Dr. Arthur Schnitzler17. 11. 1910.Wien XVIII. Sternwartestrasse 71Lieber Hermann.Schönsten Dank für Deinen lieben Brief. Jedenfalls tut es mir leid, dass Du nicht
über mein Stück schreiben
wirst, denn was immer Du unter den Unannehmlichkeiten verstehst, die daraus für Dich,
für mich, für alle Beteiligten folgen könnten, für mich wären sie jedenfalls durch
das Vergnügen reichlich aufgewogen eine ausführliche Darlegung Deiner mir immer
wertvollen Meinungen zu lesen. Ueberdies erscheint das Stück etwa acht Tage vor der Premiere im Buchhandel, so dass eine
Aeusserung über das Werk als solches ohne Rücksicht auf die Darstellung nicht als
unstatthaft aufgefasst werden könnte.
Das Missverständnis, das Du befürchtest, ich hätte in dem Medardus einen tragischen Helden zeichnen
wollen, kann meines Erachtens als solches überhaupt nicht auftreten. Dass Viele sich
so stellen werden, als glaubten sie, ich selber hielte den Medardus für einen tragischen Helden, ist
hingegen selbstverständlich. In dieser Voraussicht war
ich nahe daran der Buchausgabe ein kurzes Geleitwort mitzugeben ungefähr des
folgenden Inhalts: »Es ist mir bekannt, dass dieses Stück
sehr lang und dass der Medardus ein ausnehmend inkonsequentes Subjekt ist.« (Darum passierenkorrigiert aus:
»passierem
« ihm ja so sonderbare Dinge.) Aber am Ende sind in dem Drama selbst so klare Ansichten
über das Wesen des Medardus
ausgesprochen, hauptsächlich durch Eschenbacher, durch Etzelt und auch durch die Frau Klähr, dass der Unverstand, der sich durch die dramatische Historie
selbst nicht belehren liesse, auch mit einem solchen Vorwort nichts anzufangen
wüsste. Auch glaube ich mich mit Dir eines Sinnes, wenn ich behaupte, dass kein
dramatischer Autor verpflichtet ist in den Mittelpunkt seiner Stücke gerade einen
sogenannten tragischen Helden hineinzustellen. Der Hamlet ist es im dogmatischen
Sinne so wenig als der OswaldFigur aus Gespenster von Ibsen, der Prinz von Homburgdie Titelrolle in Prinz Friedrich von Homburg von Kleist so wenig als der Tassodie Titelrolle in Torquato Tasso von Goethe. Dies sind natürlich Beispiele nicht etwa Vergleiche. Kein Zweifel übrigens,
dass sich der Autor nach dieser Richtung umso mehr erlauben darf je verstorbener er
ist. – Was Deine weitere Befürchtung anbelangt, dass das
Publikum ein anderes Stück zu sehen bekommen wird als ich geschrieben habe, so ist
sie zum Teil vielleicht gerechtfertigt, aber nicht durchaus als Befürchtung. Ich habe
für die Zwecke der Bühne nicht nur sehr viel gestrichen, sondern auch gewisse
Umstellungen vorgenommen; Kompromisse ohne die auch manche andere, und grössere, Werke sich auf der Bühne nicht
hätten halten, ja nicht einmal auf sie hätten gelangen können. Leider muss ich auch
zugestehen, dass der Medardus
selbst heute in dem Burgtheater nicht zu besetzen
ist (dies ganz unter unsUnterstreichung mit Tinte von der
Schreiberin, vgl. Karte vom 19. 11. 1910.). Der Einzige, der ihn heute überhaupt spielen könnte, ist Moissi. Reinhardt, als ich ihm das Stück vorlasam 26. 8. 1909 in München, war auch ganz entschlossen ihm diese Rolle zuzuteilen, erst später erfuhr
ich, dass er das Stück nur dann geben wollte, wenn ich ihm noch ein zweites
überliesse, worauf ich aus prinzipiellen Gründen nicht einging. Bei Reinhardt wären zweifellos auch die
Massenszenen besser herausgekommen als es bei uns der Fall sein wird. Aber die übrige
Besetzung hier ist zum grösseren und wichtigeren Teile von der Art, dass keine
deutsche Bühne sie heute besser bieten könnte. Die Bleibtreu als Frau Klähr, Balaithyals Eschenbacher, Tressler als Etzelt, Korff als Wachshuber, Hartmann als Herzog, Heine als
Assalagny, von der Medelsky, der Wolgemut, von Reimers und Strassny und Heller und Andern ganz zu geschweigen, das sind
Leistungen im Einzelnen, meist auch im Zusammenspiel, dass Du, lieber Hermann, wenn
Du die Vorstellung zu sehen bekämest gewiss nicht von herumdilettierenden
Herrschaften sprächest, sondern das denen überliessest (es wird ja nicht an ihnen
fehlen) denen vorgefasste Meinungen den teuersten und ach so bequemen Besitz
bedeuten.
Nun will ich Dir noch von Herzen glückliche Vortragsreise wünschen und die diesmal hoffentlichdie Hoffnung nicht vergebliche Hoffnung aussprechen Dich
und Deine verehrte Frau Gemahlin recht bald nach Deiner Rückkehr bei uns zu sehen. Ich selbst fahre
etwa am 7. Dezember nach München (Vorlesungam
9. 12. 1909) und auch nach Partenkirchen zu meiner
Schwägerin. Um den 15. herum denke ich wieder daheim zu sein.
Mit vielen treuen Grüßen
Dein
Arthur.