Wien, am 20. November 1916Hochverehrter Herr Doktor!Wäre mir Ihre Karte nicht zugekommen (für die ich Ihnen bestens danke),so hätte ich
es mir kaum herausgenommen, vor Vollendung eines neuen Opus
Ihnen zuschreiben: und wie es mit meinerschriftstellerischen Tätigkeit jetzt
beschaffen ist, so hätten Sie vielleicht früher die
zehn Memoirenbände hintersich
gebracht als ich mich hätte melden dürfen. Ich bin nicht gewillt, unausgesetzt zu
lamentieren (wenigstens nicht außerhalb des engsten Familienkreises), aber es kostet
michschwere Mühe, mit Klagen hauszuhalten: Amt, Kriegsnot, Mangel an Zeit und Ruhe, Klavierspiel zu Häupten und unter mir,
Kindergeschrei, ungeheure Zersplitterung und Bewußtsein unheilbaren Dilettantismus,
Husten und Schnupfen, Verdruß und Überdruß – und endlich auch das Böseste: manchmal
etwas Neid. Wieviel muß da jedesmal beiseite gedrückt und zerstampft werden, bevor
eine ruhige Komödienseite geschrieben werden kann!
Trotz alledem habe ich eben den ersten Akt einer neuen Komödie, oder eher einer
»Phantasie« im ersten Anlauf fast ganz umrissen; nicht der Märchenkomödie, von der ich Ihnen das
letztemal erzählte (da ich fühlte,sie würde viel zu bitter, zu gallig, zu trist
ausfallen,schob ichsie entschlossen in die Lade)sondern einersonderbaren Ehstandstragödie, deren Stoffsich plötzlich bildete, als ich Kemmerichs
»Profezeiungen« las. Obsie andren als mir
genießbarsein wird, weiß ich nicht; mir liegtsie – trotz des barocken Stoffs – am Herzen, weilsie viel aufzunehmen
vermag, was in den letzten Jahren um mich und in mir Peinliches vorging.
Ich habe den Versuch unternommen, dieses Stück in Alexandrinern zuschreiben, nicht
in den jambischen Trimetern mit Mittelzäsur, die in der deutschen Literatur als
Alexandriner gelten, sondern in einer dem französischen Alexandriner nachgeahmten Versform. Das Stückspielt im alten
Frankreich, undso war mir etwas daran
gelegen, auch die französische Versart zu
verwenden. Aber ach! Zwei Szenen waren fertig, mit Mühe fertiggestellt, und ich
begann, zu zweifeln und zu zagen. Es ist nämlich nicht leicht, im deutschen,sofern
essich um längere Arbeiten handelt, unjambisch zuschreiben, der Rythmusschlägt
immer wieder in den Jambentakt um. Die Zäsur macht – mir wenigstens – ungeheure
Schwierigkeiten: es gibtso wenig deutsche
mehrsilbige deutsche Worte, die auf der letzten Silbe betont sind und die Abtötung unnötiger Vokalauslaute, die in
den romanischen Sprachen der Wortbildungso ungemein entgegenkommten, ist uns Sünde und Greuel. So kam es, daß ich nach
den ersten zwei Szenen, mutlos geworden, den Alexandriner verabschiedete und im
Knittelvers oder gar in Blankversen weiterschrieb. Nunmehr aber tut es mir wieder
leid: wäre ichsicher, daßsich die auf den Alexandriner verwandte Mühe lohnte (ichschätzesie auf das zehnfache jener, die mich der Knittelvers kosten würde), das
heißt: daß der deutsche Alexandriner nicht nur mir »klänge« und daß er nicht etwa gar
als abwechslungslos = leiermäßig empfunden würde, dann möchte ich neuerdings, ohne
die Arbeit zuscheuen, Alexandriner zuschmieden beginnen (es istschon harte
Schmiedearbeit).
Undso rücke ich mit der Frage und Bitte heraus, ob Sie, hochverehrter Herr Doktor,
wenn anders Sie demnächst einmal überflüssige Zeit haben, mir in dieser prosodischen Zweifelsfrage einen Ratschlag
erteilen möchten. Ich würde, wenn Sie hiezu bereit wären, Ihnen eine Probe der
Alexandrinerszenen entweder zusenden oder vorlegen, wie es Ihnen lieber wäre. (Es
handeltsich um jetzt noch ganz unfertige Konzepte, an die Sie, was den Inhalt
anbetrifft, am besten gar keinen Maßstab anlegen dürften:sonst müßte ich mich
genieren). –
Ihre freundliche Erkundigung nach meinem körperlichen Befinden kann ich – von den
vorhin erwähnten Verkühlungserscheinungen abgesehen – damit beantworten, daß ich die
tiefere Gegenden berührendere Katarrhperiode für
abgeschlossen halten darf; dicker bin ich allerdings noch nicht geworden und ich
glaube auch nicht, daß mein Gewicht,solang das FettkartenregimeSeit dem 17. 9. 1916 war der Erwerb von Rohfetten, Speiseöl und
Fettprodukten nur mit amtlichen Ausweisen erlaubt. andauert, sichsteigern wird.
Ich habe in den letzten Tagen den Jean Christophe beendet und freue mich, daß Romain Rolland den Nobelpreis erhalten hat. Welch
ungeheures Unternehmen, die Kulturentwicklung der letzten dreißig Jahre und alle
künstlerischen undsozialen Hauptprobleme, die während dieser Zeit aufgerollt und
übertaucht wurden, im Rahmen eines Wilhelm Meister-Romans darzustellen und zugleich das innerste
Wesen der hauptbeteiligten Kulturvölker, ihre Haupttypen, Männer und Weiber, ohne je
zu dozieren und ennuyant zu werden, mit Gründlichkeit und und psychologischer
Feinheit her zuschildern. Wunderbar, daß es kein
Deutscher war, dersolchen Plan faßte und ausführte; denn der Plan hat deutschen
Charakter, mag auch die Durchführung – was ich zu bedauern der Letzte wäre – nicht deutsch = gründlich istsein. Interessant ist das Werk auch als erste große Frucht der Einwirkung Nietzsche’scher Ideen auf ein nichtdeutsches
Genie; und ich bin gewiß, daß den Verächter alles Nurdeutschen über diese Erfüllungseiner Peter Gast-Träume, hätte er den Jean Christophe erlebt, in helle Begeisterung geraten wäre. –
Aber ichschließe, um Sie nicht zu ermüden (obwohl ich über den Jean Christophe noch lange fortschwärmen könnte).
Mit den herzlichsten Grüßen Ihr ergebener
Robert Adam