Wien30. 7. 905lieber Hermann, dein neues Stück hab ich in Reichenau gelesen u anRichard abgesandt. – Es hat mich durchaus
interessirt, und allerlei menschliches hat mich tief bewegt – gegen das Stück, d. h. gegen das
fünfactige Gebilde, das von zweitausend Menschen zugleich angehört u verstanden werdensoll, hab ich manches Bedenken. In wenig Worten ausgedrückt: es mangelt dem Ganzen
zuweilen an künstlerischer Oekonomie. Nehmen wir an, du hättest mir nur den fünften
Act zu lesen gegeben. Da hätt ich gesagt: Donnerwetter, ist das ein merkwürdigs Ding
– und hätte mir allerlei erste vier Akte dazu gedacht, die vielleicht alle nichtso
gut gewesen wären als deine oder aber besser zum deinem fünften (wie ich ihn empfinde) gepasst hätten.
Von deinem fünften Aktgeht ein Licht aus,
das mir nach vorwärts deutet, aber den Herweg im Dunkel läßt. Man darf immer
behaupten 2 × 2 = 4 – aber wenn mansagt: Ergo ist 2 × 2 = 4,so verpflichtet dieses Ergo zu einer vorhergegangenen Rechnung.
Natürlich fühlst du dieses Ergosehr gut – aber du hast es mich nicht dramatisch
nachfühlen lassen. Etwas ähnliches hab ich zum 1. Akt zu bemerken. Besenius. Ich bediene
mich Wörter eines Vergleichs (um das Recht zu haben etwas falsches zu behaupten!)
Wennsich ein Musiker zum Flügelsetzt,so beginnt er zu praeludiren (manchmal) eh ersein eigentliches Stückspielt. Er deutet die Stimmung u die Harmonie des Stückes, – vielleicht auch nurseine eigne Laune an. Deine Besenius-Scene istsolch ein Praeludiren, das duschon als Beginn des wirklichen Stückes
ausgibst. Man glaubt
dir lang 1, 2, 3, 4 Akte hindurch – denn, wenn Dein Besenius noch einmal aufträte, behieltest du vielleicht recht. Damit dassseine Ideensozusagen wieder erscheinen, ist nichts gethan: hier war ein Mensch, der innerhalb
der Oekonomie des ganzen zu mehr bestimmtschien, als
einigeschöne Dinge auszusprechen, und er giebtsichschminktsich nach der ersten Scene ab. Das
verzeihst mir duso wenig wie die bekannte ungeladene
FlinteČechov an Aleksandr Lazarev, 1. 11. 1889:
»Man kann nicht ein geladenes Gewehr auf die Bühne stellen, wenn niemand
die Absicht hat, einen Schuß daraus abzugeben.
« Anton Čechov:
Briefe 1889–1892. Herausgegeben und übersetzt von Peter
Urban. Zürich: Diogenes1998,
S. 73..
Dass Amschel ist wie er ist, das ist dein Wille und dein gutes Recht. Ich glaub an ihn. Ob
man ihn, aus rein praktischen Gründen, nicht von einigen Widrigkeiten befreiensollte, ist wäre zu überlegen. Wäre ich eine große
Violinvirtuosin, nicht um die Welt ließ ich mich von einem Kerl anrühren, der öfter als 6 Mal in der Minute SchnudelchenVgl.
Die Andere, 3. Akt.sagt. Aber das ist ja Geschmacksache. Wie oft aberstört uns an einer Frau nur der Gedanke an den der sie besessen hat. Und ist das Publikum nicht gerade so!? Das Problem (»Die andere«) wird nicht
im geringsten touchirt, wenn Amschel ein wenig umgänglicher erscheint. Die ganze Stimmung des letzten Aktes ist höchstseltsam, besonders merkwürdg die 2 neuen Personen
– wie Lida in die Umgebung
geräth, ist mir nichtsehr klar geworden, das ihr
Hiersein hat was melodramatisches wenn auch ringsum alles
ins Groteskphantastische geht. Die Sterbescene, die zwei Männer
bei ihr – das ist kühn. Kühn gewiss. Ob es noch mehr ist, weiss ich heute nicht. Von
mittheilender Qual die Scene
zwischen Heinrich und der Frau v Jello
im 4. Akt. Wenn ich heute an das Stück denke, das ich vor 8 Tagen gelesen,so ist es
mir wie die Erinnerung an zuckende menschliche Herzen.
Ich hoffe es geht dir gut. Von mir hörst du bald mehr. Meine Frau, die das Stück auch mit tiefster Antheilnahme
gelesen, grüßt dich vielmals
Von Herzen dein Arthur