Mein lieber und verehrter Herr
Brandes,schon vor einigen Tagen las ich in einer Zeitung, dass Siesich wieder leidend befinden und in ein SanatoriumVermutlich bezieht Schnitzler sich auf diese
Meldung: [O. V.]: Personal-Nachrichten.
[Dr. Georg Brandes]. In: Neue Freie
Presse, Nr. 12.811, 24. 4. 1900, S. 6:
»Dr. Georg Brandes, dessen rheumatisches Leiden wieder heftiger aufgetreten ist, hat sich,
um eine so sachverständige und sorgfältige Behandlung als möglich zu finden, in
das Commune-Hospital in
Kopenhagen begeben. Sein Zustand gibt nicht zu Besorgnissen
Anlaß.
« gegangen wären; aber nach dem ganzen Tun u auch nach der
Schrift Ihres Briefesscheint mir, dass die Krankheit diesmal leichter auftritt als
die ersten Male, und hoffentlichstehn Sie bald wieder auf undsind endlich ganz
gesund. Es ist gewiss ein gutes Zeichen, wenn RecidiveRückfall in abgeschwächter Form auftreten; ich wünsche von Herzen, dass es das letzte ist. –
Sehr bedauert hab ich dss ich in Abbazia Ihren
Absagebrief fand nicht Sieselbst. Ich habe auf der dalmatinischen Reise meistschlechtes Wetter gehabt; nur in Ragusa zweisonnige Tage; überdies gerieth ich
anfangs in einen BalneologenBalneologie: die Lehre von den
Heilbäderncongress, dessen Mitglieder Schiffe und Hotels füllten, von
denen ich auch manche persönlich kannte, es war ziemlich unangenehm. Untersolchen
Halbbekanntensein ist dieschliste Form – der Einsamkeit, nicht der Geselligkeit. Von
Abbazia aus, wo es ununterbrochen regnete,
flüchtete ich bald nach Hause. Dasschönste was ich mitbrachte, ist die Erierung an die Trümmer von Salona, ich ka gar nicht verstehen, warum man
da nicht immer und immer weitergräbt; die Erde wegkratzen und die Vergangenheit
finden – wie kot es, dss darüber noch keiner wahnsiig geworden
ist? –
Auch die albernen Angriffe gegen Sie wegen Ihrer Budapester EinleitungMöglicherweise bezieht sich Schnitzler auf diese Meldung:
[O. V.]: Ein recht ungezogener
Mensch. In: Arbeiter-Zeitung,
Nr. 103, 15. 4. 1900, S. 6–7, hier S. 6: »Ein recht
ungezogener Mensch scheint Herr Georg Brandes, der dänische Literaturkritiker, zu
sein. Er hielt am letzten des vorigen Monats in einem Budapester Klub einen Vortrag über
Ibsen. Da Herr Brandes nicht ungarischspricht, die Budapester aber wenig dänisch
verstehen, so sprach Herr Brandes –
natürlich deutsch. Er begann nun seine Rede mit
folgenden Worten: ›Meine Damen und Herren! Die Sprache, in der ich zu ihnen
rede, ist nicht die ihrige, und sie ist auch nicht die meine. Ich gestehe, daß ich die deutsche Sprache nicht sehr liebe; wie
ich weiß, ist sie auch bei ihnen nicht sehr beliebt.
Allein dieses einemal muß ich mich ihrer dennoch bedienen, denn schließlich ist
es doch die Hauptsache, daß wir einander verstehen. Ich habe das Deutsche erst
in meinem 30. Lebensjahr gelernt, und obwohl ich es vollkommen beherrsche, so
ist doch meine Aussprache mangelhaft. Deshalb ist es keine Phrase, wenn ich um
Nachsicht bitte.‹ Man braucht nicht viel Worte zu machen, um zu sagen, was das
ist, dessen sich Herr Brandes hier
schuldig gemacht hat: eine Unanständigkeit. Niemand
hat weniger Anlaß, über das deutsche Volk Klage zu führen, wie Herr Brandes, der in deutschen
Schriftstellerkreisen stets mit der größten Unbefangenheit und mit warmem
Wohlwollen aufgenommen worden ist. Es ist also eine Unziemlichkeit sehr arger
Art, wenn Herr Brandes, der kurz vorher
in Wien der deutschen Sprache so große
Komplimente gemacht hat, den deutschfresserischen Instinkten der Budapester Clique so niedrige Konzessionen
bereitet.
