Frankfurter Zeitung(Gazette de
Francfort).Fondateur M. L. Sonnemann.Paris, 29. Mai.Journal politique, financier,commercial et littéraire.Paraissant trois fois par jour.Bureaux à Paris:24. Rue Feydeau.Mein lieber Freund,Ich war acht Tage in Frankfurt; Krankheit meines
Onkels und
meiner Mutter. Bei meiner
Rückkehr fand ich Deine Briefe. Ministersturz und Minister-KrisisGemeint war der am 22. 5. 1894 vollzogene (erzwungene) Rücktritt des
Kabinetts von Jean Casimir-Perier.
geben Tausenderlei zu thun. So komme ich erst heut
dazu, Dir zu antworten.
Ich habe das Geld.
sofort an Albert übergeben. Es ist blödsinnig: aber ich kam mir vor, als wenn ich einen Raub an
Dir beginge. Trotzdem geht Alles ehrlich zu. Aber das ist mein Wahn, und noch heutist es mir unangenehm, davon zusprechen. Albert bewährtsichsehr als mein Freund, folglich auch als Deiner. Gutes, feines,
anschmiegendes, liebes Naturell! Wir machen große Schlachtpläne für Dich. Ich glaube,
er hat Dir darüber geschriebenAlberts Brief vom 23. 5. 1894
enthält neben dem Vorhaben, das ›Abschiedsouper‹ bei einer Freien Bühne aufführen zu lassen, mehrere
Textvorhaben: Denksteine und von ihm noch
nicht gelesene Textmanuskripte (Die
überspannte Person und Halb Zwei, ) möchte er gegen Ende des Sommers im Mercure de France gedruckt sehen. Zusätzlich zu seiner
bevorstehenden Rezension
von Das Märchen in der Revue Blanche plante er, in derselben Zeitschrift über die
»Jungen Wiener
« zu
schreiben.. Vielleicht gelingt es gar, Dich aufführenAus
dieser Zeit sind keine Aufführungen in Paris
bekannt. zu lassen. Ich denke, im nächsten Heft des »Mercure« wird Albert Dein »Märchen« besprechenAlbertsRezension erschien nicht im Mercure de France, sondern in der Revue Blanche: Henri Albert: Les Lettres allemandes. Drames Nouveaux. In: La Revue Blanche, Jg. 6, Nr. 32,
Juni 1894, S. 556–560, hier: S. 560.. Von den
zwei Manuskripten,
insbesondere von der Ȇberspannten
Person«sind wir Alle hoch entzückt. Unterschied zwischen Dir und Lavedan und den LavedanisirendenFranzosen: In Frankreich Geist, Oberflächlichkeit, Dekadenz-Koketterie. Bei
Dir: Natürlichkeit, Tiefe, Sittlichkeit und Gesundheit (Thut Dir wahrscheinlichsehr weh?). Geist Geist natürlich auch. Das Rindvieh, das Dich in
der Gesellschaft zum Dekadenten-Häuptling macht, hat uns eine vergnügte Viertelstunde
bereitet.
Kennst Du Frau Andreas-Sal Salome? Seltsame Frau. Nichtschön, ich weiß nicht einmal, obsympathisch, aber derzeit unsere gute Freundin. Intime Freundin von Nietzsche. Geschlechtslose
FreundschaftRein freundschaftlich war
die Beziehung zwischen Nietzsche und Andreas-Salomé wahrscheinlich nicht. Wie Andreas-SalomésLebensrückblick zu entnehmen ist, soll ihr Nietzsche1892 vergeblich einen Heiratsantrag gemacht haben. Es ist umstritten,
ob dieser Bericht wahr ist., wie ich glaube. Hat vier Jahre lang mit ihm
gelebt und gearbeitet. Ungeheures Wissen, Philosophin vom Fach. Hat
ein merkwürdiges Buch über Nietzsche veröffentlicht. Specialität: Religions-Philosophie. Nun gut: Sie weiltseit
einigen Wochen in Paris, undsieschickt Dir diesen BriefWomöglich handelt es sich um
den Brief Andreas-Salomés an Schnitzler vom .. Willst Du ihr
antworten,so thus durch mich.
