Wien, 8. Dezember 1918Hochverehrter Herr Doktor!Sie haben mir durch die Zusendung von »Casanovas Heimfahrt« eine große Freude bereitet, und ichsage Ihnen herzlichen Dank. Wiesehr ich
diese Novelle, die ich zum
erstenmal während des Erscheinens in der Neuen
Rundschau las, als die wundervoll-weise undsüße Frucht einer
Erzählermeisterschaftschätze, habe ich Ihnen bereits gesagt. Wenn ich mich geneigt
fühle,sie allen Ihren früheren epischen Arbeiten voranzustellen, mag mich vielleicht
meine Vorliebe für den Helden, mit dessen Memoiren ich mich längere Zeit beschäftigt
habe, beeinflussen; aber daß hier alle Gestalten, nicht nur der Held, ein eigenes
Leben lebten,sodaß es ist, alsschüfe der Dichter nicht, wie eine laterna magica,sondern als beleuchtete er bloß, wie einscharfer Scheinwerferschon Existierendes; daß jede Geberde der handelnden Personen,
alles Lebende und Leblose, dassie
umgibt, mit gewaltiger Plastik, die doch nie aufhört, das einfachste undselbstverständlichste Ding der Welt zuscheinen, hingestellt und umrissen ist; daß
auf allen der 181 Seiten des Buchs kein Wort zuviel und daher unnütz zuseinscheint, was mir als
Merkzeichen einer klassischen Arbeit gilt – das muß und wird jeder Kunstverständige,
wenn er auch meine Spezialliebe zum Helden nicht teilt, aus vollem Herzen bezeugen.
Ich binschon außerordentlich auf Ihren jungen Casanova in Spaa begierig, den wir wohlschon längst kennen gelernt hätten, wenn die politische
Umwälzung nicht gekommen wäre. Bis er erscheint, will ich mir noch einmal, und nun
mit Muße und unabhängig von Fortsetzungen, den gealterten Sünder vornehmen und an
Ihrem Werke lernen, wie man klar und farbig undspannend und einfach und doch
geistreich erzählen kann: daß ich dies nicht kann und niemals können werde, ist
etwas, was mich manchmal niedergeschlagen, immer aber vor dem, der es kann,
ehrfürchtig und bescheiden macht. –
Die Bitte, die ich in meinem letzten Briefe an Siestellte – Sie möchtensich über
das Geschick meiner zwei Stücke gelegentlich erkundigen – ist durch die traurigen Ereignisse der
letzten Woche gegenstandslos geworden; Sie werden einsehen, daß mich wirklich das
Pech verfolgt – ich glaubesogar, daß das Theater, das wirklich einmal eines meiner
Stücke zur Aufführung bringen wollte, zumindest am Tage der Erstaufführung in Flammen
aufgehen oder Konkurs ansagen würde. Wenn ich also Trübsal blase – das einzige
Instrument, für das meine musikalische Anlage zureicht –,so ist diese Beschäftigung
nichtso ganz unberechtigt, zumal es, trotz mancher hübschen neuen Gesetze, nicht
viel Erquickliches ringsum gibt, das aufheitern oder trösten könnte – die
Verhältnisse haben es mitsich gebracht, daß ich, der noch vor kurzem aus dem
Staatsdienst mich wegsehnte, um die mir noch etwa verbliebene Kraft frei verwerten zu
können, nunmehr, beim Anblickso vieler BelisareHier wohl im Sinne der apokryphen
Überlieferung, Belisar hätte, nach seiner
Zeit als Feldherr, die Augen ausgestochen bekommen und als Bettler auf der Straße
gelebt., frohsein muß, ein festes Amt zu bekleiden, und nicht, wieso
mancher meines Alters, auf Stellungssuche
gehen zu müssen. Daß ich aber in der hungernden und frierenden Republik geradeso wie im Kaiserstaat Tag
für Tag über Preistreibereien zu Gerichtsitze, als wäre gar nichts geschehen, als
bestünde noch der außerordentliche Kriegszustand, das kommt mir manchmalso
grauenhaft vor wie das Weiterwachsen der Haare einer Leiche, die verfault und
zerfällt. –
Nochmals besten Dank! Und die herzlichsten Grüße von Ihrem
ergebenen
DrRAdam