Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 14230. Wien, Donnerstag, den 7. April 1904 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 14230. Wien, Donnerstag, den 7. April 1904 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 07.04.1904
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Verdis „Falstaff“. (Persönliche Erinnerungen.)

Ed. H. Den Wiener Opernfreunden winkt eine höchst interessante Novität: Der „Falstaff“ von Verdi. Abgesehen von einem unter tumultuarischem Zischen rasch begrabenen Jugendversuch „Un giorno di regno“ (1840) ist „Falstaffdie einzige komische Oper, die wir von Verdi besitzen. Keineswegs zu seinen blühendsten Schöpfungen gehörend, wird dieses Spätwerk des Achtzigjährigen doch wohltuend erfrischen nach Wolfs „Corregidor“, dessen armselig kleine Melodienblümchen samt den Textworten unter dem banalen Tumult einer ungeschickt wagnerisierenden Orchester begleitung hilflos veratmen. Unser Opernpublikum, das sich nicht von einer Handvoll junger Wölflinge terrorisieren läßt, blieb nach der dritten Aufführung weg, und früher noch, als man gedacht, war der „Corregidor“ beim An blicke der leeren Sitzreihen kraftlos zusammengebrochen, um schwerlich je wieder aufzustehen.

So wie „Otello“, die vorletzte Oper Verdis, ist auch seine letzte, der „Falstaff“, Shakespeare nachgebildet. Von jeher folgte Verdi der klugen Einsicht, seine Opernstoffe bewährten älteren oder modernen Schauspielen zu ent nehmen, deren starke Bühnenwirkung ihm vertraut war. So hat er außer dem „Falstaff“ noch „Macbeth“ und Otello“ nach Shakespeare, „Ernani“ und „Rigo

letto“ nach Viktor Hugo, „La Traviata“ nach A. Dumas, endlich „Giovanna d’Arco“, „Don Carlos“, „Die Räuberund „Louisa Miller“ nach Schiller musikalisch be arbeitet. Als es ruchbar wurde, der greise Verdi beende eine neue größere Komposition, da fühlte sich das römische Publikum in dreifacher Steigerung alarmiert. Zuerst ver mutete man eine Kirchenmusik, Messe, Requiem oder dergleichen. Nachdem das widerlegt war, witterte die pro phezeiende Neugier eine Tragödie, bis endlich auf dritter Stufe die großartige Ueberraschung sich darbot: es handle sich um eine komische Oper!

Auf eine dringende Anfrage des Marchese Monaldi erwiderte Verdi im Jahre 1890: „Was soll ich Ihnen sagen? Es sind vierzig Jahre, daß ich eine komische Oper zu schreiben wünsche, und fünfzig Jahre, daß ich Shake spearesLustige Weiber von Windsor“ kenne; indessen die gewohnten „Aber“, die sich überall einstellen, haben sich stets meinem Wunsche widersetzt. Nun hat Boito alle die „Aber“ beseitigt und für mich eine lyrische Komödie geschrieben, die sich mit keiner andern vergleichen läßt. Es macht mir Vergnügen, die Musik dazu zu schreiben, ohne irgend einen Entwurf, und ich weiß auch nicht, ob ich damit zu Ende kommen werde. Bemerken Sie wohl: es macht mir Vergnügen. Falstaff ist ein böser Geselle, der allerhand schlimme Streiche macht, aber unter einer belustigenden Form. Er ist ein Typus! Sie sind so selten, die Typen. Die Oper ist vollständig komisch. Amen.“

Unter den berühmten italienischen Komponisten Ita liens waren Bellini und Verdi die einzigen, von denen wir keine komische Oper besaßen. Alle übrigen Italiener sind im ernsten und heiteren Fach mit gleicher Lust und meistens gleichem Erfolge tätig gewesen; von Pergolese an, dessen „Serva Patrona“ die erste Knospe der Opera buffa bedeutet, und Piccini, in dessen „Cecchinadiese Knospe zur Blüte erwächst, bis auf Rossini und Donizetti, die unaufhörlich zwischen Lustspiel und Tragödie abwechseln. Nur Bellini und Verdi, beide emi nent pathetische und sentimentale Naturen, schienen für das

Komische unzugänglich und ungeschaffen. Bellini ist jung gestorben; Verdi brachte (abgesehen von dem früher er wähnten verunglückten Jugendversuch) als Achtzigjähriger dem überraschten Publikum seine erste komische Oper. Welch unerwartet schöne, bedeutsame Wendung, daß der Greis an der Neige seines Lebens sich der Tragik ent windet und mit der Weisheit eines glücklichen Alters noch den Blick auf der sonnigen, heiteren Seite des Daseins ausruhen läßt!