Also es wa wird in Wien diese neue Revüe begründet. Bitteschreib’ mir, was Du
davon weißt und glaubst (Zukunft). Ich habe die Empfindung, daß mansich bei dieser
Gründung infam gegen mich benimmt. Kanner – Du weißt, wie hoch ichsein Talentschätze, in welchem wahrhaft geniale Zügesind – ist der intime Freund meines Onkels und meiner Familie. Mit
mirsteht erschlecht. Dieser überlegen gescheite Mensch begeht die Dummheit, mir die Jahre hindurch
nachzutragen, daß ich mich einmal in einem Gespräch über ihm gegenüber ironisch-neckend über einigeseiner Artikel ausgedrückt,
die ichstets ehrlich bewundert habe. Und nun: Ist es Haß? Ist es Neid? Ist es
Verachtung? – bei dieser Neugründung ignorirt er mich vollständig. Es hätte sich unbedingt gehört, daß man mich aufforderte, von
Paris aus für das Blatt thätig
zusein. Ich hätte es kaum je annehmen können, aber eine Einladung hätte erfolgen
müssen. Statt dessen ist Bahrseit gestern in Paris, um Albert die Pariser Vertretung zu übertragen. Ich
habeselbstverständlich Albert zur Annahme gedrängt, da das inseinem Interesse ist. Aber
die Kränkung ist nichtsdestowenigersehr bitter. Dasiehst Du einmal in einem
praktischen Falle, wie falsch Deine freundschaftlichen Ansichten über meine Geltungsind.
Ich habe gethan, was ich thun konnte, um eine
Besprechung des »Anatol« in der Frkf. Ztg. durchzusetzen.
Vorgebens der wahre Grundsind gewisse inne innere Vorgänge zwischen meinem Onkel und mir, die ich Dir einmal mündlich
erklären werde. Hingegen habe ich eine Besprechung für Richard erwirkt. Nun haben aber die Referenten das Recht ungehindertseiner
Meisungs-Äußerung bei uns, und das dumme Frauenzimmer, das bei uns die deutsche Literatur voranleitet,
hat RichardsBBuch absolut nicht verstandenLeo Hildeck [ = Leonie Meyerhof]: Neue
Romane und Novellen. In: Frankfurter
Zeitung, Jg. 38, Nr. 142, 24. 5. 1894, Erstes Morgenblatt,
S. 1–2.. Dafür kann ich nichts, und ich kann es nur bedauern. Ich
habe das Ehrenwort meines Onkels, daß Dein neuer RomanNicht identifiziert.
Möglicherweise ging es um Schnitzlers Erzählung Blumen, deren Abdruck in der Frankfurter
ZeitungMamroth jedenfalls am freundlich abgelehnt hattee.
besprochen wird,sobald er in Buchform erschienen ist.
Wenn ich keinenschweren Krankheitsanfall bekomme, will ich von meinem
vierwöchentlichen Urlaub drei auf eine Reise verwenden. Ich habe keinen höheren
Wunsch, als diese drei Wochen mit Dir zu verbringen. Aber das muß im AugustVom bis verbrachten Schnitzler und Goldmann einige Zeit gemeinsam in Bad
Ischl und Bad Aussee.sein.
Kannst du fort? Und wohin? Bitte,schreib’ mir bald darüber.
Oh diese Hypochondrie in Deinem letzten Briefe!
Gewiß, es ist wünschenswerth frei zusein. Aber ich habe oft über die Freiheit
nachgedacht, und ich fürchte beinahe, daßsie doch nicht das Gut ist, daßdas wir glauben. Man würde glücklich auf allen Seiten Wege vorsichsehen. Und
ich wenigstens gehöre nicht zu den Leuten, die rasch entschlossen einen von den
hundert Wegen einschlagen,sondern zu denen, die all’ ihr Leben lang damit vertändeln
würden, davor zustehen und zu überlegen:soll ich
dahin gehen oder dorthin? Und würde ich einen Weg wählen, welchen immer,so würde
mich bis an meinen Tod die Reue verfolgen, daß ich nicht den andern eingeschlagen.
