18. December.Mein lieber Freund,Ich glaube, ich empfinde mehr Reue als Schmerz. Das ist ein furchtbares Gefühl. Das
arnarme MädelHilda von Mitis hatte sich am
14. 12. 1894 in Bratislava
im Wald erschossen. istsymbolisch für meine versäumte Jugend. Ein
Anderer hätte imstolzen Kraftbewußtseinsich mit dieserschönen Blume geschmückt und ihren Duft genossen. Ich
habeschwächlich genörgelt und gezweifelt. Liebtsie mich? Lügtsie nicht? Das war
nicht das Grübeln der Denker-Natur,sondern, wie gesagt, Schwäche, mangelnde
Besitzergreifungs-Kraft. Es war in ihr zu Anfang gewiß eine kleine Flamme. Abersie
ist rasch verlöscht, weil ich mich in meine Schale
zurückzog und nicht glauben wollte. Es hätten herrliche Tage werden können und
Sonnenschein für ein ganzes Leben. Statt dessen wurde es nur, wie Alles in meinem
Leben, ein versäumtes Glück, ein nicht zu Ende gelebtes Erlebniß. Seit Jahren plagt
mich die Reue darüber. Und es istso eigenthümlich für meinen jetzigen Seelenzustand,
daß mich auf einmal die Angst befällt, wo ich in die Dreißig komme, die Angst, daß
ich d meine Jugend nicht genossen, daß ich herrliche Gelegenheiten versäumt habe.
Ich will also rasch nachholen. So denke ichseit vorigem Sommer daran, mich in den
Ferien mit dem Mädel zu treffen oder garsie nach Paris kommen zu lassen, wo ihr Platz wäre. Ich will ihrschreiben und versäume es
natürlich, wie ich Alles versäume. Nun kommt an einem grauen Morgen diese Nachricht.
Das heißt für mich viel mehr, als Du ahnen kannst. Nicht blos ein armes liebes Ding ist todt, das mir Gutes
gethan –sondern: »Die Jugend ist vorbei, unwiderruflich vorbei. Man lebt nicht
wieder, was man einmal zu leben unterlassen.«
Ich habe merkwürdig oft ansie gedacht. Nicht etwa diese dumme romantische Geschichte
von der hinterdrein kommenden Liebe. Aber n es war
die Überzeugung, daß sie einselten köstliches Menschenkind gewesen und daß ichsie hätte
heut noch wenn auch vielleicht nicht lieben,so
doch genießen können. Das ist übrigens bei mir dasselbe. Ich kann nicht lieben, nur
genießen. Ich binseitdemstärker geworden; ich war fürsie gereift; nun hätte ichsie mir holen mögen. Einer meiner Lieblings-Träume war: »Reich, und eine Reise nach
Italien mit ihr.«
Ich habe ihre Briefe wieder gelesen und gierig nach Spuren von Falschheit, Pose,
Hysterie gesucht. Das wäre Balsam gewesen für meine Reue. Ich glaube auch, daßsie
mich nicht geliebt hat. Aber ich glaube auch, daß das meine Schuld war. Und neben den
schlimmen Spuren habe ich doch viel einsache
Güte, Herzigkeit und Poesie gefunden. Ich glaube beinahe:sie ist die einzige Frau
gewesen, die mich ver verstanden hat. Das nagt, das nagt. Oh ich blöder Thor!
Ich glaube auch,sie hatsich an mich anlehnen wollen, um das Künstlerische in ihr
zur Entwickelung zu bringen. Ich habesie weggestoßen. Nicht einmal geschrieben habe
ich ihr. Und das Nicht-Schreiben war eine Heuchelei. Denn, wie gesagt, ich dachte
viel ansie. Vielleicht, wennsie mich umsich gewußt hätte, wäresie nicht in den
Wald gegangen,sich erschießen. Ich hätte, ihr laut
zurufen müssen, was ich all’ die Jahre dachte: »Kommen Sie nach Paris!« Ich glaube beinahe, ich habe eine Verantwortung daran, daß diese köstliche
Menschenblume verkümmert
ist. Meine einzige Genugthuung wäre, wenn ich wüßte, daßsie mich vergessen hat. Aber
wie das erfahren?
Denk’ nur, dieser Tod. Wiestolz, wie heldenmüthig! Ersagt: »Sie
war eine edle Frau. Du hast es nicht verstanden. Zuspät.«
Ichsehe mich mit ihr bei Dir, in Deinem lieben Zimmer. Es ist unfaßbar, daß das Alles verloren ist. Schatten und Reue. Das »Zuspät« brennt wie Feuer auf dem Herzen.
Könntest Du nicht noch etwas über ihr Leben erfahren? Ich möchte hören, daßsie liederlich gewesen ist, daßsie banal geworden ist. Auch möchte ich wissen, warumsie gestorben ist. Liebe zum Vater? Ich glaube nicht. Sie hat einen kleinen dummen Lieutenaut zum Bräutigam gehabt und ihnsehr
geliebt. Der mag ihr auf ihre »Unmoral« gekommensein undsie weggestoßen haben. Dannstarb der VaterMaximilian von Mitis war vier Tage vor
seiner Tochter gestorben..
Nun kam die unendliche Vereinsamung übersie, vielleicht auch die Noth. Darum hatsies gethan.
Wenn es einen gnädigen Gott gäbe, hätte ich an jenem Tage im Preßburger Waldesein müssen. Wie ichsie ins Leben
zurückgetragen hätte auf meinen Armen!
Nun kommen mir die Thränen.
Siehst Du nun, wie verfehlt mein Leben ist?
Grüß’ Dich Gott, theurer Freund!
Dein
Paul Goldmann