Bald nachdem die Wiener Ausstellungsopern mir die Klage abgepreßt, daß Italien keine Opera buffa mehr hervorbringe, überraschte uns die Nachricht, Verdi habe einen „Falstaff“ komponiert. Es fügte sich schön, daß ich der allerersten Aufführung dieser Oper in Rom beiwohnen konnte. Nicht um Musik zu hören, sondern um sie ab zuschütteln, war ich aus dem konzertbelagerten Wien ge flohen. Der Wunsch, meiner FrauRom und Neapel zu zeigen, wo ich zuletzt im Jahre 1874 mit Billroth geweilt, zog mich jetzt dahin. Gerne verschob ich meine Abreise von Rom um zwei Tage; ich wollte es nicht versäumen, den alten Verdi noch einmal zu sehen und seinen „Falstaffzu hören. Diese neueste Oper des Achtzigjährigen war ein Stück Musikgeschichte und ihre Première in Rom ein denkwürdiges Ereignis. Verdi hatte Rom seit Jahren ge mieden. Ruhebedürftig und ruhmgesättigt, scheute er neue Ovationen und den Empfang bei Hofe. Selbst nach seiner Ernennung zum Senator unterließ er es, sich persönlich beim König zu bedanken. Nun endlich hatte ihn die erste Aufführung seines „Falstaff“ doch nach Rom gezogen.

Im Frühjahr 1875 in Paris bei Verdi eingeführt, erlaubte ich mir nun in Rom die Anfrage, ob ich ihn besuchen dürfe. Er erfreute mich mit der liebenswürdigsten Aufnahme in seinem Absteigquartier, dem prachtvollen „Hotel Quirinal“. Die schlichte Herzlichkeit, mit welcher Verdi — hier so gut wie unnahbar für jeden Fremden — mich empfing und begrüßte, hat mich, der ich manche Jugendsünde gegen ihn auf dem Gewissen hatte, tief bewegt. Es leuchtete etwas unendlich Mildes, Bescheidenes, in der

Bescheidenheit Vornehmes aus dem Wesen dieses Mannes, den der Ruhm nicht eitel, die Würde nicht hochfahrend, das Alter nicht launisch gemacht hat. Tief gefurcht war sein Gesicht, das schwarze Auge tiefliegend, der Bart weiß — dennoch ließ die aufrechte Haltung und die wohltönende Stimme ihn nicht so alt erscheinen.

Als ich am Tage der römischen „Falstaff“-Auf führung ihm die allgemeine Verwunderung über das Erscheinen seines „Falstaff“ schilderte, antwortete Verdi, es sei zeitlebens sein Lieblingswunsch gewesen, eine komische Oper zu schreiben. „Und warum haben Sie es nicht getan?“ — „Weil man nichts davon wissen wollte (parceque l’on n’en voulait pas).“ Den „Falstaff“ habe er eigentlich zu seiner eigenen Unterhaltung komponiert. Daß er bereits einen „König Lear“ begonnen habe, stellte er in Abrede. „Ich bin nicht zwanzig Jahre alt,“ meinte er mit einem mehr schalkhaften als schmerzlichen Lächeln, „sondern viermal zwanzig!“

Der Mittagstisch für vier Personen war bereits gedeckt. Es erschienen Verdis Frau (die einst berühmte Sängerin Strepponi), der Impresario und Kapellmeister Mascheroni. Mit dem geistreichen Schmunzeln, wie es nur den Italienern eigen ist, wenn sie sich an einem Bonmot ergötzen, stellte mich Verdi als „il Bismarck della critica musicale“ vor. Als vollendeter Galantuomo beschenkte er noch meine Frau mit einer Photographie samt Dedikation, und wir empfahlen uns mit dem angenehmsten Eindruck.

Abends lauschte ich dem „Falstaff“ mit jenem Fieber der Neugierde, das mich neuen Kunstwerken gegenüber stets durchschauert. Welch ein Theaterabend! Ein Fest der Nation, eine Herzensangelegenheit des ganzen Volkes! Von diesem Enthusiasmus beim Erscheinen Verdis auf der Bühne macht man sich in Deutschland kaum eine Vor stellung. Und noch stürmischer erbrauste der Jubel, als Verdi in der Loge des Königs erschien und zur Rechten desselben Platz nahm. Einen hochbejahrten, hochberühmten Künstler also gefeiert zu sehen, hat etwas unendlich Er

hebendes und Rührendes auch für den Fremden. Mit der fortreißenden Gewalt dieser Stimmung verband sich die Begeisterung sämtlicher Künstler. Eine berauschendere Wirkung wird man wohl niemals vom „Falstaff“ erleben als an jenem 15. April 1893 in dem großen prächtigen Teatro Costanza.