« habe ich gelesen. Es ist ja wirklich gar nicht
ernsthaft darüber zu reden. Und dochscheint es, ka man
die Empfindlichkeit gegenüber dem düsten, we es nur einmal gedruckt ist, nicht ganz verlieren. Ich
erinnere mich, wie ichseinerzeit mit einigem Staunen im Briefwechsel von Goethe und Schiller Denkmäler ihres Aergers über die nichtigsten Scribenten antraf.
Seitherstaune ich aber nicht mehr, we ichsehe, wiesich zuweilen die Klügsten über die
Thörichtesten ärgern. Die Philosophie hilft wohl gegen die Todesangst, aber nicht
gegen Flohstiche.
Dass Sie auch mir für Wien danken, ist zu
liebenswürdig; ich fühle, dass ich Ihnen, besonders diesmal, nicht vielsein konnte.
Im Anfang waren diese langweiligen Zahngeschichten; und dann liegen die Schatten von
jenem traurigen Ereignis oft, und nun gar in diesen Frühlingstagenschwer auf meiner
Seele. Dazu kommen noch mancherlei zum Theil
nervöse Dinge (aber nur zum Theil), über die ich nicht gern rede, hauptsächlich ein
quälendes Ohrensausen, an dem ich nunseit drei einhalb Jahren ununterbrochen leide,
mit beginnender Verschlechterung des Gehörs – das macht mich natürlich auch nicht
viel froher. Immerhin arbeite ichseit einiger Zeit mehr als je und mit einer
Empfindung – wenigstens zuweilen – von innerer Fülle wie niemals früher. Ich bin
jetzt daran eine Novelle zu
dictiren, die vor ein paar Wochen beendet wurde,schreibe jetzt einige kleinere und möchte im Sommer eine Komödieschreiben. Der Schleier der Beatrice wird wahrscheinlich im SommerHerbst an der Burg aufgeführt; wo ich aber mit
den neuen Sachen hinsoll die ich im Kopf habe weiss ich nicht recht. Es wird nemlich
kaum möglichsein in der nächsten Zeit etwas wienerisches zuschreiben, in das nicht die antisemitische Frage hineinspielt –
und meine Art darüber zu denken wird weder den Christen noch den Juden rechtsein. –
Das neue Buch von Bourget ke ich nicht, habeschon lange nicht von ihm
gelesen; auch das Reisewerk
von Lanckoronsky ist mir noch unbekannt. Ich lese jetzt – denken Sie! zum ersten Mal – we ich von einer Jugendbearbeitung absehe – den Don Quixote; da ein vorzügliches Buch über Dante von Federn, demselben, der den Emerson trefflich übersetzt hat.
Gibbon begleitet mich bereits längere Zeit.
Seit das Wetterschön ist, radl ich auch manchmal aufs Land, und für den Sommer hab
ich größere Touren auf dem Rad vor. Vielleicht
entschließen Siesich einmal, in der heißen Zeit ins Gebirge zu gehen; ich habe michschon darauf gefreut,
einmal mit Ihnen im Freien zusein, außerhalb von Stadt und Mauern herumzuspaziren.
Vielleicht läßt essich gar machen, dss Sie, Goldmann und Beer Hofma u ich irgendwo zusammentreffen, fern von allen Zeitungen – und am Ende auch von
aller »Literatur«. –
Jedenfalls hoff ich Siesagen mir bald wieder ein Wort, wies Ihnen geht. Es ist eine meiner wirklichen Freuden, dass
Sie meiner mit Sympathie gedenken. Ich grüße Sie herzlich.
Ihr Arthur SchnitzlerWien, 3. 5. 900.