Wien, am 21. März 1927.Hochverehrter Herr Doktor!Die liebenswürdige Übersendung Ihres Werkes hat mir die größte Freude bereitet, nicht nur die an
Ihrem Werkeselbst,sondern auch durch die Erkenntnis, daß Sie,
den ich von allen lebenden deutschen Dichtern am höchstenschätze, meine kleine und
nun im Aktenstaubschon ganz und gar vertrocknete Existenz noch nicht ganz vergessen
haben. Ich weiß also gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.
Ich habe Ihr Werk,sobald ich
nach Überwindung eines aufgetürmten Aktenbergs zu ihm gelangen konnte, mit Eifer und Luststudiert (nicht bloß gelesen)
und möchte, wenn Sie es gestatten, einige Bemerkungen, diesich mir aufdrängten, kurzskizzieren.
Der von Ihnen unternommene Versuch, die alten theophrastisch-La-Bruyèreschen Bemühungen von einem höheren Gesichtspunkte aus wiederaufzunehmen und in
das Wirrsal der uns umdrängenden (undschließlich auch in unsselbst hausenden)
menschlichen Charaktere durch Auszeichnung und vergleichende Gegenüberstellung von
Urtypen reinliche Ordnung zu bringen, den Bestand gewisser Geistesverfassungen,
gesondert von Begabung und Seelenzuständen hervorzuheben und dadurch der
Charakterisierung von Einzelindividuen diesichere Grundlage des feststehenden
Vergleichstypus zuschaffen, ist
ungeheuer interessant und, wie ich meine, wertvoll; erscheint mir geeignet, eine
noch fehlende Disziplin der Charakterologie einzuleiten, und ich binsicher, daß
nunmehr, da Sie den Weg gezeigt haben, das Volk der philosophischen Kärrner, an dem
kein Landso reich ist wie Deutschland, mit
Schotterzufuhren und bequemer Ausharkung, mit Anlage von Abzugsgräben undseitlicher
Rasenverbrämung nicht kargen wird. Es bedarf oft nur des Manifestes (aber es bedarfseiner)ursprünglich nach »eines großen
Geistes
«, durch Verschiebezeichen im Satz umgereiht eines großen Geistes, damit eine ganze große Welt entstehe. Mir kommen hiebei
die wenigen Seiten des kommunistischen in den Sinn und auf die neue Art von Geschichtswissenschaft, diesich über ihnen aufgebaut
hat.
Wenn ich, der Skeptiker, einen kritisierenden Kärrnerbeitrag liefern darf,so würde er der »ideellen unüberschreitbaren
GrenzlinieVgl. S. 9 der Erstausgabe (Abschnitt 2).
« gelten, die Ihre Diagramme zwischen den positiven und negativen Typen
ziehen. Es ist mir klar, daß die Urtypen nicht empirisch konstatierte
Haupterscheinungsformen menschlicher Geistesverfassungensind,sondern Abstraktionen
bestimmter derartiger Gestaltungen (nicht eine Erfahrung,sondern eine
IdeeNach Goethes Schilderung hat Schillerdie Vorstellung einer Urpflanze mit der
Argument »Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee
« abgelehnt
(Glückliches Ereignis)., um ein
bekanntes Wort zu zitieren). Lägen empirisch gefundene Haupttypen vor, dann wäre es
ohne weiteres evident, daß einestrikte Scheidewand zwischen ihnen nicht errichtet
werden könnte: da die unendliche Mannigfaltigkeit der wirklich gegebenen Charaktere
die Gewißheit gäbe, daß es zwischen allensolchen Typen, die nur als Grenztypen
gelten könnten, Übergangsformen in
ununterbrochener Reihe geben müsse. Aber auch bei Aufstellung von Urtypen als Ideen
(Gebilden des Sollens, nicht des Seins, wie Kelssensagen möchte) handelt essich nicht um
kontradiktorische,sondern um konträre Gegensätze, die die Möglichkeit einer
unendlichen Reihesie verbindender Varietäten nicht ausschlössen. Auch die Urtypen
als Ideensind Grenztypen.
Sie bezeichnen zwar die Typen der oberen Vierecke als die positiven, die der unteren
als die negativen, und positive–negativ oder plus und
minus (S. 9)sind allerdings
kontradiktorische Gegensätze: nicht aber werden es die Typen durch diese
Bezeichnung.
Zu demselben Ergebnis kommt man, wenn man
auf die Grundidee zurückgeht, die der Unterscheidung der Seite »Gottes« und der Seite
»des Teufels« zugrundeliegt (welche poetischen Termini, wie ich besorge, in Menschen
das Mißverständnis erwecken können, essei auf eine Distinktion im Sinne christlicher
Moral abgezielt). Sie liegt wohl darin, daß den einen das Werk Zweck, den andern
Mittel zum Zweck ist, woransich der Gegensatz zwischen Idealismus (im landläufigen
Sinne) und realistischer Lebenseinstellung und zwischen Altruismus und Egoismus
anschließt (obwohl man vielleichtsagen könnte, essei ein Egoismus im höchsten
Sinne, wenn der Positive nur fürsein Werk lebe, da es dem Schöpfer nur eine andere
Form seines Ichsei). Alle diese
Gegensätze nun sind konträre, und daraus folgt, daß die auf ihrer Basis einander
gegenübergestellten Typen ebenfalls einander konträr gegenüberstehen, das heißt
Endglieder von Reihensind, deren Elemente mitin unendlich kleinen Unterschiedensichsteigernd gedacht werden können. –
Ich muß es, um Ihre Geduld nicht zu erschöpfen, an bei diesen Anmerkungen bewenden lassen: obwohl ich Lust hätte, nochso Manches
festzuhalten, was mir bei der Durchstudierung Ihres Werks – eines der anregendsten,
die ich kenne – an klugen und unklugen Gedanken gekommen ist.
Nehmen Sie nochmals, hochverehrter Herr Doktor, meinen besten Dank!
Mit vielen Empfehlungen Ihr
ergebener
DrRAdam