In unserm ungestört behaglichen Gespräch hatte ich mir eine Frage nach vielleicht Wagnerschem Einfluß auf Falstaff“ erlaubt. Etwas ausweichend erwiderte Verdi: „Der Gesang und die Melodie müssen doch immer die Hauptsache bleiben.“ In jenem absoluten Sinn der früheren Verdischen Opern sind sie es in „Falstaff“ allerdings nicht mehr. Im Vergleich zu der zweiten Periode Wagners sind sie es noch immer. Nirgends wird im „Falstaff“ die Singstimme vom Orchester unterdrückt oder überflutet, nir gends das Gedächtnis durch Leitmotive gegängelt, noch die Empfindung von klügelnder Reflexion durchkältet. Hingegen hat die Musik zu „Falstaff“ doch mehr den Charakter einer belebten Konversation und Deklamation, als den einer ausge prägten, durch selbständige Schönheit wirkenden Melodie. Daß er Musik von letzterer Art auch mit fließendem Lustspielton vor trefflich zu verschmelzen verstand, beweist Verdi im zweiten Akt seines „Ballo in maschera“. Damit verglichen kann man — in weiterem Sinn und liberalster Auslegung — von Wagnerschem Einfluß auf „Falstaff“ sprechen. Gewiß eine unschätzbare Methode für geistreiche Komponisten, welche langjährige Erfahrung und Technik, aber nicht mehr die reiche blüten treibende Phantasie der Jugend besitzen. Die ganze An lage des „Falstaff“-Librettos und ähnlicher moderner Textbücher mit ihrer dem recitierenden Schauspiel fast gleichkommenden Ausführlichkeit der Diktion hat eine neue, verschiedene Methode des Komponierens zur Folge. Ehe dem definierte man das Gedicht als „die Zeichnung, welche der Komponist zu kolorieren habe“. Das paßt nun und nimmermehr auf die Musik der früheren Opern. Die Melodien Mozarts, Rossinis sind weit mehr und etwas ganz anderes, als das bloße Ueberfärben einer fertigen Zeichnung; sie sind ein Neues, Selbständiges, das

von dem Text zwar die Richtung und Stimmung empfängt, seine Zeichnung sich aber selbst schafft. Man könnte eher sagen, die älteren Gesangstexte liefern dem Kom ponisten nur größere oder kleinere Rahmen mit einer Aufschrift: „Liebe, Zorn, Frohsinn“ — in diesem Rahmen schuf der Komponist als musikalischer Selbstherrscher Zeich nung und Farbe zugleich. Der Text zu den Arien Mozarts, Rossinis und des jungen Verdi enthält oft nur sechs bis acht Verszeilen allgemeinen Inhalts; damit konnte der Komponist frei schalten. Man vergleiche damit das Libretto zu „Falstaff“: der Monolog: „Was ist Ehre?“ ist eine wörtliche Uebersetzung aus Shakespeare; wenn ich nicht irre, mit etlichen noch weiter detaillierenden Zusätzen. Da vermag der Komponist musikalisch Neues, Selbständiges nicht zu schaffen; er kann nur Wort für Wort nachfolgen und diese bis ins Kleinste vom Dichter ausgeführte Zeich nung „kolorieren“. Der große Erfolg dieses „Fal staff“-Monologs ist eigentlich das Verdienst Shake speares und eines geistreichen Sängers wie Maurel; die Musik hat wenig hinzuzutun, und ich kann nicht sagen, daß die Wirkung dieses Monologs im Burg theater ohne Musik eine erheblich geringere sei. Aehnliches gilt von dem langen Monolog des eifersüchtigen Mr. Ford und von den meisten Duetten, die lustspielmäßig aus geführte Dialoge sind. So paßt merkwürdigerweise die alte Lehre von „Zeichnung und Kolorit“ erst auf eine viel spätere, nämlich die heutige Kompositionsweise. Nur wenige Stücke im „Falstaff“ sind von Haus aus für abgerundet musikalische Form gedichtet: das Vokalquartett der Frauen am Schlusse des ersten Aktes, die kleine Cavatine Fentons, der Gesang der Elfenkönigin (mit Frauenchor) und der fugierte Schlußgesang im dritten Akt. Alle diese geformten Musikstücke machen gute Wirkung als Ruhe punkte zwischen den dialogisch fortflutenden Konversations szenen; sie erfreuen durch Wohlklang und übersichtliche Form, entbehren auch nicht einer gewissen Wärme. Eine besondere Kraft und Originalität der melodischen Er findung vermochte ich daran nicht wahrzunehmen, höchstens

daß die kleine Cantilene Fentons „Bocca baciata“ an den sinnlichen Reiz des früheren Verdi erinnert.