Bist Du nicht auch ein wenigso? Gewiß, der Zwang ist drückend. Aber es hat auchsein
gutes: es erspart einem die Mühe der Wahl und die Verantwortung dafür. Der Zwang,
c’est une destinée toute faitefranzösisch, etwa: das Schicksal ist
vorbestimmt. Und wenn er, wie bei Dir, nicht mit Infamie verbunden ist (wie
bei mir),sosollte man ihn ruhig tragen, zumal
wenn man dabei auch noch graduieren kann. Wer weiß, ob nicht gerade in Deiner Abscheu
davor, ein ärztlicher ban Banause zu werden, ein
gutes Theil Deiner Productionskraft liegt. Und wer weiß, ob diese, die vielleicht zum
großen Theil eine Reaktionserscheinung ist, nichtsehr abnehmen würde, wenn auf der
andern Seite die Aktion des Zwanges aufhörte. Dabei fällt mir ein, daß es im Obigen
nicht Productions-Kraft heißen darf,sondern »Wille zur Produktion«. Auchsonst habe
ich es mir ganz anders gedacht, als es da
ausgedrückt ist. Das macht aber nichts.
Die von Dir erwähnte Erwiderung von ChristensenHjalmar Christensen: Der Dekadent. In: Frankfurter Zeitung, Jg. 38, Nr. 103, 14. 4. 1894, Erstes
Morgenblatt, S. 1–2. Eine unmittelbare Reaktion auf diesen Text lässt
sich nicht nachweisen, sehr wohl aber eine wohlwollende Erwähnung in der Neuen deutschen Rundschau vom Mai 1894
(Jg. 5, Nr. 5, S. 522–523). In der Neuen deutschen Rundschau findet sich auch ein Hinweis auf eine kritische
Einordnung von jüngeren Wiener Autoren –
darunter Schnitzler, Hofmannstal und Bahr – durch Stauf von der March (Ottokar Stauf von der March: Décadence. Randglossen. In: Die Gesellschaft, Jg. 10, H. 4, April 1894, S. 526–533). Über Schnitzler steht
darin: »Der hervorragendste aller Dekadenten ist der schon öfter erwähnte
Wiener Arthur Schnitzler. Obgleich seine Dichtungen, vornehmlich:
Scenenbilder (›Anatol‹), vom denkbar
stärksten Décadence-Kolorit durchsättigt sind und darum den Leser in die
unbehaglichste Stimmung von der Welt versetzen, erscheinen sie doch durch ihre
Aufrichtigkeit und Selbsterkenntnis geadelt. Mit peinlicher Akkuratesse seziert
der Dichter seine
Probleme und erklärt dem staunenden Leser resigniert-lächelnd die angefaulten
Körperstellen. An Geist vermag sich mit ihm kein einziger Dekadent zu messen.
Schnitzlers Werke sprühen förmlich von
genialen Gedanken und Sentenzen. Er ist gewissermaßen der Klassiker der
Décadence, aber darum nicht minder krank, als die übrigen.
«
(S. 531.) habe ich nirgends entdecken können. Könntest Du
mir nicht die Nummer oder nur die ungefähre Erscheinungs-Zeit angeben?
Und Richard? Und Loris?
Bitte, lies: Bernard Lazare: L’Antisémitisme. Soeben erschienen bei Léon Challey, 8. Rue Saint-Joseph. Der Verfasser, in
unserem Alter, istselbst Jude.
Mein Schwager ist
hochbeglückt mit Deiner Zeitschrift.
und dankt Dir noch vielmals.
Viele treue Grüße!
Dein
Paul GoldmannSchreib’ bald!!