehrere. Unter anderen kam, wie mir Stephen Heller erzählte, ursprünglich ein Preiskonkurs der Dido vor, bei welchem die Zünfte aufmarschierten und jede Zunft in einer anderen griechischen Tonart sang. Ernst Legouvé (der Dichter der „Adrienne Lecouvreur“) und ein Pro fessor der alten Sprachen halfen Berlioz bei der Abfassung des Libretto. Berlioz hat hart vor seinem Lebensende doch noch die Befriedigung gehabt, seine „Trojaner“ im Théâtre Lyrique aufgeführt zu sehen. Sie sind nach wenigen Reprisen (1863) für immer verschwunden. Der Mißerfolg dieses Werkes war einer der letzten und tiefsten Dolch stiche, an welchen der alternde Meister verblutete. Er ist (nach Gounods geistreichem Wort) wie sein heldenmütiger Namensbruder Hektor unter den Mauern von Troja gefallen.