Der Gesamteindruck, den ich von dem Werke empfing, ist der einer sorgfältig ausgearbeiteten, feinen und leb haften Konversationsmusik, welche nirgends roh oder weich lich wird, weder in possenhafte Trivialität noch in unge höriges Pathos überschlägt. Die Charakteristik Falstaffs ist von echt komischer Kraft, die der übrigen Personen nicht hervorstechend. Das Ganze berührt uns wie die fließende Unterhaltung eines geistreichen Weltmannes, der nicht Anspruch erhebt, neue Wahrheiten oder tiefe Ge danken auszuteilen. Also mehr Causerie als starke musi kalische Schöpfung. Verdis „Falstaff“ hat mich keinen Augenblick gelangweilt oder abgestoßen, aber auch nur selten durch musikalische Schönheiten entzückt. Wenn unser geehrter Kollege Robert de Fiori den „Falstaff“ ein Triumph lied des Alters, ein fast übermütiges Spottlied auf das „Senectus ipse morbus“ nannte, so muß man ihm voll ständig beipflichten. Die Musikgeschichte kennt kein Beispiel von einer solchen Bühnenschöpfung eines Achtzigjährigen. Wir haben in Deutschland und Italien einzelne Meister gehabt, die in hohem Alter noch gute Kirchenmusik schufen; keine Nation darf sich aber eines Komponisten rühmen, der im Alter Verdis noch die dramatische Lebendigkeit, die anmutige Laune, die sichere Führung besessen hätte, welche die Partitur des „Falstaff“ aufweist. Richard Wagner äußerte einmal, gelegentlich der „Afrikanerin“ von Meyerbeer: Mit dem sechzigsten Jahr müsse man auf hören, Opern zu schreiben — ein Ausspruch, den er freilich selbst widerlegt hat. Mußte man sechs Jahre vor dem „Falstaff“ den „OtelloVerdis schon als ein erstaunliches Ereignis begrüßen, so ist dieser als die noch spätere und gewiß nicht farblosere Blüte eines Achtzig jährigen ein halbes Wunder.

Verdis „Falstaff“ wird in Wien sicherlich eine große Anziehungskraft üben. Ob diese zu nachhaltigem Erfolg und bleibender Eroberung des deutschen Repertoire sich steigern werde, ist eine andere Frage. In Deutschland stehen der

Einbürgerung von Verdis „Falstaff“ „Die lustigen Weibervon Otto Nicolai als ein Hindernis gegenüber, das schwer zu nehmen sein wird. Als Totalerscheinung spielt Nicolai gewiß eine sehr bescheidene Figur neben Verdi. Allezeit experimentierend, schwankend zwischen deutscher und italie nischer Musik, zwischen pathetischem und leichtem Stil, hat Nicolai den zahlreichen Triumphen Verdis einen einzigen Erfolg entgegenzustellen: eben „Die lustigen Weiber von Windsor“. Aber in dieser Oper steigerte und konzentrierte sich die ganze Kraft seines Talents so bedeutend sowohl nach der dramatischen wie nach der rein musikalischen Seite hin, daß nur blinde Ungerechtigkeit sie geringschätzen könnte. Gegenüber der modernen, einheitlicheren Form der Verdischen Oper hat die Nicolaische jedenfalls mehr musi kalische Substanz. Nach meiner Empfindung sind die besten Nummern aus den „Lustigen Weibern“ den analogen Szenen in Verdis „Falstaff“ musikalisch überlegen. Der Junker Spärlich mit seinem unwiderstehlich komi schen „O süße Anna!“ fehlt gänzlich in Verdis Oper; Doktor Cajus sowie die aus „Heinrich IV.“ herüber genommenen Figuren Pistol und Bardolf haben bei Verdi keine individuelle Physiognomie, sie sind nur Füllstimmen für das Ensemble. Boitos Textbuch läßt die Hand des gewandten, geistreichen Mannes nicht verkennen, Mosen thals Libretto hält sich enger an das Shakespearesche Lustspiel und sorgt doch zugleich besser für die Entfaltung musikalischer Form. Die Erfahrung lehrt, daß zwei Opern desselben Inhalts zugleich auf derselben Bühne sich selten vertragen. In der Regel siegt der Reiz der Neuheit und das jüngere Werk pflegt, bei nicht allzu großem Ab stand in der Qualität, das ältere definitiv zu verdrängen. GounodsFaust“ hat den Spohrschen, Gounods Romeo“ hat den Bellinischen aufgezehrt, Verdis Ballo in maschera“ den „MaskenballAubers. Es kann sein, daß mit dem Erscheinen von Verdis Novität das letzte Stündchen für Otto Nicolai geschlagen hat. Wer möchte da prophezeien!

Meran, Ostermontag 1904.