Frankfurter Zeitung(Gazette de
Francfort).FondateurM. L. Sonnemann.Journal politique, financier,Paris, 18. November.commercial et littéraire.Paraissant trois fois par jour.Bureaux à Paris:24. Rue Feydeau.Mein lieber Freund,Ich will Dir täglichschreiben und bringe die Energie dafür nicht zusammen. Nicht
einmal dafür! Ich bin in einemschlimmen Gemüthszustande. Ichsuche nach einem
Lebensziel und finde es nicht –suche michselbst zu beschränken, zu erkennen, zu
ordnen und kann es nicht – und nach kurzen Anläufen falle ich in Zeitvergeudung,
Außenleben und Wirrniß zurück. Dabei werde ich alle paar Tage daran erinnert, daß ich
dreißig Jahre bin, nichts geleistet habe, zurückbleibe hinter allen Andern. Es ist
ein zerstörendes Gefühl, und doch finde ich die Kraft nicht zum Arbeiten. Die Zeit hätte ich jetzt, – also es gibt keine
Entschuldigung mehr. Das hindert mich an Allem,selbst am Briefeschreiben. Du
begreifst mich gewiß.
Ich raffe mich heut ein wenig zusammen; denn ich
möchte garso gern hören, wie es mit Deinem Stücke weitergeht. Was Du mir über Deine erste Unterredung mit B..
geschrieben, erscheint mir ganz und gar nicht ungünstig. Daß es nichtso
glatt gehen würde, warselbstverständlich. Dabei geht es doch noch relativ glatt.
Wenn man in einem Theater den Director fürsich hat,so ist das, denke ich, Chance
genug. Das Übrige ist Zopf und chinoiserie. Dafürsind wir ja im guten Lande Österreich. Wüßtest Du nur, was hier die jungen Leute dulden
müssen, ehesie aufgeführt werden. An die Comédie Française kommt überhaupt keiner heran, wenn ihn nicht ein AkademikerMitglied der Académie Française oder ein großer Komödiant protegirt, und Henr der alte Henri Becqueselbst hatseinerzeit die Aufführung von »La Parisienne« durch ein Machtwort des Ministers erzwingen müssen. Es gibt keinen Erfolg, zu dem man nicht über
Hintertreppensteigen müßte, besonders beim Theater. Thut mir nur leid, daß ich nicht
gerade jetzt um Dich bin, um mit Dir über all’ die
Trottelhaftigkeiten zu lachen, die Dir voraussichtlich werden gesagt oder angethan
werden, und vielleicht auch um Dir ein paar unangenehme Wege zu ersparen. Übrigens
nimmst Du es jaselbst ironisch, und das ist das Beste. Bitte,schreib’ mir nur
rasch, wieweit die Sache ist.
Und möchtest Du es nicht doch zugleich in Berlin einreichen.
?
Gestern habe ich die Fortsetzung von »Sterben«Der zweite Teil (von
drei) erschien Anfang November in der Neuen deutschen Rundschau (H. 11,
S. 1073–1101). gelesen. Es ist dumm, daß man es mit
Zwischenräumen von von einem Monat lesen muß. Ich bin
mir über den Eindruck infolgedessen jetzt weniger klar, als am Anfang. Ich weiß nur, daß ich im Einzelnen Entzückendes und Großes
finde. Auch ist der Styl köstlich inseiner Einfachheit, mit all’ den Tiefen
darunter. Ein Hier und da ist es mir aber doch zu einfach. Zum Beispiel: Salzburg, ich meine das Landschaftliche und Äußerliche, ist meiner Empfindung nach um
eine Nuance zu blaß gerathen. Alles in Allem ein reifes und
ernstes Werk. Aber, wie
gesagt, ich muß es als Buch im Zusammenhange lesen. Mir ahnt nur, daß ich esschön
finden werde, aber ich habe noch kein klares
Bewußtsein davon. Diese verfluchten Fortsetzungen! Eine kleine Äußerlichkeit: bei der
Buchausgabe streicheSchnitzler veränderte die Stelle für die
Buchausgabe nicht. auf Seite 1077 in der 20ten Zeile von unten
hinter »Einwohner« die Worte »der Stadt« weg; es ist zu viel »Stadt« in dem
Absatz.
Wann kriege, ich nun wohl das Stück zu lesen?
Mein OnOnkel hat mich vor vier
Wochen nach Deiner Adresse gefragt, um Dir Bücher zuschicken.
