Wien, 3. Feber 1897.Verehrtester Herr Brandes,Sie haben mir einenso herzlichen Brief geschrieben, das freut michsehr. Es gehört
wohl zu den angenehmsten Erfahrungen, einen Menschen, der einem längst viel bedeutet
hat,sich auch menschlich nah zu fühlen. Lassen Sie mich das weiter glauben.
Die Milde, mit der Sie mein Stück beurtheilen kot zum großen Theil wohl
daher, dss Sie merken, ichselbstschätze es richtig. Ich meine, manschätztsich und, was man macht
beinah ier richtig, we
man nur überhaupt auf einem gewissen Niveausteht (Wo ist nur dieses Niveau? Dasteckt die Schwierigkeit!) Man kenntsichselbst, und das Streben, nur halb unbewußt,
geht dahin,sich selbst miszuverstehn, was ja freilich nicht
angenehmer ist alssich zu kennen. Das Leben will im allgemeinen doch, dass wir zur
Klarheit über uns gelangen.
Wie kot es nur, dss Sie mich nach dem Anatolfür leichtsiig
hielten, jetzt für ernst? Und doch ist vielleicht beides richtig. Ich bin
leichtsinnig in der Art wie ich in Erlebnissestürze undschwerlebigDarüber findet sich in Bleistift eine lateinische Entzifferung: »schwerblickig
«. durch
die Art, wiesiesich da meiner bemächtigen. Ich
glaube, jeder Mensch hat einen großen Lebensfehler, der ihn abhält,sein Wesen zur
möglichen Vollendung zu bringen; meine Sünde magsein, dss ich nicht verstehe, was zu
Ende zu leben. Daher befinde ich mich meist in einem Zustand beträchtlicher innerer
Schlamperei; Dinge, in denen ich ebenstehe,sind in Wirklichkeit vorbei; andre, die lang zu Ende gelebtsind, haben
ihren Duft zurückgelassen – und der Duft von todten Sachen ist nieschön, die Blumen
auf den Gräbernsind eine traurige Ausflucht. Ich glaube mit dieser unreinlichen ja
fast unmoralischen Art inneren Lebens hängt es auch zusaen, dass ich beinah in jedem Einzelfall gedanklich mit allen Möglichkeiten
einer Weiterentwicklung fertig bin – und dass ich den Ereignissenselbst meistens als
ein verblüffter gegenübersteh.
Jetzt eben hab ich manche Verdrießlichkeiten
durchzumachen, die mich im Arbeiten jasogar im ordentlichen Lesenstören. Aber bis
zum Frühjahr muss manches in Ordnung kommen, und ich will ein bischen fortreisen. Da
nehme ich mir Ihren »Shakespeare« mit worauf mansich freut, dassoll man in Ruhe zu durchlebensuchen; auch Bücher. Wenn mir was
einfällt während der Lecture, werde ichs Ihnensagen, da Sie mir dasso freundlich
erlauben. Dass mir Ihr Buch gefallen wird, istsicher; nicht einfach deshalb weil ich weiss, dss alles was Sieschreibenschön istsondern weil alles was Sieschreiben, Siesind. Und das ist viel, das ist alles beinah. Sieselbst haben das heuer in einer dieser wunderbaren Kopenhagner Stundenso einfach gesagt: »Was einerschreibt und ob erschreibt, ist eigentlich gleichgiltig, es kot drauf an,
werschreibt –« Siesagten es anders, besser, aber der Sinn war es.
Ihre Briefe haben fast alle etwas Wehmuth; Sehnsucht nach Einsamkeit
undSchmerz über Einsamkeit liegt darin, beides. Im
übrigen gibts de etwas, was traurig macht oder lustig
macht? Ich meine, was die tiefere Trauer und die echte Heiterkeit
gibt? Wirsind wie wirsind und das Leben hat fastso wenig Macht über uns wie wir
über das Leben – Nun aber fange ich an das Gegentheil von dem zu behaupten, was am Anfang dieses Briefessteht. Das läßt einen
Verdacht gegen michselbst in mir neu erwachen; dass ich nemlich nicht klug,sondern
»geistreich« bin. Essind wohl nur Anfälle.
Richard Beer-Hofmann bittet mich, Sie
herzlichst zu grüßen.
Was ich zunächstschreiben möchte, ist eine Komödie, sehr gesund,sehr frech, und wo einersiegtZu dieser Zeit war Schnitzler mit der Abfassung des
Reigen beschäftigt, doch es dürfte sich
eher um den Stoff der »Entrüsteten« handeln, aus dem sich im Laufe der Zeit Der Weg ins Freie herausschälte. Vgl. den Brief
an Otto Brahm vom
13. 5. 1897.. Denn bis jetztsind meine Leute immer rechtschäbig zu Grunde gegangen – undselten war es einschöner Kampf.
– Für heute, mein verehrter Herr Brandes,sag ich Ihnen einen herzlichen Gruss, vielen innigen Dank und bin Ihr treu
ergebener Arthur Schnitzlerden restlichen Teil der Grußformel und
die Unterschrift am unteren Ende der fünften Seite geschrieben