. Da ich aber wieder einmal mit ihm grolle, habe ich nicht geantwortet.
Hättest Du nicht irgend einen Vorwand ihm zu schreiben.
un, damit er zugleich Deine Adresse erführe?
Die »Zeit« gefällt mir ganz ausnehmend. Das ist
ein Blatt, durchaus nach
meinem Sinn. Kanner übertrifftsichselbst, Bahr ist vorzüglich als Theaterkritiker – ich meine die Art, wie erschreibt. Seine
Kritik über die SchrattBahr schrieb in einer Nachtkritik über die Neueinstudierung
von Minna von Barnhelm am Burgtheater (erstmals 22. 10. 1894) unter
anderem, ziemlich unverhohlen auf die Liaison von Schratt mit dem Kaiser Joseph I.
anspielend: »Die Francisca, ein unverwüstliches Geschöpf der Hartmann, gibt Frau Schratt. Man heißt ja jetzt unpatriotisch, wenn man für Frau Schratt nicht immer schwärmt, als ob das gleich weiß Gott
was für eine Beleidigung wäre. Nun, ich meine, Kritik darf auch vor dem Throne
nicht schweigen, den der Verwöhnten Schmeichler bauen. Sie ist keine Francisca. Wenn sie
schmollen will, keift sie, statt neckisch wird sie zänkisch und das niedliche
›Frauenzimmerchen‹ bleibt die eben zu majestätische Dame schuldig.
« (H. B. [ = Hermann Bahr]: Kunst und Leben. In: Die Zeit, Bd. 1, H. 4, 27. 10. 1894,
S. 61.),seine Polemik mit Mueller-GuttenbrunnDie Zeit enthält mehrere Seitenhiebe gegen
den Leiter des Raimund-Theaters, Adam Müller-Guttenbrunn. Goldmann dürfte sich auf folgende ungezeichnete Meldung beziehen: »In
der ›Wiener Allgemeinen‹ hat neulich auch
Herr Müller-Guttenbrunn gespochen und mit der Sicherheit, die er stets seinen Behauptungen gibt,
betheuert, dass das Raimund-Theater keine
Claque hat. Da sollte Herr Salten, von dem die hübsche Idee dieser Antikritik ist, jetzt doch auch Herrn
Wessely vernehmen, den sehr intelligenten und erfahrenen Chef der Claque. Er kann
seine Adresse von jedem Schauspieler erfahren und ihn übrigens meistens in der
Kanzlei des Raimundtheaters treffen, wo er
sich nach den Proben, die er mit Eifer hört, seine Instructionen holt.
«
([Hermann Bahr]: Kunst und Leben. In: Die Zeit, Bd. 1, H. 6, 10. 11. 1894,
S. 94.) und dessen RegisseurHier dürfte er sich auf die lobende und
positive Nachtkritik (H. B. [ = Hermann Bahr]: Kunst und Leben. In: Die Zeit, Bd. 1, H. 7, 17. 11. 1894, S. 108) zur
Uraufführung von Die Eder-Mitzi. Wiener Volksstück
in vier Akten am am Raimund-Theater
beziehen. Ob Goldmann das Lob ironisch las,
ist nicht festzustellen. haben michsehr ergötzt. Aber wenn er über Kunst
pontificirt, ist er mir unerträglich. Der Artikel über DekadenzHermann Bahr: Décadence. In: Die
Zeit, Bd. 1, H. 6, 10. 11. 1894, S. 87–89.
im vorletzten Heft ist
vorzüglich gemacht,strotzt aber von falschen Angaben und Urtheilen. Die Stefan George, Hermann Bangetc., die er citirt, kenne ich als Faiseursfranzösisch: Blendermit ohne jede tiefere Begabung. Wie gefällt Dir das
Blatt? Und wie gehts damit?
Wird essich halten?
Fräulein Sandrock hat mir einen langen,schönen und lieben Brief geschrieben. Bittesag’ ihr
einstweilen, wiesehr ich mich darüber gefreut habe, und daß ich nur nach einer
Stimmungsuche, um nach Gebühr zu antworten. Ich will ihr nicht aus dem erstbesten
Wochentage herausschreiben.
Und bitte,schreib’ mir bald und viel – von Dir, vonsonst Allem, von Wien und wieder von Dir. Wasschreibst und liest
Du? Wassoll mit den 30 fr. 30 ct geschehen, die Du bei mit
gut hast? Viele treue Grüße! Dein
Paul Goldmann